Jäger mit der Kamera

Jochen Quast ist mit Leib und Seele Theaterfotograf

von Silke Zschäckel

Foto: Verena Bauer

Oft ist ein Inszenierungsfoto das erste, was Menschen außerhalb des Theaters von einem Stück sehen − in einer Zeitung, auf einem Plakat oder im Internet. Das Bild vermittelt einen wichtigen Eindruck und entscheidet nicht selten darüber, ob das Interesse an einer Inszenierung geweckt wird. Jochen Quast, seit 23 Jahren Theaterfotograf, ist sich dieser Verantwortung sehr bewusst, blendet sie aber während der Arbeit aus. Denn in den rund drei Stunden, in denen er die Probe einer neuen Inszenierung fotografiert, taucht er tief in das Geschehen auf der Bühne ein und versucht vorauszuahnen, wann und wo sich ein gutes Fotomotiv ergibt, um im richtigen Moment an der besten Position zu stehen. Es fühlt sich ein bisschen an, wie auf der Jagd zu sein. Er agiert lautlos und macht sich fast unsichtbar, um die Künstler auf der Bühne und am Regiepult nicht zu stören, und drückt im richtigen Moment auf den Auslöser. Die körperliche Anspannung und die Konzentration sind in dieser Zeit auf höchstem Level, erzählt er.

Von seinem Wohnort, einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide, reist Jochen Quast durch die ganze Bundesrepublik an die unterschiedlichsten Theater zwischen Lübeck und München. Viele Staatstheater und große Opernhäuser gehören zu seinen Auftraggebern und seit 2018 auch regelmäßig das Theater Heilbronn. Zum Theater kam der gelernte Werbefotograf 2001 eher durch Zufall. Am Festspielhaus Bayreuth war ein Hausfotograf ausgefallen und die zweite Fotografin im Haus, die er aus seinem Werbestudio in Hamburg kannte, sprach ihn an, ob er sie unterstützen würde. Die Bayreuther Festspiele! Wie reizvoll! Aber auch: Wie respekteinflößend! Erst recht, wenn man nicht aus dem Metier kommt. Jochen Quast hat sich Peter Emmerich, dem damaligen langjährigen Kommunikationschef der Festspiele, vorgestellt und gar nicht erst versucht, ihm etwas vorzugaukeln. »Ich bin kein Theaterfotograf«, bekannte er offen. Peter Emmerich habe schallend gelacht und geantwortet: »Gott sei Dank!« Damit bekam Jochen Quast seine Chance.

Am Anfang habe er erst einmal alle Fehler gemacht, die möglich waren, erinnert er sich. Die ersten Fotos zeigten überbelichtete Gesichter auf dunkelschwarzer Bühne, beschreibt er lachend. Aber da man als Hausfotograf nicht nur eine Chance hat, sondern in mehreren Proben dabei sein darf, konnte er korrigieren und lernen. Natürlich hatte er auch einen Heidenrespekt vor den namhaften Sängerinnen und Sängern und den anderen bedeutenden Künstlern, die dort arbeiteten, auch vor den riesigen Ausmaßen der Bühne. Sechs Wochen war er 2001 dort beschäftigt und fotografierte auf der Bühne und hinter den Kulissen. Von da an verbrachte er sieben Jahre lang einige Sommerwochen bei den Bayreuther Festspielen. »Ich habe mich selber in die Lehre genommen und mir alles beigebracht, was für die Theaterfotografie wichtig ist.« Von Bayreuth aus ging es weiter von Theater zu Theater, denn eine Empfehlung folgte der nächsten.

Der große Unterschied zu seinem vorherigen Metier, der Werbefotografie, besteht darin, dass er die Szenen nicht selbst arrangiert und ablichtet, sondern dass er am Theater als Beobachter agiert und das dokumentiert, was sich auf der Bühne abspielt. »Die Kunst besteht darin, im richtigen Moment parat zu sein, denn man kann bei einer Probe die Situation nicht wiederholen.« Inzwischen hat er gefühlt 1000 Inszenierungen fotografiert und kann sich gut auf seine Intuition verlassen.

Nach den rund drei Stunden Fotoprobe ist übrigens erst die Hälfte der Arbeit getan. Danach wählt Jochen Quast aus den bis zu 1500 Bildern die besten 200 aus und bearbeitet sie. Das sind noch einmal drei bis vier Stunden Arbeit – meistens mitten in der Nacht, da die Proben fast immer abends stattfinden. Er schickt dann zwei Ordner an die Theater, einen mit den besten Fotos aus allen Szenen und einen mit seinen ganz persönlichen Favoriten. »Für mich ist es immer interessant, welche Bilder dann von den Theatern für die Presse, Plakate oder die Homepage ausgesucht werden.« Die Schlafenszeit nach so einer Fotonacht ist kurz, denn häufig geht er schon am nächsten Morgen auf Reisen ins nächste Theater.

Jochen Quast fotografiert Schauspiel, Tanz und Oper. Jede Form der darstellenden Kunst hat ihre speziellen Herausforderungen. Aber eine seiner liebsten Tätigkeiten am Theater ist die fotografische Gestaltung der Spielzeitbücher und die Erstellung der Schauspielerporträts, auch hier ist er schon seit einigen Jahren für das Theater Heilbronn aktiv. Als eine seiner besten Kampagnen empfindet er übrigens die im aktuellen Spielzeitbuch des Theaters Heilbronn, die er zusammen mit Ausstatter Toto realisiert hat. Die expressiven schwarz-weißen Schauspielerporträts auf gelbem Grund, die auch überall in der Stadt auf Plakatwänden präsent waren, haben sehr viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Kann man mit Fotos mehr erreichen?

