Rassismus ist die größte Ungerechtigkeit

Herzensangelegenheit: Sarah Finkel und Lucas Janson gestalten einen Theaterabend über »Die Angst vor dem Fremden«

Zwei Menschen, eine junge Frau und ein junger Mann, sitzen gemeinsam auf einer Bank im Park und grüßen freundlich die vorübergehenden Passanten. Sie wird zurückgegrüßt. Er nicht.
Beide haben dunkle, lockige Haare. Sie hat sehr blaue Augen und helle Haut. Seine Augen sind dunkelbraun und seine Haut hat einen warmen goldbraunen Ton. Es ist wegen seines Aussehens, da ist sich Lucas Janson sicher, dass die Vorbeigehenden ihn ignorieren. Eine Erfahrung, die er immer wieder in den unterschiedlichsten Facetten machen muss. Seine Kollegin Sarah Finkel, die eben Zeugin dieser Form von Alltagsrassismus geworden ist, mag sich damit nicht abfinden. Diese Begebenheit ist für die beiden Schauspieler des Heilbronner Ensembles zunächst Anlass für ein langes Gespräch, das schließlich in einem Beschluss gipfelt: Wir müssen die »Angst vor dem Fremden« zum Thema eines Theaterabends machen. »Das war lange vor George Floyd«, betont Sarah Finkel. Am 3. und 4. Juli zeigen sie ihre theatrale Erkundung in die Abgründe der Xenophopie in der Boxx@Night_Corona-Edition, zusammen mit Markus Herzer am Klavier.

Sarah Finkel und Lucas Janson (Foto: Rebekka Mönch)

Beide haben großen Respekt vor dem Abend, denn sie schlüpfen nicht nur in verschiedene Rollen oder singen Songs, sondern sie verantworten komplett das künstlerische Konzept und verarbeiten zudem ihre ganz persönlichen Erfahrungen in eigenen Texten.  Sarah Finkel sagt: »Dass ich durch mein Aussehen, das keinen Migrationshintergrund verrät, privilegiert bin, empfinde ich als himmelschreiende Ungerechtigkeit.«  Aufgewachsen in einem Stadtteil von Landshut, in dem Menschen aller Herren Länder zusammenleben, hat sie erfahren müssen, wie ihre Freunde, die aus dem Libanon oder aus der Türkei stammen, nicht die gleichen Chancen bekamen wie sie. Wenn sie versuche, sich hineinzuversetzen in ein permanentes Gefühl des ausgegrenzt Seins, des in Schubladen gesteckt Werdens, des weniger Chancen Habens, des immer ein bisschen härter arbeiten Müssens, dann bekommt sie Kopfschmerzen, erzählt sie und findet ein simples Beispiel. »Stellt euch den demütigenden Moment vor, wenn im Sportunterricht eine Mannschaft gewählt wird und man selbst bleibt bis zum Schluss stehen. Dieses Gefühl ist für Menschen, die rassistisch ausgegrenzt werden, nicht nur eine Momentaufnahme, sondern Dauerzustand.«

Lucas Janson, der in einer linksliberalen Bildungsbürgerfamilie großgeworden ist, hat indische und schwedische Wurzeln. Von der indischen Familie mütterlicherseits ist sein Aussehen geprägt, von der schwedischen Familie väterlicherseits hat er den Namen. Obwohl seine Vorfahren seit drei Generationen in Deutschland leben, Lucas in Hessen geboren und aufgewachsen ist, wird er immer wieder gefragt, aus welchem Land er komme oder wo seine Wurzeln liegen. Das ist häufig die allererste Frage. Nicht: Was machst du? Oder wie heißt du? Er ist äußerst höflich und zuvorkommend, sagt lieber dreimal danke, als einmal zu wenig. Das sei ein Ergebnis der mütterlichen Erziehung, meint Lucas Janson: Sei freundlich und höflich, falle nur nicht auf, passe dich an. »Als Migrantenkind der dritten Generation habe ich mich emanzipiert, bin selbstbewusst, stehe auf der Bühne. Dennoch wird mir immer wieder das Gefühl vermittelt, nicht hierher zu gehören.« Seit der Flüchtlingskrise 2015 habe sich das extrem verschärft.  Auf ihrer Recherche zum Thema Fremdenangst sind die beiden in Theatertexten fündig geworden – etwa in Koltès Stücken »Der Kampf des Negers und der Hunde« und  »Roberto Zucco«, in Heiner Müllers »Medea« oder in Dea Lohers »Unschuld«, aus denen sie Ausschnitte ausgewählt haben. Sie verflechten die Monologe mit philosophischen Einlassungen von Zygmunt Bauman, mit Songs von Hildegard Knef bis Faber und verbinden sie mit ihren eigenen Texten und Gedanken zu einer szenischen Collage. Sie wollen reflektieren, provozieren, ihr Herz ausschütten, ihre Gedanken teilen – über die Angst vor dem Fremden, aber auch über das Gefühl des Fremdseins. Es wird ein sehr persönlicher, ehrlicher Theaterabend der beiden Schauspieler: Eine Stunde im leeren Raum, ohne Requisiten, ohne Lichtdesign,  aber mit brennenden Herzen und der Hoffnung, dass die Zuschauer hinterher rausgehen, diskutieren und sich die Frage stellen: Wo stehen wir eigentlich?

BOXX@Night »Angst vor dem Fremden« am 3. und 4. Juli 2020 um 20.00 Uhr in der BOXX.

Demnächst in diesem Theater: »Born to Be Wild?« mit Julia Klotz

Für Julia Klotz war die Arbeit an »Born to Be Wild?« so etwas wie ein »Heimkommen«. Direkt nach ihrem Studium an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig war sie zwei Jahre lang Ensemblemitglied am Theater Heilbronn, sang und spielte sich vom »Weißen Rößl« bis zur »Abbey Road« (mit Regisseur Stefan Huber) und erhielt 2007 den Kilian für die Rolle der Norma Cassady in »Victor/Victoria«. Auch unter der Intendanz von Axel Vornam war sie mehrfach am Berliner Platz zu sehen: In »Der Vetter aus Dingsda«, »White!« (wieder unter der Regie von Stefan Huber) und als Eliza Doolittle bei einem Gastspiel von »My Fair Lady« aus Kaiserslautern.

Julia Klotz (Foto: Oliver Betke)

»Was ich am Festengagement am meisten vermisse,« gesteht die aus Mainz stammende Schauspielerin und Sängerin, »das ist ein Ensemble. Ich habe zwar als Gast am Gärtnerplatztheater in München über die letzten fünf Jahre oft mit denselben wunderbaren Kollegen zusammengearbeitet, trotzdem fährt jeder nach den Vorstellungen wieder nach Hause. Mir fehlt meine Theaterfamilie, denn ich bin sowohl privat, als auch in der Arbeit ein Herdentier.«

Dabei hat ihr die Freiheit der »Wanderjahre« einige wunderbare Rollen eingebracht. Für ihre Darstellung der Madame de Tourvel in der Uraufführung des Musicals »Gefährliche Liebschaften« erhielt Julia Klotz den Deutschen Musical Theater Preis 2015. Auch die brandneue Revueoperette »Drei Männer im Schnee«, bei der sie mitwirkt, wurde mit drei Musicaltheaterpreisen ausgezeichnet. »Ich bin selbst überrascht, dass „Born to Be Wild?“ schon meine neunte Uraufführung ist – drei davon waren in Heilbronn«, sprudelt es aus ihr heraus. »Wenn man mich vor ein paar Jahren gefragt hat, welche Rolle ich gerne spielen würde, dann hab ich immer geantwortet: Ich möchte gerne in einer Uraufführung mitwirken. Mich reizt daran besonders, noch früher in den Entstehungsprozess eines neuen Stückes eingebunden zu sein und eine Rolle mit zu kreieren.«

Und in »Born to Be Wild?« sind es gleich zwei. Julia Klotz lacht: »Ich mag meine beiden Rollen sehr, und sie könnten unterschiedlicher nicht sein.« Wie würde sie ihre Figuren charakterisieren? »Uschi von Kulenburg ist eine konservative und ehrgeizige Hausfrau der Nachkriegsgeneration, die sich über ihren Mann und seine Stellung definiert. Sie ist stets darum bemüht, den Schein zu wahren.« Und was ist mit Priscilla Joe, die bei der Show in der Show u.a. mit »Cinderella Rockefella« oder »River Deep Mountain High« auftritt? »Sie ist das Sinnbild der sich auflehnenden Generation, als Außenseiterin für mich eine tragische Figur. Freiheitsliebend, experimentell, auch was Drogen und die Liebe angeht.« Bei den Proben war der Bezug der Songs zum aktuellen Aufbegehren und Revoltieren junger Menschen häufig ein Thema. Auch Julia Klotz zieht Parallelen zum Hier und Heute: »Das ist absolut gegeben. Gerade das Lied, das Tietje und Huber für den Schluss ausgewählt haben und das für sich stehen soll, spricht heute noch Bände …« Aber mehr wollen wir jetzt nicht verraten.

Ein Blick in die Clubszene

von Hanna Kimmerle

Hanna Kimmerle, 18 Jahre, hat eine Woche als Praktikantin in der Theaterpädagogik verbracht, um sich besser orientieren zu können, worauf die Wahl ihres Studienganges fallen soll. Hier berichtet sie von ihren Eindrücken, die sie in den Proben unserer verschiedenen Jugendclubs gewonnen hat.

»Was haben wir gesehen? Was hätten wir uns gewünscht?« Diese beiden Fragen stellen sich die jüngsten Theaterclubmitglieder immer, um nach den Improvisationsspielen das Gesehene zu reflektieren.

Erstes Kennenlernen der Clubs im Oktober 2019.

Ich durfte im Zuge eines Praktikums  eine Woche lang in den abwechslungsreichen Arbeitsalltag der Theaterpädagoginnen und damit auch in die Theaterclubs reinschnuppern. Jetzt, wo die Woche vorbei ist frage auch ich mich: »Was habe ich gesehen? Was hätte ich mir gewünscht?«

Am Montag durfte ich die Theaterpädagogin Christine Appelbaum, die zusammen mit Schauspieler Marek Egert den Kinderclub leitet, begleiten. Begonnen hat die Stunde mit verschiedenen Spielen zum Aufwärmen, deren Ziel es war, die Kinder dazu zu bringen, spontan auf Impulse zu reagieren und nicht alles zu filtern bevor sie es sagen. Das war eine wichtige Vorbereitung auf die Improvisation, die am Ende der Stunde stattfand. Bei dieser ist es eine besondere Herausforderung für die kleinen Schauspieler, unvermittelt aufeinander zu reagieren und wahrzunehmen, wo gerade der Fokus liegt. Ich war sehr begeistert, was für tolle und lustige Ideen die Kinder spontan auf die Bühne gebracht haben.

Auch Christine Appelbaums Stil, die Gruppe zu leiten, hat mich beeindruckt. Es herrscht eine sehr angenehme lockere Atmosphäre, in der die Kinder sich sehr wohlfühlen, Spaß haben können und gleichzeitig viel dazulernen. Nach jeder Szene, die auf der Bühne gezeigt wird, besprechen die Kinder die Fragen: »Was habe ich gesehen? Was hätte ich mir gewünscht?«. Die Schauspieler bekommen direkt Feedback und allen wird klar, worauf sie auf der Bühne achten sollen.

So lernen die Kinder spielerisch und durch viel Reflexion, auf was es beim Theater spielen ankommt.

Diese »schauspielerischen Basics« bringen die 12-15 Jährigen im Teensclub teilweise schon mit. Daher kann hier eine konkretere Vorbereitung auf das Stück im Vordergrund stehen. Während Schauspielerin Juliane König und Schulreferentin Anna-Lena Weckesser, die den Club leiten, schon Ideen der Kinder, die bei der Improvisation aufkommen, festhalten, um sie später für die Stückentwicklung zu verwerten, lernen die Teilnehmer durch verschiedene Übungen Fähigkeiten, die sie später in der Inszenierung brauchen werden. Beispielsweise sollten sie bei einer Aufgabe ihrer Fantasie freien Lauf lassen und Gegenstände verkörpern, da später im Stück das personifizierte Internet eine tragende Rolle spielen soll. Die besondere Herausforderung bei dieser Altersgruppe ist es, dass die Kinder lernen, sich selbst auch mal nicht so ernst zu nehmen, einfach drauf los zu spielen und den Kopf mal abzuschalten.

Um das aus den Kindern herauszukitzeln wirft Juliane sie auch mal ins kalte Wasser oder in Situationen, die ihnen im ersten Moment unangenehm sind. Wenn sie dann warm werden und sich trauen, kommen sehr tolle kreative Szenen zustande.

In der Clubszene treffen die verschiedenen Clubs aufeinander und entwickeln gemeinsam kleine Szenen.

Diese Fähigkeit, sich selbst nicht so ernst zu nehmen und Hemmungen beim Theater spielen abzuschalten haben die Mädels im Jugendclub schon gelernt. Das merkt man bereits beim Aufwärmen. Wie kleine Kinder das automatisch tun, lassen die Jugendlichen sich auf Spiele und Musik ein und stellen den Spaß an die erste Stelle. Da sie sowohl diese Lockerheit als auch ein wenig Schauspielerfahrung schon mitbringen, kann hier die Stückentwicklung im Vordergrund stehen. Nachdem Natascha Mundt (Theaterpädagogin) und Malin Kemper (Schauspielerin) den Mädchen Impulse gegeben haben, besprechen sie selbstständig, welche Themen ihnen am Herzen liegen und welche sie gerne in ihr Stück einbauen wollen, sowie die Frage wo sie sich und die Welt in der Zukunft sehen. Sie entwickeln Szenen und haben viel Spaß daran, hierbei ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen.

Jeder der drei Theaterclubs hat mir auf seine eigene Art und Weise unheimlich gut gefallen. Ich habe alles gesehen was ich mir gewünscht habe. Meine Erwartungen an das Praktikum wurden voll erfüllt. Ich durfte die Theaterpädagogik bei ihrer täglichen Arbeit begleiten und konnte mir so einen umfassenden Einblick über ihre Arbeit verschaffen. Es hat mir bei der Entscheidung für mein Studium geholfen, denn ich will auf jeden Fall etwas mit pädagogischer Ausrichtung studieren.

Demnächst in diesem Theater: »Born to Be Wild?« – choreografiert von Eric Rentmeister

Als ich ihn auf die Hauptprobe anspreche kurz vor dem Theater-Lockdown, der die heiß ersehnte Uraufführung von »Born to Be Wild?« vorerst sabotiert hat, muss Eric Rentmeister lauthals lachen. Wegen einer kurzfristigen Erkrankung im Ensemble war er kurz entschlossen als »Priscilla Joe« eingesprungen, damit die Nummern im Ablauf für Licht, Ton und Technik funktionierten. »Ja, die Probe hat Spaß gemacht!« grinst Rentmeister. »Und so etwas ist manchmal auch hilfreich, weil ich dann ein bisschen besser nachvollziehen kann, wie es den Schauspielerinnen und Schauspielern auf der Bühne geht und wie ich sie besser unterstützen kann.«

Eric Rentmeister (rechts) bei der Probe von »Born to Be Wild« mit Pablo Guaneme Pinilla.
Foto: Jochen Quast

Für das Theater Heilbronn ist der große, schlanke Künstler aus Köln inzwischen schon zum achten Mal tätig: Er war als »Cagelle« im »Käfig voller Narren« zu erleben und entwickelte die Choreografien für »White!«, »Das Apartment«, »Spring Awakening«, die »Rocky Horror Show«, »Charleys Tante« und »Zwei hoffnungslos verdorbene Schurken«. Wenn er sich entscheiden müsste, ob er lieber selbst auf der Bühne stehen oder choreografieren wollte, welche Wahl würde er treffen? »Ich bin nicht ohne Grund sowohl Darsteller als auch Choreograf, weil ich mich da noch nie entscheiden wollte. Beides hat seine ganz eigenen Reize. Auf der Bühne kann ich mich austoben, als Choreograf kann ich zusehen, wie meine Vision in die Tat umgesetzt wird.«