Die Vertreibung aus dem Paradies?

Axel Vornam inszeniert Anton Tschechows letztes Stück »Der Krischgarten« im Großen Haus

von Dr. Mirjam Meuser

Foto: Verena Bauer

Am 17. Januar 1904, vor genau 120 Jahren also, an Anton Pawlowitsch Tschechows 44. Geburtstag, wurde seine Komödie »Der Kirschgarten« am Moskauer Künstlertheater uraufgeführt. Es blieb sein letztes Theaterstück. Am 2. Juli desselben Jahres starb der russische Schriftsteller, schwer von der Tuberkulose gezeichnet, in Badenweiler bei Freiburg. Der Kuraufenthalt im Badischen, bei dem er sich von den Strapazen der vergangenen Jahre erholen wollte, in denen er oft gegen ärztlichen Rat zwischen der Krim und Moskau hin und her gereist war, kam zu für ihn zu spät. »Der Kirschgarten« war die letzte große literarische Anstrengung seines kurzen Lebens – eine hellsichtige Bestandsaufnahme seiner Gegenwart als einer Zeit des Umbruches, die so verzweifelte wie komische Abwehrreaktionen provozierte. Zur Ironie des Schicksals gehört es somit auch, dass am Tag des Ausbruchs der Oktoberrevolution im Moskauer Künstlertheater »Der Kirschgarten« gespielt wurde.

Das Stück zeigt eine Gesellschaft, die sich der neuen Zeit so lange und mit so viel tragikomischem Aufwand verweigert, dass sie letztlich von ihr überrollt wird. Es spielt um 1900 in Russland auf dem Gut von Ljubow Andrejewna Ranjewskaja (Sabine Fürst), die sich vor fünf Jahren nach dem tödlichen Unfall ihres jüngsten Sohnes nach Paris geflüchtet hat. Inzwischen ist das unrentable Anwesen, das derweil von ihrer Adoptivtochter Warja (Juliane Schwabe) verwaltet wurde, hoch verschuldet und soll binnen Kurzem versteigert werden. Daher holt Anja (Romy Klötzel), die jüngere Tochter der Ranjewskaja, ihre Mutter aus Paris zurück, in der Hoffnung, sie könnte das Gut retten. Doch die Mutter hat ihr Vermögen mit ihrem Liebhaber in Paris durchgebracht, sie kann nicht helfen. Statt zu sparen und Geld aufzutreiben, wirft sie auch noch mit den letzten Rubeln um sich, als gäbe es kein Morgen. Den dringenden Rat des Geschäftsmannes Jermolai Alexejewitsch Lopachin (Sven-Marcel Voss), Sohn eines ehemals leibeigenen Bauern, den gerade in voller Blütenpracht stehenden Kirschgarten abzuholzen und gewinnbringend für den Bau von Sommerhäusern zu verpachten, tut sie als geschmacklos ab. Undenkbar, dass der verlässlich in jedem Frühjahr blühende Kirschgarten, für sie ein Symbol von Heimat und Beständigkeit und Kristallisationsort ihrer sentimentalen Erinnerung an eine sorglose Kindheit, einem ›Nützlichkeitsdenken‹ geopfert werden könnte. In einer komischen Mischung aus infantiler Realitätsverweigerung und angstvoller Schicksalsverfallenheit tut sie folglich nichts, um ihren Besitz zu retten. Als schließlich der geschäftstüchtige Lopachin selbst den Kirschgarten ersteigert und die Axt ansetzt, bricht ihre Welt zusammen. Der neue, durchrationalisierte und –kapitalisierte Typus Mensch ist ihr im Innersten fremd – so wie der gesamten untergehenden alten Gesellschaft, die Tschechow uns in all ihren tragikomischen Facetten vorführt. Denn selbst da, wo sie sich mit der neue Zeit auseinandersetzen, gerät diese Beschäftigung zur reinen Schwärmerei.

Tschechows letztes Theaterstück, das zu den meistgespielten Dramen der Weltliteratur gehört, wirkt, von heute aus betrachtet, wie der Seismograph einer Umbruchszeit, nicht unähnlich der unseren. Wo alte Gewissheiten nicht mehr gelten und Unsicherheit zur alltäglichen Erfahrung wird, sind melancholisch-rückwärtsgewandte Realitätsverleugnung, nostalgische Verklärung einer vermeintlich paradiesischen Vergangenheit und schwärmerische Heilserwartungen an die Zukunft wiederkehrende Phänomene. Das verzweifelte Festhalten an der ›alten Welt‹ wirkt letztlich wie ein Katalysator, der die selbstzerstörerischen Prozesse beschleunigt. In seiner Inszenierung für das Große Haus holt Axel Vornam das Tschechow-Universum in die Gegenwart. Er stellt die Figuren in einen zeitlosen Spiel-Raum (Bühne: Tom Musch), in dem sie sich unablässig und selbstverliebt um sich selber drehen – getrieben von der hilflosen Verweigerung, sich der neuen, sich rasant verändernden Welt zu stellen. Das Alte vergeht, so oder so, aber wie soll das Neue Gestalt annehmen?

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Tausche Luxusapartment gegen Plattenbauwohnung

Ein wahnwitziges Täuschungsmanöver sorgt in Ivan Calbéracs Komödienhit »Jugendliebe« für allerhand unterhaltsame Turbulenzen

von Sophie Püschel

Foto: Jochen Quast

Nach dem großen Erfolg von Ivan Calbéracs preisgekröntem Stück »Weinprobe für Anfänger«, das 2022 mit Nils Brück in der Hauptrolle das Heilbronner Publikum begeisterte, folgt nun seine neueste Komödie »Jugendliebe«. Diesmal steht Nils Brück jedoch nicht als Schauspieler auf, sondern als Regisseur vor der Bühne.

Der erfolgsverwöhnte Antoine (Arlen Konietz) hat alles, was man sich nur wünschen kann, ein florierendes Unternehmen, das ihm enorm viel Geld einbringt, und eine attraktive Freundin, die weiß, was sie will: ein Schloss in der Dordogne! Das Leben könnte kaum schöner sein, da erscheint sein Anwalt Rougeron (Pablo Guaneme Pinilla) mit einem ominösen Brief. Darin teilt Antoines Jugendliebe Maryse (Sarah Finkel) ihm mit, dass sie ihre Arbeit als Krankenschwester für Ärzte ohne Grenzen in Malawi unterbrochen habe, um sich mit ihm in Paris zu treffen. Der Grund ihrer Reise ist, dass sie nach 20 Jahren die Scheidung einreichen möchte. Antoine fällt aus allen Wolken, denn er war sich nicht bewusst, dass ihre Spontanhochzeit in einem Aschram Rechtsgültigkeit besitzt. Als ihn sein Anwalt darauf aufmerksam macht, dass Maryse nach französischem Recht bei einer Scheidung die Hälfte seines Vermögens zusteht, läuten bei Antoine alle Alarmglocken. Es braucht schnell eine Lösung, denn Maryse darf auf gar keinen Fall sein luxuriöses Apartment in bester Pariser Innenstadtlage betreten. Da kommt ihm seine renitente Haushaltshilfe Chuang-Mu (Regina Speiseder) gerade recht, die sich neuerdings jeden Handgriff zusätzlich bezahlen lässt, nachdem sie gelesen hat, dass Antoine 637-mal mehr verdient als sie. Kurzerhand schickt er Chuang-Mu in den bezahlten Urlaub nach Marokko, um währenddessen heimlich ihre Plattenbauwohnung in einem Brennpunktviertel zu beziehen. Antoines Freundin Diane (Judith Lilly Raab), die aus einer alten französischen Adelsfamilie stammt und ein Leben im Luxus gewöhnt ist, lässt sich nur widerwillig zu dieser Maskerade überreden. Denn neben der Wohnung gilt es natürlich auch, Lebensstil, Kleidung und Sprache des vermeintlichen Prekariats zu kopieren. Ein wahnwitziges Spektakel nimmt seinen Lauf! Die Täuschung scheint perfekt, würde sich die Weltverbesserin Maryse nicht hartnäckig dazu bemüßigt fühlen, ihrem alten Freund den Weg aus der Arbeitslosigkeit zu ebnen. Zu allem Überfluss kehrt auch noch Chuang-Mu zu früh aus dem Urlaub zurück und lässt sich nun nicht mehr so einfach herumschubsen. Ergänzt wird dieses heitere Verwirrspiel von einer Reihe live vom Ensemble gesungener französischer Lieder und Chansons, die der Musiker und Komponist Johannes Mittl eigens für die Heilbronner Inszenierung einrichtet.

In seiner turbulenten Komödie »Jugendliebe« lässt Ivan Calbérac charmant-verschrobene Figuren aus ganz unterschiedlichen Welten aufeinanderprallen: Die High-Society-Lady Diane, die ihre innere Leere mit rauschhaftem Shopping kompensiert, trifft auf die Hippie-Krankenschwester Maryse, die ihre persönliche Berufung in der humanitären Hilfe in Afrika gefunden hat, während die aufmüpfige Hausangestellte Chung-Mu selbstbewusst auch ein Stück vom Kuchen fordert und die Ungerechtigkeit der Vermögensverteilung anprangert. Indessen zieht Antoine alle Register, um seine Komfortzone nicht verlassen zu müssen, denn seine hehren, kapitalismuskritischen Ideale der Studentenzeit sind längst von seinem hart erarbeiteten Reichtum korrumpiert. Trotz des lustvollen Spiels mit Klischees und Stereotypen gelingt es Calbérac die tiefsitzende und sehnsuchtsvolle Frage spürbar zu machen, die alle Figuren umtreibt: Was ist wirklich wichtig im Leben?

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Genie und Wahnsinn – Das ungewöhnliche Leben der Camille Claudel

Ein biografischer Abend von Regina Speiseder und Katrin Aissen

von Katrin Aissen

Kompromisslose Künstlerin, leidenschaftlich Liebende, begnadete Bildhauerin, von ihrer Zeit verkanntes Genie und am Lebensende an ihren inneren und äußeren Dämonen Zerbrechende: Camille Claudel führte nicht nur ein Leben wie in einem Roman – ihr unabhängiger Geist, ihr wildes Temperament und ihr bedingungsloser Schaffensdrang ließen sie auch immer wieder gegen die gesellschaftlichen Begrenzungen ihrer Zeit anrennen, die Frauen eher die Rolle der Muse, denn des Genies zubilligten.