Tatsächlich geht sein »Aktionsradius« aber noch weit über die künstlerischen Fähigkeiten hinaus, die er in Heilbronn unter Beweis gestellt hat. Eric Rentmeister war mehrfach als Regisseur an Theatern im Ruhrgebiet engagiert und hatte diverse Lehraufträge u.a. an der Folkwang Universität der Künste, an der selbst er von 2000 bis 2004 studiert hatte, der Universität Hildesheim und der WAM Medienakademie Dortmund. Seit 2012 unterrichtet er den Musicalnachwuchs an der Hochschule Osnabrück. Was gibt er seinen Studentinnen und Studenten dort mit auf den Weg? »Ich möchte ihnen neben dem Handwerk insbesondere Respekt vor dem Genre und die nötige Ernsthaftigkeit mitgeben«, erklärt Rentmeister nun selbst ganz ernst. »Musical wird so oft als leichte Muse und als oberflächlich abgetan, dabei kann es so viel mehr sein.«

Was und wie das Genre sein kann, hat ihm unter anderen auch der Regisseur Stefan Huber vermittelt, den er 2003 beim Abschlussprojekt seines Studiums »kennen und schätzen gelernt« hat: »Bis heute eine der wichtigsten Erfahrungen, die ich auf der Bühne machen durfte.« Auch Eric Rentmeisters erste eigene Choreografie war für eine Huber-Inszenierung, 2009 bei Andrew Lloyd Webbers »Evita« in Dortmund. Die letzten Jahre hatte sich keine gemeinsame Arbeit ergeben – bis das Theater Heilbronn die beiden bei der Uraufführung der 68er-Show »Born to Be Wild?« wieder zusammen brachte. »Was mir am meisten Spaß macht«, freut sich Rentmeister, »ist es, immer wieder auf bekannte Gesichter zu treffen. In Heilbronn ist das Klima für mich inzwischen fast familiär. Das macht die Arbeit sehr angenehm.« Hat ihm die Show in der Show, die sich Stefan Huber und der musikalische Leiter und Arrangeur Kai Tietje für »Born to Be Wild?« ausgedacht haben, denn auch Herausforderungen bereitet? Eric Rentmeister lacht noch einmal schallend: »Mit den vielen Stufen unserer Showtreppe war es da schon mal knifflig. Aber ich bin sehr glücklich mit dem Ergebnis.«

Demnächst in diesem Theater: »Born to Be Wild?« mit Frederik Bott

Bei »Mit der Faust in die Welt schlagen« schockierte er als brutaler Menzel. In »Born to Be Wild?« zeigt sich Frederik Bott von einer ganz anderen Seite. Beziehungsweise gleich von zwei Seiten: Denn wie fast alle Mitglieder des kompakten Ensembles spielt der 28jährige Schauspieler aus Münsingen auf der schwäbischen Alb zwei verschiedene Rollen, Benno Leichtfuß, Student und Regievolontär bei der Fernsehshow »Mit Musik geht alles besser«, und Barry Rocker, den glamourösen Gaststar der Sendung.

Frederick Bott als Barry Rocker (Foto: Jochen Quast)

»Ich denke, bei mir vermischen sich On- und Backstage in der Figur am ehesten, denn Benno möchte im Endeffekt die Sendung übernehmen«, erklärt Frederik Bott. »Benno ist gleichzeitig impulsiv und zielstrebig, während Barry mehr Glam und Starallüren mitbringt. Gemeinsam haben beide ihre Power, jeder auf seine Weise.« Das Aufbegehren des Studenten, von Autor und Regisseur Stefan Huber konzipiert als »Prototyp des revolutionären Studenten der 68er, eine Mischung aus Rudi Dutschke und Benno Ohnesorg«, kann Bott gut nachvollziehen und auch auf aktuelle gesellschaftspolitische Strömungen beziehen: »Ich denke, dass in puncto Revolte die Geschichte sich immer wiederholen wird. Immer wenn das Fass überläuft, radikalisieren sich Menschen.«

Die »Power«, die er in seinen Rollen am Theater Heilbronn unter Beweis gestellt hat und stellen wird, zeichnet Frederik Bott auch als Person aus. Noch während seines Schauspielstudiums an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart drehte er den mehrfach preisgekrönten Kinofilm »Elser – Er hätte die Welt verändert«. Es folgen seitdem Engagements bei »Tatort« und in der RTL-Serie »Sankt Maik« (als einer der Partner unseres ehemaligen Ensemblemitglieds Bettina Burchard). Nach seinem Abschluss ging er für zwei Spielzeiten ans Staatstheater Nürnberg. Seine letzte Rolle dort war in dem Liederabend »Raumstation Sehnsucht« unter der Regie von Patricia Benecke, die in Heilbronn bereits »Kunst« und »Venedig im Schnee« im Komödienhaus inszenierte.

Seit 2018 ist der junge Schauspieler freischaffend und viel bei Film und Fernsehen beschäftigt, hat aber auch mehr Zeit für die Musik, denn »nebenbei« tritt er als Sänger der beiden Bands »Phrad Baron« und »Lay Out« auf. Welche Art von Musik mag und macht Frederik Bott? Er grinst breit: »Gute Frage! Ich höre andere Musik, als ich selber mache. Für mein Soloprojekt schreibe ich Singer-Songwriter-Nummern, für meine Band Hip Hop Funk, aber wenn es ums Hören geht, kann man mir mit Rock und Metal eine Freude machen.« In »Born to Be Wild?« reicht die Bandbreite seiner Songs von dem »I Feel Like I’m Fixing to Die«-Rag bis zu »Stairway to Heaven«. Freuen Sie sich drauf!

Demnächst in diesem Theater: Born to Be Wild? – Mit Eve Rades

Pandemie-bedingt sind wir mit unserer Uraufführung, Kai Tietjes und Stefan Hubers 68er-Revue »Born to Be Wild?« bisher leider nur bis zur Generalprobe gekommen. Aber keine Sorge: Sobald es wieder geht, stehen Ihnen »wilde« Zeiten im Theater Heilbronn bevor. Um schon jetzt Lust auf den Abend zu machen, stellen wir den April über die Gäste und die kreativen Köpfe in und hinter der Show in einer Blog-Serie vor. Den Auftakt macht die Berliner Schauspielerin und Sängerin Eve Rades.

Eve Rades als Jane Hippins in »Born to Be Wild?« (Foto: Jochen Quast)

Bis auf einen Schauspieler aus unserer 8-köpfigen Besetzung – wir können es hier schon verraten: es ist Stefan Eichberg als der Moderator der Fernsehsendung »Mit Musik geht alles besser«, Vico von Kulenburg – haben alle Ensemblemitglieder zwei Rollen – onstage und backstage. »Meine beiden Figuren«, erklärt Eve Rades, »heißen Jane Hippins, eine britische Hippie-Folksängerin, und Rosemarie Bleicher, die persönliche Maskenbildnerin des Moderators der Fernseh-Show. Allein von ihrem Aussehen her unterscheiden sie sich schon ganz gut. Jane Hippins ist ja als Gaststar Teil der Show und steht im Rampenlicht vor den Kameras, während Rosemarie aus der Arbeiterklasse kommt und mit dieser ganzen Glamourwelt nichts am Hut hat und auch mit diesem Gehabe nicht viel anfangen kann. Das sind zwei komplett unterschiedliche Energien und zwischen den beiden zu wechseln, macht Spaß.«

Der Name des Autors und Regisseurs Stefan Huber war der Absolventin der Bayerischen Theaterakademie August Everding schon seit ihrer Studienzeit bekannt: »Stefan hat an unserer Akademie das Abschlussstück »Rent« inszeniert. Ich fand die Inszenierung toll, und viele der Studenten schwärmten von der Arbeit mit ihm. Da war ich natürlich neugierig, und mir blieb der Name präsent. Als dann drei Jahre nach meinem Studium ein Casting für »Next to Normal« an der Oper Dortmund ausgeschrieben wurde, mit ihm als Regisseur und Kai Tietje als musikalischem Leiter, war ich wirklich aufgeregt. Ich habe selten jemanden erlebt, der sich so viel Zeit für ein Vorsingen nimmt. Da fühle ich mich dann nicht wie eine Nummer. Man hat Zeit anzukommen und kann sich in der Arbeit kennenlernen.« Die Rolle der Natalie in dem Pulitzerpreis-gekrönten Erfolgsmusical hat Eve Rades dann gleich zwei Mal in Hubers Inszenierung gespielt – in Dortmund und später in Österreich.