Die Inszenierung beleuchtet schlaglichtartig wichtige Lebensstationen der innovativen Künstlerin: Ihre Kindheit in der französischen Provinz, in der wilden Landschaft des Tardenois, die sie prägt und wo sie schon früh anfängt, aus dem heimischen Lehm Skulpturen zu formen. Ihre Seelenfreundschaft zu ihrem Bruder Paul Claudel und ihre gemeinsame Auflehnung gegen die konservative Mutter, die der Tochter die Wildheit und dem Sohn den Hang zur Träumerei vorwirft. Ihre Zeit an der Akademie Colarossi in Paris, in der sie auch den Bildhauer Auguste Rodin kennenlernt, dem sie Schülerin, Muse, Geliebte und Arbeitspartnerin wird. Rodins Liebschaften zu anderen Schülerinnen und Modellen und besonders seine langjährige Beziehung zu Rose Beuret sowie ihr Wunsch, sich als eigenständige Künstlerin zu etablieren, treiben Camille Claudel zum Bruch mit ihrem Geliebten. Es folgt eine künstlerisch produktive Phase, die aber geprägt ist von Geldsorgen und dem Kampf, als Frau im etablierten Kunstbetrieb bestehen zu können. Besonders der fortwährende Verweis der Kunstkritik auf Rodin als Lehrer, Mentor und prägender Einfluss machen Camille Claudel zu schaffen und verhindern einen vorurteilsfreien Blick auf die Genialität ihrer Bildhauerei. Kompromisslos und voll Schöpferkraft bricht sie gesellschaftliche Tabus, etwa wenn sie sich gegen den antiquierten Geschmack von Ausstellungsbesuchern und Behörden zur Wehr setzt, die die Nacktheit ihrer Figuren als anstößig geißeln und ihr die Befähigung, Kunst zu schaffen, absprechen.

Eine außergewöhnliche Beziehung verbindet sie auch mit dem Komponisten Claude Debussy, deren besonderer Charakter bis heute nicht geklärt ist: War es eine rein platonische Freundschaft oder mehr? Wachsende Armut, der verzweifelte Kampf um Anerkennung und ein zunehmend zurückgezogenes Leben führen zur Vereinsamung und Nervenzerrüttung Camilles. Ihre künstlerischen und persönlichen
Abgrenzungsversuche zu Rodin und ihr Kampf mit der öffentlichen Meinung werden zunehmend radikaler. Sie steigert sich in einen Verfolgungswahn hinein und ihr Hang zur Destruktivität kulminiert in der Zerstörung ihrer eigenen Werke.

Gegen ihren Willen wird sie von ihrer Mutter und ihrem Bruder – der sie auf diese Weise trotz ihres innigen Verhältnisses verrät – in eine Nervenheilanstalt eingewiesen. Dort verbringt sie die letzten 30 Jahre ihres Lebens, nur sehr selten besucht von ihrem Bruder – und kein einziges Mal von ihrer Mutter.

Rückblickend, nach über zwanzig Jahren in verschiedenen Nervenheilanstalten, beschreibt Camille Claudel ihr Leben als einen »Roman, gar ein Epos, Ilias und Odyssee. Um es zu erzählen, bedarf es wirklich eines Homer. Ich bin in den Abgrund gestürzt. Ich lebe in einer so merkwürdigen, so befremdenden Welt. Vom Traum, der mein Leben war, ist dies der Alptraum.«

In assoziativen Bildern und mit emotionalen Liedern – zwischen Traum und Wirklichkeit – führt die Inszenierung in den Kosmos Camille Claudels. In einer eigenen Fassung – angeregt von Briefen Camille Claudels – bringen Regina Speiseder und Katrin Aissen diese spannende Frauenfigur auf die Bühne des Salon3 – unterstützt von Manuel Heuser am Piano.

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»Hasch mich, ich bin der Mörder«

Mit »Der Pavillon« kommt im Komödienhaus die Stückvorlage des französischen Kultfilms auf die Bühne

von Dr. Mirjam Meuser

Gabriel Kemmether, Nils Brück; Foto: Verena Bauer

Elliott Nash (Nils Brück) ist ein erfolgreicher New Yorker Drehbuchautor. Seine Spezialität sind Kriminalfilme und Thriller, mit den Großen des Genres wie Alfred Hitchcock verkehrt er auf Du und Du. Um Inspiration zu finden und die Handlung seiner Drehbücher möglichst lebensecht zu gestalten, stellt er gerne die entscheidenden Passagen des Plots probeweise nach. Glücklicherweise hat er dafür in seinem Nachbarn, dem Staatsanwalt Harlow Edison (Tobias D. Weber), den besten Partner gefunden, den man sich vorstellen kann. Zu Beginn des Stücks üben die beiden gerade den perfekten Mord – und so unbeholfen, wie Elliott sich dabei anstellt, würde Harlow nie auf die Idee kommen, dass der Krimiautor tatsächlich für den Ernstfall probt.

Elliott hat nämlich ein Problem: Er wird seit einiger Zeit erpresst. Und zu allem Überfluss droht der Erpresser nicht ihm selbst zu schaden, sondern seiner über alles geliebten Frau Nell (Judith Lilly Raab), einer berühmten Schauspielerin. Harry Shelby, ehemals Pfleger eines Sanatoriums für drogenabhängige Prominente, hat bei seiner Kündigung die Krankenakten einiger Patienten mitgehen lassen, denen er nun droht, die Unterlagen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, sollten sie seinen Forderungen nicht nachkommen. Unter diesen Patientenakten findet sich auch die von Elliotts Frau Nell, die offenbar in ihrer Vergangenheit eine schwierige Phase hatte. Elliott, der fürchtet, dass diese Enthüllung der Karriere seiner Frau schaden könnte – und der niemals zulassen würde, dass Nell in irgendeiner Weise verletzt wird –, befindet sich in der Zwickmühle. Die Gefahr, dass Nells Geschichte publik wird, wenn er zur Polizei geht, ist zu groß. Sollte er aber den Forderungen des Erpressers nachgeben, wird er auch vor weiteren Erpressungsversuchen nicht gefeit sein. Hinzu kommt, dass die Nashs sich gerade erst ein schickes Haus auf Long Island gekauft haben und seither in chronischer Geldnot leben. Sprich, Elliott fehlen schlichtweg die Mittel, um den Erpresser zufriedenzustellen. Was also liegt näher, als den Verbrecher um die Ecke zu bringen? Und es wäre doch gelacht, wenn es dem Krimiautor angesichts seiner langjährigen Erfahrung mit Mord und Totschlag nicht gelingen würde, den Erpresser spurlos zu beseitigen! Zum Glück hat seine Frau gerade das Fundament für den neuen Gartenpavillon – ein völlig überteuertes Schmuckstück aus dem 18. Jahrhundert – gießen lassen …

Dass ordentlich Chaos wartet, wo ein Schreibtischtäter sich erstmals an einem echten Mord versucht, ist bei Alec Coppel Programm. Der australische Drehbuchautor, Schriftsteller und Dramatiker, Spezialist für Krimikomödien und Mystery-Thriller, der zu Lebzeiten zu den versiertesten Autoren seines Fachs gehörte und neben Alfred Hitchcock auch mit Alex Corda, James Stewart und Aldous Huxley zusammenarbeitete, hat dem Protagonisten seines größten Bühnenerfolgs selbstironisch auch einige autobiografische Züge verliehen. Die Uraufführung 1958 am New Yorker Broadway mit Walter Slezak und Jayne Meadows in den Hauptrollen kam in anderthalb Jahren auf 266 Vorstellungen, am Londoner West End zwei Jahre später war »Der Pavillon« in ganzen 479 Aufführungen zu sehen. Auch die erste Verfilmung des Stoffs erfolgte bereits 1959 unter dem Originaltitel »The Gazebo« (dt. »Die Nervensäge«) mit Glenn Ford und Debbie Reynolds in den Hauptrollen. Kultstatus allerdings genießt die französische Verfilmung von 1971 mit Louis de Funès, Claude Gensac und Bernhard Blier in den Hauptrollen, die in Deutschland unter dem Titel »Hasch mich, ich bin der Mörder« bekannt wurde.

Regisseur Jens Kerbel, der das zugrunde liegende Bühnenstück jetzt in liebevoll nachempfundenem 60er-Jahre-Schick (Bühne: Gesine Kuhn) im Komödienhaus inszeniert, bezeichnet den französischen Komödienklassiker als einen seiner Lieblingsfilme. Ob wir uns ab März also auch auf den berühmten Dialog »Nein!« – »Doch!« – »Ohhh!« freuen dürfen, wird aber noch nicht verraten.

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Von der Suche nach einem Rezept für Reichtum und Glück

Kai Tietje und Thomas Winter haben die legendäre Kabarett-Revue »Wie werde ich reich und glücklich?« aus dem Jahr 1930 für Heilbronn wiederentdeckt

von Sophie Püschel

Lennart Olafsson, Eve Rades; Foto: Rebekka Gogl

Wer wäre nicht gern reich und glücklich? Das denkt sich auch der mittellose Kibis, der im Zentrum von Felix Joachimsons und Mischa Spolianskys Kabarett-Revue »Wie werde ich reich und glücklich?« steht, die 1930 zum Publikumsschlager avancierte und ein Jahr später fürs Kino verfilmt wurde. Denn neben einer turbulent-heiteren Geschichte mit allerhand unerwarteten Wendungen und einem Reigen an liebenswert-skurrilen Figuren, bietet die Revue auch Lieder mit Ohrwurmgarantie, die der musikalische Leiter Kai Tietje eigens für die Heilbronner Inszenierung arrangiert hat. Neben dem siebenköpfigen Ensemble werden insgesamt 13 Musikerinnen und Musiker das Publikum in die (musikalische) Welt der späten 20er-Jahre entführen. Für das optische Flair sorgt der Bühnen- und Kostümbildner Toto mit aufwendigen Kostümen im Stil der Zeit sowie einer verblüffenden Bühnenlösung, die den Blick freigibt auf das schwindelerregende Berliner Großstadt-Labyrinth.

Berlin 1930: Der arbeitslose Kibis (Lennart Olafsson) lebt auf Pump und schlägt sich mehr schlecht als recht durchs Leben. Gerade als ihm sein Vermieter wegen Zahlungsversäumnissen mit der fristlosen Kündigung droht, erreicht ihn der Ratgeber von Dr. C. M. Pausback mit dem verheißungsvollen Titel »Wie werde ich reich und glücklich?«, der die Lösung all seiner Probleme in nur wenigen Schritten verspricht. Auch im Briefkasten der wohlhabenden Marie (Eve Rades) landet der besagte Ratgeber, den sie aufmerksam studiert. Während sich Kibis nichts dringlicher wünscht, als mit Hilfe der Pausback’schen Leitsätze dem sozialen Elend zu entfliehen und endlich frei von finanziellen Sorgen zu sein, sehnt sich die vom Luxus gelangweilte Marie nach dem Glück. Im unbekümmerten Leben der jungen Frau dreht sich alles um Mode, Beauty und Lifestyle. Doch sie spürt, da muss es noch mehr geben! Die akribische Befolgung der Leitsätze führt Kibis und Marie schließlich zusammen. Beide erkennen, dass sie einander für den erfolgreichen Abschluss des Ratgeber-Kurses benötigen, weshalb sie Hals über Kopf heiraten. Kibis ist reich und Marie ist glücklich, oder? Anders als man erwarten könnte, endet die Handlung an dieser Stelle nicht, sondern nimmt erst richtig an Fahrt auf. Oder um ein Lied der Revue beim Wort zu nehmen: »Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt … «
Denn Maries Vater, der pragmatische Automobil-Warenhaus-Besitzer Regen (Stefan Eichberg), hat in dieser Geschichte ebenso ein Wörtchen mitzureden wie auch Kibis’ patente Jugendfreundin Lis (Sarah Finkel) und Regens dauergestresster Branchenfreund F. D. Lohrenz (Arlen Konietz). Durch die turbulentüberraschende Handlung führen in der Inszenierung von Thomas Winter die beiden Conférenciers Oliver Firit und Juliane Schwabe, die an diesem Abend in insgesamt 14 Rollen
schlüpfen werden.