Es folgen viele große Musicalpartien, ein wahres »Who’s Who« von Eliza Doolittle über Sally Bowles und Maria Magdalena bis zu Evita. Daneben war sie mehrere Saisonen in Berlin und Hamburg in »Hinterm Horizont« zu sehen. Und deutschlandweit on Tour als Hexe Bibi Blocksberg in »Bibi & Tina«. Gibt es eine Lieblingsrolle?  »Kann ich gar nicht sagen,« lacht die quirlige Berlinerin mit der rockigen Stimme. »Ich hatte bisher Glück, Rollen spielen und singen zu dürfen, in denen ich mich darstellerisch austoben konnte, und da möchte ich mich nicht entscheiden.«

Auch das Eintauchen in die Musik der 68er und der frühen 70er hat Eve Rades einen großen Spaß gemacht. »Viele der Songs sind nach wie vor bekannt und über Generationen weitergetragen worden, zum Beispiel »Revolution«, »Imagine« aber auch »Für mich soll´s rote Rosen regnen«. Es gibt einfach Musik, die bleibt immer aktuell und berührt, egal wie alt sie ist.«

»WILD!« – Wir sind Premierenklasse

Von Ende September bis Anfang November begleitete die Klasse 6a der Lindenparkschule Heilbronn die Entstehung des Stücks »WiLd!«. Ihre Erfahrungen und Erlebnisse haben sie für uns in folgendem Bericht fest gehalten.

Start des Projekts
Im letzten Schuljahr am 15.07.2019 war Frau Kuß bei uns in der Schule. Frau Kuß ist Regisseurin im Theater Heilbronn. Sie erklärte uns was ihre Aufgabe als Regisseurin ist. Eine Regisseurin legt fest, was im Theaterstück vorkommen soll. Das nennt man Regie. Wir durften Fragen stellen und haben ein Spiel gespielt. Außerdem durften wir verschiedene Gefühle darstellen, wie zum Beispiel ängstlich, fröhlich oder wütend. Zum Schluss erzählte sie uns noch, wie das Stück heißt und worum es in dem Stück geht. Das Stück heißt »WILD!« und es handelt von Billy, einem Jungen mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung). Wir sollten Frau Kuß zeigen, was für uns »wild« bedeutet. Also gingen wir im Klassenzimmer herum und waren wild.

Wir lernen Patrick Isermeyer kennen
Am 26.09.2019 waren wir zum ersten Mal in diesem Schuljahr im Theater. Wir sind mit Frau Kuß in einen Raum gegangen und in diesem Raum war das Bühnenbild aufgebaut. In diesem Raum übt Patrick Isermeyer seine Rolle als Billy in dem Stück »WILD!« . Etwas später kam Patrick Isermeyer und erzählte uns etwas von sich. Wir haben sehr viele Fragen gestellt und Patrick hat uns eine Szene aus dem Stück »WILD!« vorgespielt. Wir, die 6a, durften Patrick Tipps geben. Wir haben Standbilder und verschiedene Theaterübungen gemacht.

Auch wir sind Schauspieler
Am 7.10.2019 kam dann Frau Appelbaum zu uns an die Schule. Wir gingen in den Festsaal und machten ein paar Übungen. Wir lernten zum Beispiel verschiedene Geschwindigkeiten kennen. Außerdem haben wir Szenen aus dem Stück »WILD!« selbst gespielt. Frau Appelbaum ist Pädagogin am Theater. Eine Theaterpädagogin vermittelt zwischen dem Theater und dem Publikum. Sie organisiert zum Beispiel Workshops für Kinder und Jugendliche.

Probenbesuch und Theaterbesichtigung
Als nächstes waren wir nochmal im Theater. Wir haben wieder Patrick, Frau Kuß und Frau Appelbaum getroffen. Patrick hat mehrere Szenen vorgespielt. Wir durften wieder Tipps geben und Fragen stellen. Dann haben wir das Theater angeschaut. Als wir das gemacht haben, hat Frau Appelbaum etwas über das Theater erzählt und wir haben den größten Kleiderschrank von Heilbronn gesehen.

Besuch der Theateraufführung
Am 5.11.2019 waren wir nochmal im Theater. Aber dieses Mal waren wir in der Boxx und wir haben das Theaterstück angeschaut. Wir und unsere zwei Lehrerinnen hatten kostenfreien Eintritt und wir durften als Erste unsere Plätze auswählen. Wir haben die erste Reihe genommen und dann ging es schon los. Es war super und jetzt war auch noch der Schlagzeuger mit dabei. Er hat das Stück begleitet und hatte eine coole Frisur. Zurück in der Schule haben wir noch über das Theaterstück gesprochen. Wir konnten uns richtig gut in Billy hineinversetzen und uns vorstellen wie er sich fühlt.

DANKESCHÖN!
Uns, der Klasse 6a der Lindenparkschule Heilbronn mit Frau Matter und Frau Grammetbauer, hat das Projekt »Premierenklasse« sehr gut gefallen.
Wir bedanken uns von Herzen bei Frau Kuß, Frau Appelbaum, Patrick Isermeyer und dem Theater Heilbronn für die tollen und spannenden Einblicke!

Auch wir bedanken uns bei der Klasse 6a der Lindenparkschule, dass sie unsere Premierenklasse bei »WiLD!« waren und uns mit diesem schönen Bericht teilhaben lassen.
Alle Vorstellungen zu »WiLd!« finden Sie auf unserer Webseite.
Am 5. März 2020 gibt es ab 19.30 Uhr einen Themenabend »Leben mit AD(H)S« und einer Abendvorstellung von »WiLD!«.

Ein Quacksalber aus Knittlingen?

Der historische Faust als Symbolfigur im Wandel der Zeiten

Der historische Faust war ein Mann, um den sich schon zu Lebzeiten Legenden rankten. Er lebte von ca. 1480 bis 1540, in der Zeit der deutschen Bauernkriege, und war damit ein Zeitgenosse so revolutionärer Figuren wie Martin Luther, Thomas Müntzer und Ulrich von Hutten. Er hieß Johann Georg mit Vornamen und stammte aus Knittlingen in Württemberg, wurde also nur etwa 50 Kilometer von Heilbronn entfernt geboren. Es ist dieser Faust, auf den sich alle literarischen Versionen des Stoffes beziehen – ob vor Goethe nun die von Christopher Marlowe oder Gotthold Ephraim Lessing oder nach ihm beispielsweise die von Thomas Mann und Hanns Eisler. Glaubt man den Überlieferungen, so war dieser Doctor Faustus aber eher ein Scharlatan als ein Gelehrter, eher ein Quacksalber als ein Arzt, der ein unstetes Wanderleben im süddeutschen Raum führte. Angeblich hatte er sich auf der Hohen Schule zu Krakau zum »Meister aller mantischen Künste« ausbilden lassen, worunter die Wahrsagerei, die Magie und die Zauberei zu verstehen sind. Belege dafür gibt es aber keine. Dennoch machte er sich als Zauberer und Wahrsager einen Namen, zog durch die süddeutschen Städte, war als Bader tätig, unterrichtete und stellte Horoskope. Zudem scheint er ein brillanter Fabulierer gewesen zu sein, eine Art Münchhausen der Reformationszeit, der sein Publikum für sich begeistern konnte. Er liebte die leiblichen Genüsse, besonders das Zechen, und »nannte den Teufel seinen Schwager«, wie Klaus Völker schreibt. Kein Wunder also, dass seine Zeitgenossen – zumindest die klerikalen, feudalen und bürgerlichen – in ihm eher einen Landstreicher und Sittenstrolch sahen; wiederholt wurde er aus verschiedenen Städten ausgewiesen und ihm unterstellt, gemeinsame Sache mit dem Teufel zu machen. Das Volk hingegen ergötzte sich ebenso bewundernd wie schaudernd an seinen Kunststücken, die offenbar »philosophischen Eulenspiegeleien« (K. Völker) gleichkamen. Seit sich Luther angewidert von den »räuberischen und mörderischen« Bauernhorden distanziert hatte, die den Aufstand gegen das feudal-klerikale Herrschaftssystem unternahmen, war auf den Protestantismus als Unterstützer der sozialen Kämpfe nicht mehr zu hoffen. In dieser Situation entdeckte man die Magie als eine geistige Gegenkraft, mit der man neue Hoffnung verknüpfen konnte. So entwickelte sich der »Schwarzkünstler Faust« zu einer neuen volkstümlichen Symbolfigur.