Mitten in der Weltwirtschaftskrise, die die Weimarer Republik im Mark erschütterte, treiben Felix Joachimson und Mischa Spoliansky mit ihrer Kabarett-Revue das Credo, dass jeder selbst seines Glückes Schmied und sozialer Aufstieg für jeden möglich ist, satirisch auf die Spitze. Ihr augenzwinkerndes Rezept für Reichtum und Glück ist ganz im Sinne der modernen Konsumgesellschaft nicht in der Bibel, sondern in einer Reklamebroschüre zu finden. Gerade in Zeiten wirtschaftlicher und politischer Krisen erfreut sich die Ratgeber-Literatur, die einfache Antworten auf komplexe Fragen bietet, besonderer Beliebtheit – damals wie heute.

Ob die Leitsätze von Dr. Pausback tatsächlich zu Reichtum und Glück verhelfen, erfahren Sie ab dem 9. März 2024 im Großen Haus.

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Warum es sich zu leben lohnt!

Nicole Buhr inszeniert das preisgekrönte Jugendstück »Und alles« von Gwendoline Soublin für Jugendliche ab 12 Jahren

von Katrin Aissen

Foto: Verena Bauer

Eine Welt voller schlechter Nachrichten – der zwölfjährige Ehsan ist News-Junkie. Täglich zieht er sich sämtliche Zeitungs-, Fernseh- und Internetnachrichten rein und langsam hat er es satt: Die Polkappen schmelzen, Kriege überall, Bomben, Attentate, eine zunehmende Vereinsamung großer Bevölkerungsschichten, drohender Klimakollaps und die Superreichen feiern Partys auf ihren Yachten – einfach nur »Trash oder Tragödie«. Und niemand scheint wirklich etwas dagegen unternehmen zu wollen.
Allein mit seinen Gedanken verlässt Ehsan kaum noch sein Zimmer.

Doch eines Tages ist er plötzlich weg. Er hat einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem er schreibt, er wolle nicht in einer hoffnungslosen Welt leben. Seine achtjährige Schwester Chalipa und die 13-jährige Sam, die eigentlich ein bisschen auf die beiden aufpassen soll, solange der Vater verreist ist, sind entsetzt. Ratlos überlegen sie, wohin Ehsan verschwunden sein könnte – bis der kleine Nachbarsjunge Nelson auftaucht und auf die Luke des Bunkers deutet, den Chalipas und Ehsans Vater im Garten angelegt hat. Oh je, wahrscheinlich hat sich Ehsan in den Bunker zurückgezogen! Und der ist, wenn der Eingang zu ist, nur von innen zu öffnen. Was ist zu tun? Ist Ehsan wirklich da unten?

Chalipa versucht anhand von Ehsans Tagebuch zu rekonstruieren, was passiert ist, und Sam ruft ihren Freund Salvador zur Hilfe. »Ihr müsst die Polizei rufen!«, fordert Salvador aufgeregt, doch Sam hat Angst als Babysitterin zur Verantwortung gezogen zu werden. Auch eine Benachrichtigung des Vaters von Chalipa und Ehsan kommt für Sam aus diesem Grund nicht in Frage. Also was nun? Als gebrüllte
Drohungen nichts helfen: »Wenn du nicht rauskommst, dann kommt die Feuerwehr und bohrt deine Panzerwand auf, und dann stehst du blöd da – wie eine Maus, die in ihrem eigenen Loch in der Falle hockt!«, braucht es eine neue Strategie. Alle versuchen, sich in Ehsan hineinzudenken. Was hat ihn
bewogen, zu verschwinden? Sind es wirklich die trüben Zukunftsprognosen, oder hat sich Ehsan vielleicht in den Bunker zurückgezogen, um sein Wissen für eine erfolgreiche YouTube-Karriere zu nutzen? Eher unwahrscheinlich. Dann schon eher der miserable Zustand der Welt … Doch ist die Zukunft wirklich so düster? Und schon sind die vier mitten in einer intensiven Diskussion über ihre Ängste, Wünsche und ihre Sicht auf die Menschheit. Da haben Sam und Salvador plötzlich eine raffinierte Idee, um Ehsan aus dem Bunker zu locken. Sie rufen vor der Eingangsluke kleine positive Nachrichten: »Im Frühjahr kommt das neue Album von Shakira heraus!«, »Morgen werden es 22 Grad!« und entwickeln ganz eigene Zukunftsutopien: »Krebs haben wird sein, wie wenn man jetzt sagt: Ich hab Schnupfen!«, »Irgendwann lassen wir uns Flügel annähen, um aus der Krise herauszukommen und dann machen wir eine Reise auf die Bahamas!« Und jeder erzählt aus seiner persönlichen Sicht, warum es sich zu leben lohnt. Doch Ehsan bleibt verschwunden, denn er hat längst andere Pläne und nimmt das Heft des Handelns selbst in die Hand …

Gwendoline Soublin hat ein wunderbar leichtfüßiges wie existenzielles Stück über die Sicht von Kindern und Jugendlichen auf unsere heutige Welt geschrieben. Konsequent aus der Sicht der jungen Protagonisten verfasst, mit geschliffenen Dialogen und einer gehörigen Portion Optimismus macht das
Stück Mut zum eigenen Engagement – unabhängig von Alter und Lebensumständen.

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»Gott wartet an der Haltestelle« – ein Interview mit Maya Arad Yasur

Interview und Übersetzung von Dr. Mirjam Meuser
Tel Aviv, 08. Januar 2024

Foto © Candy Welz

Wann ist »Gott wartet an der Haltestelle« entstanden?

Ich habe »Gott wartet an der Haltestelle« 2013/14 geschrieben, direkt nach meiner Rückkehr aus den Niederlanden, wo ich sieben Jahre gelebt hatte. Die Premiere der Uraufführung fand 2014 am Habima Theater Tel Aviv statt, dem israelischen Nationaltheater – direkt nach dem Gaza-Krieg von 2014.

Hast Du das Stück mit einer bestimmten Intention geschrieben?

Es war ein Auftragswerk. Das Habima Theater war damals Mitglied der Union des Théâtres de l’Europe (UTE), die ein Projekt zum Thema »Terrorisms« initiiert hatte, an dem sich alle sechs Mitgliedstheater weltweit beteiligten: das Habima in Tel Aviv, ein Theater aus Reims in Frankreich, das National Theatre in Oslo, ein Theater aus Belgrad. Zu Beginn war sogar ein Theater aus Palästina Teil des Projekts, doch nach Druck aus dem BDS-Umfeld zog sich der Autor dort von dem Projekt zurück. Die Ausschreibung war offen und wir waren sehr frei in unserer Herangehensweise. So beschloss ich, über die zweite Intifada (2000–2005) zu schreiben, die 2002 einen Höhepunkt erreichte. Ich war damals Studentin in Jerusalem, wo etwa dreimal wöchentlich Bomben in Bussen und Restaurants explodierten. Ich lebte im Stadtzentrum und hörte all die Detonationen der großen Anschläge und die Sirenen der Krankenwagen. Glücklicherweise war ich selbst nie betroffen, aber die Angst davor war sehr groß. Ich nahm niemals den Bus, stattdessen fuhren wir im Taxi zur Universität. Wir waren in unseren Zwanzigern, und natürlich gingen wir in Cafés und Bars – allerdings immer verbunden mit dem Risiko, nicht mehr nach Hause zu kommen. Als ich also den Auftrag bekam, über »Terrorismus« zu schreiben, wusste ich, dass ich mich mit dieser Zeit befassen wollte, da ich aus persönlicher Erfahrung genau weiß, was Terrorismus bedeutet. Ich denke, dass nicht nur die direkten Opfer, die bei einem Anschlag ums Leben kommen, oder deren Familien Opfer des Terrorismus sind, sondern dass es eine Art kollektives Opfertum gibt, weil es der Sinn des Terrorismus ist, dass die Menschen in Furcht davor leben, was passieren könnte. Das ist zwar nicht das Hauptthema des Stücks, aber es ist das, wofür der Chor in »Gott wartet an der Haltestelle« steht.

Gab es ein bestimmtes Ereignis, das Dich auf Thema und Struktur des Textes gebracht hat?

Es gab 2003 in Haifa einen ganz bestimmten terroristischen Anschlag in einem Restaurant mit Namen »Maxim«, auf den ich mich beziehe, auch wenn ich kein Dokumentartheaterstück über dieses Ereignis geschrieben habe. Ich habe mich stark auf dieses Attentat gestützt, obwohl ich auch zusätzliches Material von anderen Terroranschlägen verwendet habe, um einen nuancierten Blick auf alle Aspekte des Themas zu erhalten. Das Attentat in Haifa war aber der zentrale Ausgangspunkt.

Warum hast Du diese spezifische Form für den Text gewählt?

Wahrscheinlich beziehst Du Dich mit der Frage auf die Tatsache, dass wir von der ersten Szene an um die Explosion der Bombe wissen und dann in der Zeit zurückwandern, um herauszufinden, wie wir an diesen Punkt gelangt sind. Auf diese Weise wollte ich den Mechanismus von Hass, Rache and Gewalt in seine Einzelteile zerlegen. Ich wollte herausfinden, wie man diesen fatalen Kreislauf neutralisieren kann. Dafür brauchte ich zunächst die Annahme, dass die Tat geschehen ist, um danach sorgfältig alle Schichten abtragen und an jeder Abzweigung untersuchen zu können, was die Rädchen in dem Mechanismus antreibt. Wie könnte man ihn aufhalten, wer hätte eine andere Entscheidung treffen können?

Wie wurde das Stück in Israel aufgenommen?

Das Habima Theater in Israel hat das Stück sehr wohlwollend aufgenommen, sowohl das Publikum als auch die Kritiker. Es war damals nicht üblich – und ist es heute noch viel weniger –, dass sich Theaterautoren direkt mit diesem Thema auseinandersetzen. Es war die Zeit, in der die Art von Regierung, die wir heute haben, an die Macht kam. In Israel spielen wir mindestens 30 Aufführungen – das ist bei uns sehr wenig –, und diese Inszenierung wurde sehr schnell vom Spielplan genommen, nach etwa 30 Aufführungen, und das nicht, weil das Publikum nicht gekommen wäre. Das Theater war voll. Erst Jahre später, anlässlich einer Konferenz über Zensur und Theater – denn damals traute ich mich nicht zu fragen –, habe ich herausgefunden, dass das Stück aus politischen Gründen vom Spielplan genommen wurde.