»Faust. Der Tragödie erster Teil«
vlnr. Frank Lienert-Mondanelli, Sabine Unger, Johanna Sembritzki, Stefan Eichberg, Oliver Firit, Sven-Marcel Voss, Marek Egert
Foto: Candy Welz

Die offizielle Stigmatisierung einer schillernden Figur wie der des Faust als »Teufelsbündler« ist keine Überraschung in einem Zeitalter, das alle seine bedeutenden Wissenschaftler – von Agrippa von Nettesheim über Paracelsus bis hin zu Galilei Galileo und Giordano Bruno – als Ketzer brandmarkte. »Noch wurden [nämlich die] Superbia, die Anmaßung, und [die] Curiositas, die Neugier, als Sünden angesehen«, suchten sie doch »die von Bibel und Kirche gesetzten Grenzen des Menschlichen« (S. Demmer) zu überschreiten. 1587, 47 Jahre nach Fausts Tod, erschien beim Frankfurter Buchhändler Spieß die »Historia von D. Johann Fausten, dem weitbeschreyten Zauberer und Schwartzkünstler«, gedacht – so der Untertitel – als »abscheuliche[s] Exempel und treuherzige[] Warnung« vor dem verruchten Unhold. Im protestantischen Kontext stand der maßlose Forscher Faust, den sich letztlich der Teufel holt, somit dem redlichen Gottesmann Luther als verderbtes Gegenstück gegenüber. Allerdings bewirkte die Schrift, wie oft in solchen Fällen, genau das Gegenteil: Innerhalb etwa eines Jahrzehnts erfolgten 22 Nachdrucke, woran sich deutlich die Faszination und der Schauder der Zeitgenossen an der Faustlegende zeigen. Goethes spätere Umdeutung des Stoffes zeigt sich schon allein darin, dass er in seiner Faust-Figur schließlich charakteristische Facetten des Gottesmanns Luther mit denen des Magiers und Schwarzkünstlers Faust zu einer ambivalenten Gestalt verschmilzt.

Oliver Firit (Mephistopheles), Stefan Eichberg (Faust)
Foto: Candy Welz

Der Stoff gelangt zu Goethe durch seine – oft sensationslüsterne – Überlieferung in Volksbüchern, auf Wanderbühnen und in Puppenspielen, die ihn durch das 16. und 17. Jahrhundert trägt. In der Aufklärung setzt sich schließlich die Auffassung durch, dass Fausts Erkenntnisdrang durchaus als Teil der göttlichen Gabe der Vernunft zu verstehen sei und somit nicht der göttlichen Strafe anheimfallen dürfe. Die Dichter des Sturm und Drang wiederum erweitern dieses neue Faust-Bild um ein »leidenschaftliches Bekenntnis zur Natur« (S. Demmer) und zur menschlichen Empfindungsfähigkeit, dem sich Goethe spürbar anschließt. Ganz im Sinne des Sturm und Drang erkennt auch er in der Faust-Legende eine Identifikationsfigur des Zeitgeistes, einen »mutige[n] Außenseiter, der die Horizonte des Denkens und Fühlens« (S. Demmer) zu erweitern sucht und nimmt sich ihr in diesem Sinne an. Was zu Beginn der 1770er-Jahre beginnt, wird für Goethe zu einer literarischen Obsession, die ihn ein ganzes Leben lang nicht loslässt.

Oliver Firit (Mephistopheles), Stefan Eichberg (Faust)
Foto: Candy Welz

Die ungeheure Fülle und Geräumigkeit der Motive und ästhetischen Formen, die Goethes Weltgedicht der Nachwelt zur Verfügung gestellt hat, hat in den vergangenen 200 Jahren zu einer ebenso ungeheuren Fülle von Auseinandersetzungen mit seinem »Faust« geführt. Die Interpretationen des Stoffes allerdings wandeln sich mit den Zeitläufen. Jedes Land und jede historische Epoche, so scheint es, schafft sich nach Goethe ihren eigenen Faust, um an ihm die jeweiligen gesellschaftlichen Fragen zu spiegeln. Im 19. Jahrhundert steigt der »Faust« so als »Repräsentant der deutschen Seele, die freilich auf Welteroberung aus ist« (K. Völker), zum Nationaldrama auf – und bildet seither das Zentrum des deutschen Bildungskanons.

Quellen:

  • Sybille Demmer: »Faust« – Stoff und Spiegel eines Dichterlebens. In: Johann Wolfgang Goethe: Faust. Eine Tragödie. Erster und Zweiter Teil. 9. Auflage. München 2006, S. 355–370.
  • Klaus Völker: Die Geburt einer Legende und ihr Fortleben in den Köpfen. In: Faust. Ein deutscher Mann. Die Geburt einer Legende und ihr Fortleben in den Köpfen. Lesebuch von Klaus Völker. Berlin 1981, S. 181–188.

»Faust. Der Tragödie erster Teil« ist noch bis zum 15. April 2020 im Großen Haus zu sehen.

Soziale Obdachlosigkeit

von Anja Bothe

Die Schauspielerin Anja Bothe spielt in Delphine de Vigans »No und ich« die Pariser Schülerin Lou Bertignac, die die 18-jährige Obdachlose No von der Straße holt, um ihr ein Zuhause und Geborgenheit zu schenken. Während der Probenarbeit hat Anja Bothe sich literarisch mit dem Thema (soziale) Obdachlosigkeit beschäftigt.

Anja Bothe in »No und ich«
Foto: Thomas Braun

Wir alle brauchen Familie. Egal ob groß oder klein. Ob erwachsen oder ein Kind. Wir alle brauchen Familie. Und wer sie nicht hat, hat die Arschkarte. Wer sie nicht hat, der muss schauen wo er bleibt.

Ich fühle mich manchmal obdachlos. So als hätte ich keine Heimat. Als ob ich immer auf der Suche wäre. Nach meinem Zuhause. Einen Vater haben. Eine Mutter. Vielleicht Geschwister. Ist es das? Ist es eine gute Kindheit? Was erlebt man in seiner Kindheit? Wie lebt man, um ein Zuhause zu haben? Um sich, wenn man erwachsen ist, nicht wie eine Obdachloser zu fühlen? Obdachlos. Man hat kein Obdach. Aber das kann man sich doch leisten. Das kann sich doch jeder in Deutschland leisten. Wegen Hartz IV und so. Da gibt es doch Möglichkeiten. Aber was ist mit dem ganz persönlichen Erleben? Mit den ganz persönlichen Erlebnissen und Gefühlen?

Und dann gibt es die gesellschaftlichen Einordnungen. Die Normen. Wie man zu sein hat. Was man zu machen hat. Die Strukturen. Aber was ist, wenn man in eine solche Struktur nicht passt? Sein ganzes Leben versucht man sich anzupassen. Sich hinein zu formen. Umzuformen. Sich von seinem eigentlichen Wesen, seinem Urinstinkt zu verabschieden. Aber kann man das überhaupt? Sich so losreißen. Man wird geboren in eine Umgebung, in ein Umfeld. Man kann sich seine Familie nicht aussuchen. Man kann sich auch nicht aussuchen, ob sie für den Monat genug zu essen hat. Man kann sich die Liebe seiner Eltern nicht aussuchen. Man kann sie nicht erzwingen. Man könnte meinen sie wäre von Grund auf da. Wie ein unausgesprochenes Band. Aber was ist, wenn ein Elternteil dich nicht liebt? Was ist, wenn es diese angeblich grundlegende unanfechtbare Liebe nicht geben kann? Und du schreist nach ihr. Weil es ein Grundbedürfnis ist. Du schreist wie ein Löwe. Und du weiß nicht, warum du diese Liebe nicht erhältst. Und dann veränderst du dich und wächst heran. Aber dieses Grundbedürfnis wurde nicht gestillt. Du hast es einfach nicht erlebt.

Und diese Seelen wandern in einer Gesellschaft, in der man sich gegenseitig nicht mehr brauchen will. In der es einfacher scheint, für sich zu leben. In einer Gesellschaft, in der man nebeneinander her lebt. In der man hinter verschlossenen Türen Schwäche zeigt. Eine Gesellschaft, in der am besten alles gleich bleibt: neutral und steril. In der der »gute« Schein gewahrt wird. Weil alles andere wäre anstrengend.
Soziale Obdachlosigkeit ist für mich ein Symptom. Ein Mangel an Liebe. Eine Verkümmerung. Ein Nicht-Helfen, ein Unverständnis der Umwelt. Was ist, wenn man anders ist? Wenn man vielleicht nicht laut, sondern leise ist. Wenn man nur schreien kann statt normal zu sprechen. Hören wir uns trotzdem? Warum müssen wir alle einer bestimmten Norm entsprechen? Wer hat die festgelegt und warum? Ich will Diversität in einer Gesellschaft, die sich nur noch unter einem Deckel befindet.

Was ist, wenn man kein Zuhause hat? Wenn dieses Grundbedürfnis von einem auf den anderen Tag wegfällt? Wenn sich plötzlich ein Mensch von dir trennt. Deine Mutter, dein Vater, dein Bruder, deine Schwester, deine bester Freundin, deine Freund*in. Wenn ein Band zerbricht. Wenn es eine Verkettung von Umständen gibt. Ein Unglücksfall in der Familie. Manche Dinge kann man erklären und manche nicht. Das Leben verlangt keine Erklärung. Menschen schon. Wir wollen die Hintergründe wissen. Denn alles hat doch seinen Grund. Aber es gibt keine Erklärung. Keinen Wegweiser. Manchmal schwebst du und musst entscheiden wohin. Oder zumindest denkst du das. Aber Sicherheit gibt es nicht. Viele Menschen konstruieren sich ein Sicherheitspaket und kommen ihr Leben scheinbar damit zurecht. Aber gibt es Gehör und Empathie für diejenigen, die diese Sicherheit nicht haben?

Zu Hause. Was ist das für dich?

Noch bis zum 8. Juli 2020 könnt ihr Anja Bothe als Lou in »No und ich« erleben.

Sarah Finkel, Anja Bothe, Sascha Kirschberger in »No und ich«
Foto: Thomas Braun

Dreizehnte Szene oder Das Stück im Stück

Der Berliner Publizist und Dramatiker Thomas Martin hat eigens für das Theater Heilbronn den Debütroman von Lukas Rietzschel »Mit der Faust in die Welt schlagen« bearbeitet. Dafür hat er einen ganz eigenen sprachlichen und theatralen Zugriff auf den Stoff gefunden.

Die hier veröffentlichte Szene 13 ist in dieser Form nicht auf der Bühne zu sehen, sie hat sich im Lauf der Probenarbeit verändert. Statt der Figur des Tobias‘ ist es in Axel Vornams Inszenierung der ältere Bruder Philipp, der seinen Mitschüler Ramon auf dem ehemaligen LPG-Hof aufsucht.
Die hier veröffentlichte Szene 13 ist in dieser Form nicht auf der Bühne zu sehen, sie hat sich im Lauf der Probenarbeit verändert. Statt der Figur des Tobias‘ ist es in Axel Vornams Inszenierung der ältere Bruder Philipp, der seinen Mitschüler Ramon auf dem ehemaligen LPG-Hof aufsucht. Die Lektüre der ursprünglichen Szene 13 von Thomas Martin ermöglicht nicht nur einen Eindruck seines Schreibansatzes, sondern hinterfragt auch die Form des Erzählens im Theater und damit sich selbst.

13. LPG

Ramons Hof. Tobias, Ramon. Elli. Ramons Mutter.

CHOR
Ein Feld, ein Weg, ein Feld. Dann wieder ein Feld. Abgeerntet, Spuren von Traktoren, die Sonne frei, der Himmel wolkenlos. Ein Gelb, ein Blau.

ELLI
War van Gogh je in der sächsischen Oberlausitz? In Sorbien?

CHOR
Steine auf der Straße an den Feldeinfahrten. Lehmfarbener Acker soweit du sehen kannst, bis Tschechien, bis Polen. Zwischen den Feldern die Höfe. Alte Höfe, große Tore, meistens morsch. Alte Höfe, leere Höfe. LPG-Höfe.

TOBIAS
EllPeGE, was heißt das eigentlich?

CHOR
Die Gärten klein, zur Straße hin von Maschendraht begrenzt. Ramons Häuschen grün gestrichen. Er und seine Mutter plus Geschwister wohnen in einem der drei Häuser, die der Hof mal waren. Der Hof daneben: ZU VERKAUFEN. Ramons Mutter hält Kühe. Kühe und Kinder, sonst hält sie nichts.

TOBIAS unschlüssig am Tor, klopft.

CHOR Nase zu
Wie das stinkt!

ELLI
Aber die geben doch die gute Milch.

CHOR
Und warum ist die so billig, daß der Bauer nicht mal leben kann davon?

ELLI
Weil ihr in der Schule nicht aufgepaßt habt, Honks, darum!

TOBIAS
Weil die uns plattmachen hier in unserm Freilichtmuseum.

CHOR
Ah, Philipp der Kluge. Er spricht!
Quatsch, sieh doch mal hin, das ist Tobias. Der kleinere von beiden.
Und was will der beim großen Ramon?
Ist doch egal, wer das ist, bei Brüdern spielt das keine Rolle.
Genau, ganz egal, wer wen hier spielt, solang wir fantasieren.
Tobi oder Philipp, eh alles nur Theater. Wie bei den Räubern.
WIE BEI DEN RÄUBERN.
Und sie sehn sich so ähnlich, zwei Jahre Altersunterschied, was macht das schon.
WIE BEI DEN RÄUBERN.
Ganz gewöhnliches Theater. Genau.
Bretter und der elektrische Mond und dahinter die Fleischbank, die allein echt ist.
WIE BEI DEN RÄUBERN.
Aber Rindfleisch muß es sein.
WIE BEI DEN RÄUBERN, WIE BEI …

ELLI
Chöre, mein Gott!

CHOR
Wir haben Chöre gesehen der Arbeiter
Haben Chöre gesehen des Proletariats
Chöre der kommunistischen Genossen
Sogar Chöre auf dem Land, Bauernchöre
Haben wir gesehen, aber noch keinen
Chor, der den Kapitalismus repräsentiert.

ELLI
Was für ein Chor sollte das denn sein, bitte?

CHOR
Wir!

TOBIAS
Obzwar ich schon Bauklötzer staune, ganz glauben kann ich das nicht.

ELLI
Hör nicht hin, ist der blanke Populismus.

TOBIAS
Hör ja gar nicht hin.

CHOR
Die alte Form des Dramas ermöglicht es nicht, die Welt so darzustellen, wie wir sie heute sehen!

ELLI
Ganz recht, schließlich dramatisieren wir Romane. Neue Romane! Romane einer ganz neuen Generation. Und nicht nur das: Wir dramatisieren ein Volk. Gut, gut: ein ehemaliges, ein halbes. Aber was red ich, wo wir doch seit … ja seit wann eigentlich? ein Volk sind, ein einiges, echtes, das sein Volksein leben will, verstehen will, versteht sich. Die Sehnsucht nach Echtheit wächst natürlich mit dem Fortschritt digitaler Welten, in der Kunst vor allem. Seht euch doch um, wenn ihr euch umseht. Trotzdem hat die zeitgenössische Dramatik derzeit keinen leichten Stand. Selbst an den Theatern nicht. Erst recht an den Theatern nicht. Das Drama: ein Relikt. Die Postdramatik löst sich im Performativen auf wie Silber in der Säure, Stadtteilprojekte, Recherchen, Bürgerbühnen und offene Formate reagieren schneller und politischer. Das Vertrauen in das Miteinander von Regie und Dramatik schwindet, auch bei uns. Dabei gibt es doch beim Publikum eine Sehnsucht nach Erzählungen, nicht wahr. Das steht sogar in der Zeitung. Und kein Unterschied zu sehen zwischen Ost und West … und da können wir nun konstatieren: Hier ist die Einheit nach nur 30 Jahren doch erreicht, im Dramatisieren von Romanen. Hut ab, kann ich da nur sagen, wenn ich einen hätte.

TOBIAS sitzt auf dem Boden und flickt an seinem BMX herum
Wenn das eine Regieanweisung wäre, würde ich lesen: „Sitzt auf der Erde und flickt an seinem BMX-Rad rum.“ Ich habs verstanden.

CHOR
Aber wem gehört der Roman, und wem das Drama? Wem gehört das Theater?

ELLI
Wo ihr fragt, da sollt ihr Antwort haben: 80 Prozent der, jawohl, 140 öffentlichen Theater in Deutschland sind renovierungsbedürftig. Es gab zwei Bauwellen von Theatern, zwischen 1890 und 1910 und dann die schönen Häuser nach dem Weltkrieg, dem zweiten. Und ihr könnt eben nicht 50 Jahre lang nichts an einem Bauwerk machen, denn dann fällt es zusammen. Und das ist bei uns hier der Fall. Ich kann nur sagen, seht euch um. Jeder Hausbesitzer weiß, er muß fünf bis zehn Prozent der Bausumme jährlich für Reparatur und Sanierung aufwenden. Das ist wie auf einem Bauernhof, weil Eigentum, ihr habts gehört, verpflichtet, auch und erst recht das geistige. Bei den Theatern hat man das gespart. Weggespart. Mit erheblichen Folgekosten, liebes Publikum, neutral bleiben nützt hier gar nichts. Schlägt ja alles zurück auf die Preise, die Öffentliche Hand. Wir subventionieren den eigenen Verfall, kann ich dazu nur sagen. Außerdem sind unsere Theater zu klein geworden: Lüftung, Klima, Brandschutz, Werkstätten, Fundus, all das braucht heute viel mehr Platz. Vom Publikum, das uns die Buden einrennt, gar nicht zu reden, da habt ihrs.

CHOR
Die Theater sind also von heute aus betrachtet gar nicht zukunftsfähig, meinst du das?

ELLI
In der Tat, das meine ich, sie sind nicht zukunftsfähig. Wir haben ein Drittel weniger Festangestellte als noch vor elf Jahren, und mit dieser knappen Personaldecke spielen wir 69.900 Vorstellungen, fast 300 pro Tag, das ist Weltrekord! Im künstlerischen Bereich bekommen auch immer weniger von uns Festverträge, ich weiß, wovon ich rede. Alle im Theater werden ausgequetscht wie die Zitronen. Ich bin nicht sicher, ob das Bild trägt, aber ihr wißt, was ich meine. Das Theater ist doch der Ort, an dem Visionen entwickelt werden, an dem die gesellschaftlichen Zustände kritisch hinterfragt werden, stimmts nicht? Da fangen wir am besten gleich bei uns selber an.

CHOR uneins mit sich selbst
Es handelt sich hier offensichtlich aristotelische Einfühlungs-Dramatik. Die Nachteile dieser Technik könnten bis zu einem gewissen Grad ausgeglichen werden, wenn man das Stück zusammen mit einem Dokumentenfilm, der die Vorgänge in Spanien zeigt, oder irgendeiner propagandistischen Veranstaltung aufführen würde … was meint ihr?

TOBIAS zwischen verträumt und zu doof am Fahrrad
Spanien? Ich war noch nie in Spanien …

RAMON aus dem Off hinter dem Bretterzaun
Du kannst nicht neutral bleiben, Theresa!

RAMONS MUTTER Off
Für dich immer noch Mutti, mein Sohn!

ELLI
Jawohl, denn es gibt eine Sehnsucht nach tragischen Konflikten. Nach Gesprächskatalysatoren. Nach Dialog. Absurderweise aber wird danach nicht in der Dramatik gesucht, sondern im Roman. Ist zeitgenössische Dramatik zu komplexeren Erzählungen nicht mehr in der Lage? Wer, wenn nicht die Theater, kann professionellen Begleitschutz dafür bieten, frage ich? Sprechen wir über die Besitzverhältnisse! Zurück zu den Wurzeln, back to the roots! Und dem Zeitgeist auf den Fersen! Die nichtdramatische Form wird gern auch deshalb in Kauf genommen, weil Romaninszenierungen zu publikumsgenerierenden Wiedererkennungseffekten führen. Titel, die in der SPIEGEL-Bestsellerliste vorkommen, sind einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Theaterstücke kommen – wenn überhaupt – nur noch als hochspezialisierte Nischengattung auf dem Buchmarkt vor. Versucht es selbst: findet erstens einen Buchladen, zweitens dort eine Ausgabe mit Stücken, viel Glück! Aber genug jetzt, weiter im Text, dem Roman hinterher, Leser, mir nach: Tobias legt also sein BXM-Rad endlich auf dem Feldweg ab und stellt sich vor das Tor von Mutter Mehlschwitz, da kommt sie. Er sieht durch das rissige Holz auf den Hof. Ablauf: immer der gleiche. Fragen, ob derjenige rauskommen dürfe, von dem man hoffe, daß …

TOBIAS technisch auf der Höhe der Zeit:
Ist Ramon da? Darf er mal raus?

CHOR
Ist Ramon da? Darf er mal raus?

TOBIAS
Darf er?

ELLI
Und wenn die Eltern die Tür öffnen, auch immer das Gleiche.

CHOR
DARF RAMON RAUS? NEIN, DARF ER NICHT. JA, DARF ER DOCH.

»Mit der Faust in die Welt schlagen«; Friedrike Pöschel (Ramons Mutter), Romy Klötzel (Elli)
Foto: Candy Welz

RAMONS MUTTER erscheint in der Türe wie im Folgenden exakt beschrieben:

ELLI
Ramons Mutter: rotgefärbte Haare, fett geschminkt, mit Schmuck behängt, Typ polnische Friseuse, und immer eine Fluppe zwischen den auch rotgefärbten Lippen, hat wohl grad Suppe für die jüngsten auf dem Herd.

TOBIAS
Ich kenne Sie von BILLIGLAND, wo sie an der Kasse sitzen, weil sie den Hof allein nicht halten können. Ist ja nicht mehr LPG, nein, Besitz, das haben wir gelernt, verpflichtet, Frau Mehlschwitz.

RAMONS MUTTER
Genau. Wer hat, der kann machen, was er will damit. Verpißt euch.

CHOR
Wir wollen nichts lernen.

RAMONS MUTTER
Ja, weil ihr viele seid. Aber wieviel seid ihr noch?

CHOR
Genug.

RAMONS MUTTER
Und was habt ihr?

CHOR
Nicht viel.

RAMONS MUTTER
Woher sollt ihr von Besitz was wissen, woher ich? Hat uns keiner in die Hand gegeben. War Volkseigentum das alles, privat war eher Staatsvergehn, hast kaum mehr davon gehabt als Ärger. Nur Unterricht, das war das einzige. Lernen, lernen, nochmals lernen. Tag, Tobi, Ramon ist im Schuppen.

TOBIAS
Danke, Frau Mehlschwitz.

RAMONS MUTTER
Aber nicht rauchen, das fliegt sonst alles in die Luft hier wegen dem vielen Altöl von früher.

CHOR
Er wollte noch fragen, wo der Schuppen und wie er dorthin, aber da schloss sie von innen die Tür ab. Drehte den Schlüssel zwei Mal und ein drittes Mal.

TOBIAS
Stille. Und Gestank. Und Fliegen, sie verfolgen mich.

CHOR
Hab dich nicht so, kleiner Mann. Sind bloß Fliegen, gewöhnliche Fliegen. Und die stechen nicht. Sie erinnern nur an das, was zu tun ist, Tobias.

TOBIAS
Wie das aussieht hier …

ELLI
Zerbrochene Betonplatten im Hof. Als ob hier Panzer durchgefahren wärn oder der Schaufelbagger vom Tagebau nebenan. Korrigiere mich wie folgt: Zerbrochene im was ein Hof gewesen war … ein Baumstrunk in der Mitte, eine Plastebank davor. Nur eine von drei Hausfassaden gestrichen, sonst grauer Putz, der fröhlich bröckelt. Die Fenster offen oder fehlen ganz. Buntes Spielzeug, ein Bagger, ein Traktor umgekippt auf dem Boden neben Pflanzenkübeln.

CHOR
Ramon hat auch einen Bruder oder zwei sogar, der weiß, was das heißt. Immer einen Kleinen an den Hacken.

TOBIAS
Und überall der Gestank und die Fliegen.

ELLI
Dafür hat die Garage ja gottseidank kein Dach, ist also immer schön Durchzug.

RAMON
Hey.

TOBIAS
Scheiße.

RAMON
Was?

TOBIAS
Daß ich einfach mal Hallo sagen wollte und du erschreckst mich.

CHOR
Wie erbärmlich er aussehen muss in Ramons Augen. Wie der totale Untermensch. Die Flasche. Aber Ramon!

ELLI
An die Werkbank gelehnt, unter weißen Neonröhren, eine flackert, ein Moped, frisch lackiert.

RAMON
Meine Mutter lässt jeden rein, der die Klingel findet. Ich sag ihr, dass sie da aufpassen soll, ich bin ja auch nicht immer da. Ist gefährlich hier draußen, Zigarette?

TOBIAS
Nein, danke muß nicht sein.

RAMON raucht
Ist gut gegen die Fliegen.

ELLI
An den Wänden Blechschilder RADEBERGER PILSNER, eine verblasste Dynamofahne und das Poster einer Frau, die ihre Beine spreizt, das sich an zwei Ecken gelöst hat und sich im Zugwind hinundherbewegt …

CHOR
Oh, und das viele Werkzeug ringsherum, Hammer und Sichel …

RAMON
Hier sind manchmal Leute unterwegs, ich sag dir. Willst du was trinken?

TOBIAS
Was hast du denn?

CHOR
Klasse Antwort, TobiasPhilipp, gut gemacht. Mach weiter so.

RAMON
Radeberger und noch nen Kasten Zeckenbier.

TOBIAS
Radeberger, das ist gut.

RAMON
Kalt wär besser.

TOBIAS
Bier ist Bier.

»Mit der Faust in die Welt schlagen«; Sven Marcel Voss (Philipp), Arne Löber (Ramon)
Foto: Candy Welz

CHOR
Hört, hört! Bier ist Bier!

ELLI
Ramon grinst, Tobias unterdrückt ein Würgen. Ein schlaffer Wind ergreift das Poster, läßt es an den losen Enden träge flattern. Das Papier so dünn, dass es sich anhört, als könnte eine Fliege sich nicht von der Wand lösen, wo der klebrige Leim von der Falle sie hält.

CHOR „Fliegen
Ssssssss…chnlllzsch…p…lopp!

TOBIAS
Na dann: Prost, Ramon.

RAMON
Tobi, prost!

ELLI
Tobias sieht, wie es reißt, das Poster, an den Beinen der Gespreizten entlang … Ramon nimmt einen Schluck aus der Flasche, die freie Hand fährt lässig über den gepolsterten Sitz seines Mopeds. Und ich, ich mach mich vom Hof jetzt.

Ab.

RAMON
Deine Alte arbeitet doch im Krankenhaus. Da verdient die doch bestimmt ganz gut.

TOBIAS
Alte?

RAMON
Mutti, Mensch.

TOBIAS
Weiß nicht, kann sein.

RAMON
Habt ihr ein Auto?

TOBIAS
Renault.

CHOR
Das ist doch kein Auto! Oder denkt er etwa auch: Auto ist Auto?

RAMON
Warum bist du hergekommen?

TOBIAS
Was du alles hast hier, ganz schön alt.

RAMON
Mein Vater hat den kompletten Scheiß hier gelassen. Richtig gutes Werkzeug aus der DDR. Kein Billigscheiß, den du bei OBI kaufst.

CHOR
Was er jetzt plötzlich gegen OBI hat? OBI ist doch super, OBI sind die besten.

TOBIAS
Wo ist dein Vater eigentlich?

RAMON
Hat sich verpisst und fickt sich drüben durch.

CHOR
Ein Vaterproblem. Da macht auch Ramon keine Ausnahme.

TOBIAS
Im Westen?

RAMON
In Polen, du Blödmann.

CHOR
Im Westen! Der ist gut!

TOBIAS
Aber du hast ihn noch gekannt, oder?

RAMON
Der hat meine Mutter sitzen lassen, da war ich zwei drei Jahre alt. Da hatten wir auch noch mehr Kühe.

CHOR Nase zu
Puh, wie das gestunken haben muß!

RAMON
Wir kommen auch ohne ihn klar. Und ich hab Freunde.

TOBIAS
Du bist der Vater hier.

RAMON
Menzel ist der Führer.

TOBIAS
Hier?

RAMON
Von der Bande.

TOBIAS
Bande, wie das klingt.

RAMON
Gut klingt das, und nicht jeder darf das sagen.

CHOR
Nicht jeder darf dabei sein, nein. Und nicht jeder ist wie Ramon. Jetzt sitzt er auf dem Moped. Sein Haar ist ganz kurz. Das Gel drin läßt es glänzen. Er riecht nach dem Deo aus der Werbung, wie hieß das noch, vergessen …

RAMON
Zigarette?

CHOR
Der Kuhmist stinkt und Ramon duftet.

RAMON
Glaub bloß nicht, man kann damit verdienen. Was die für die Milch zahlen, ist ein Witz. Wenn man das rechnet, machen wir minus. Mit jedem verschissenen Liter. Ich lass mich von meiner Mutter auf gar keinen Fall bezahlen, außer Taschengeld natürlich, prost, sonst könnten wir uns das alles nicht leisten. Scheiß-EU. Der deutsche Bauer ist hier nichts mehr wert. Den haben die Großbetriebe und die Ökos ruiniert. Zigarette?

Sirene von fern, näher … vorbei.

CHOR
Und während Tobi rätselt, was jetzt Scheiß-EU bedeuten soll und ob er schon wieder eine rauchen soll, rast die Feuerwehr vorbei. Wenn man nichts macht, dann brennt der Wald.

TOBIAS
Was Eisen nicht heilt, heilt Feuer.

RAMON
Was?

TOBIAS
Sagt Philipp immer.

RAMON
Ich muß jetzt, machs gut.

TOBIAS
Wohin?

RAMON
Sehn, wos brennt.

CHOR
Ramon zum Beispiel, seht ihn euch an. Sieht aus wie ein Kanake, heißt wie ein Kanake, ist katholisch wie ein Kanake, hört Kanakenkaraoke und ist trotzdem deutsch total und komplett von hier. Solche suchen wir.

Feuer. Übergehend in Traumbild: Regen/Dusche/Tropen/Italienische Oper …

RAMONS MUTTER schwarz am weißen Pfahl der Kolonisatoren:
„Der Hof war verlassen, außer von dem Geier, der
An ein Wagenrad gekettet mit den Flügeln schlug.
Im Keller zwischen den Leichen wartete er auf mich
Der mir aus der Hand lesen wollte. Diagnose
NOSTALGISCHER KREBS. Flucht in den Hof
verfolgt vom Lächeln des Handlesers. Der Geier
von seinen Flugversuchen an der Kette gänzlich
auf das Wagenrad geflochten, hackte nach
dem Himmel. Die Wolken sanfte, gewaltige
Tiere in dem schwarzen Blau, das in den Hof fiel.“

Wolkenbruch und Blitzschlag.

TOBIAS einziger Zuschauer des Dramas, nimmt sein BMX-Rad auf und radelt ab in Szene 14.

»Mit der Faust in die Welt schlagen« könnt ihr noch bis zum 19. Mai 2020 im Großen Haus sehen.