Die Fabel des Stücks erinnert mich immer an eine griechische Tragödie – »Antigone« oder »Elektra« beispielsweise …

Ich bin mir nicht sicher, was Du mit »tragisch« meinst, da man sich damit auf eine ganze Reihe von Dingen beziehen kann. Aber ich würde mich auf Tragödie vielleicht im Sinne Hegels beziehen. Die Hauptfigur versucht etwas Berechtigtes zu tun und verletzt dabei ein anderes berechtigtes Gesetz oder einen Wert. In diesem Sinn, denke ich, dass jeder nationale oder religiöse Konflikt, der mit zwei Gruppen von Identitäten gleich welcher Art zu tun hat, tragisch sein muss. Denn sobald Individuen ihre nationale oder religiöse Funktion ausagieren, müssen sie etwas verletzen, das zu einer darunterliegenden Schicht gehört. Ich glaube, was ich in meinen Stücken immer zu tun versuche, ist, die Schichten der Identität abzutragen, bis ich den Kern des Menschlichen erreiche. In diesem Sinne versuche ich in allen meinen Stücken die Kräfte und Werte der Zugehörigkeit aufzusuchen, die sich gegenseitig widersprechen. Yael in »Gott wartet an der Haltestelle« beispielsweise ist ein Mensch, sie ist eine Frau und sie ist Israelin, sie besitzt also drei Schichten von Gruppenzugehörigkeit. Was sie mit Amal verbindet ist, dass beide Menschen sind und dass beide Frauen sind; was sie trennt, ist, dass Yael eine Israelin ist und Amal eine Palästinenserin. Wenn Yael am Checkpoint steht, muss sie sich also entscheiden, welche Loyalität mit Blick auf die Gruppenzugehörigkeit stärker ist. Sie entscheidet sich für das Mensch-Sein und für das Geschlecht. Dadurch fühlt sie sich mit Amal verbunden. Dann stelle ich diese Entscheidung in Frage, weil sie einen Fehler gemacht hat – und das ist das Tragische daran.

Können wir von der Tragödie heute mit Blick auf politische Konflikte etwas lernen?

Eines der größten Probleme unserer Zeit ist der binäre Diskurs. Man muss sich im Diskurs für eine Seite entscheiden und sobald man sich für eine Seite entschieden hat, hat man sich für eine ganze Reihe weiterer Meinungen mitentschieden, da man nun einer bestimmten ideologischen Gruppe angehört. Das Ergebnis ist ein sehr flacher Diskurs. Und dann passiert, was wir gerade gesehen haben, nämlich dass die Leute einfach »From the River to the Sea« schreien, ohne zu wissen, welchen Fluss und welches Meer sie meinen und welche Konsequenzen ihre Forderung haben würde. Und dass diese Konsequenzen eigentlich ihren humanistischen Werten, den Menschenrechten widersprechen. So wird gegen das eine Töten mit dem Ruf nach einem anderen Töten protestiert, ohne dass sich die Menschen dessen bewusst sind. Es scheint fast, als wären die Menschen nicht mehr im Besitz ihrer eigenen Meinung. Vielleicht sind das nicht die aktuellen politischen Konflikte, nach denen Du gefragt hast, sondern eher die sozialen Herausforderungen, denen wir aktuell gegenüberstehen. Die Oberflächlichkeit des Diskurses ist eine sehr ernste Herausforderung für das Theater und die Kunst im Allgemeinen. Aber besonders das Theater kann diese Minenfelder analysieren und in ihre Einzelteile zerlegen. Es könnte unsere Rolle in der Öffentlichkeit sein, auf die Nuancen, die Ambivalenzen der Konflikte hinzuweisen, und das Erreichen größerer menschlicher Wahrheiten anzustreben.

Wie denkst Du heute über das Stück?

Du weißt ja, dass wir in der zweiten Woche nach dem Massaker vom 7. Oktober Kontakt aufgenommen haben und ich sehr traumatisiert war – wie jeder in Israel. Und dass ich damals dachte, dass es nicht möglich sei, das Stück so aufzuführen, wie es ist. Interessanterweise habt Ihr nicht gleich verstanden, warum. Und das zeigt nur, was ein Trauma mit einer Person macht: Innerlich bricht alles zusammen, das Weltbild eingeschlossen. Zunächst einmal dachte ich, dass es ein sehr schwieriger Zeitpunkt ist, das Stück aufzuführen. Zudem wäre es für mich ein großes Problem, wenn Amal vom deutschen Publikum in einen Zusammenhang mit den Terroristen gebracht würde, die das Massaker verübt haben. Ich würde heute kein Stück schreiben, das nach dem Menschlichen in der unmenschlichen Tat vom 7. Oktober sucht. Wenn ich das täte, würde ich lügen. Es ist sehr wichtig für mich, zumindest zu glauben, dass ich nach Wahrheiten suche. In diesem Fall würde es sich wie eine Lüge anfühlen, überhaupt nach einem menschlichen Aspekt bei diesen Leuten zu suchen. Inzwischen ist Zeit vergangen. Und nach dem langen Dialog, den wir geführt haben, bin ich sehr neugierig, wie wir das in der Inszenierung transparent machen können. Im Moment aber ist es für mich noch zu früh, Deine Frage zu beantworten. Dadurch, dass mehr Zeit vergangen ist und auch angesichts der furchtbar vielen Opfer im Gazastreifen – was für eine ungeheure Zahl von Menschen –, wird es drängender für mich, darüber zu sprechen. Und ich realisiere, wie wichtig es ist, wieder über den Kreislauf der Gewalt zu sprechen und darüber, wie wir ihn stoppen können.

Wann hast Du die»17 Schritte« geschrieben? Worum ging es Dir dabei?

Ich habe die »17 Schritte« etwa sieben oder zehn Tage nach dem Anschlag geschrieben – ich weiß nicht ganz genau wann, da mir das Zeitgefühl in den ersten Wochen nach dem 7. Oktober vollkommen verloren gegangen ist. Wir waren sehr an unsere Häuser und an die Kinder gebunden, mussten einige Male am Tag zum Schutzraum rennen. Es gab nicht wirklich Zeit zum Nachdenken. Das ist tatsächlich eine Frage, die mir oft gestellt wird: Wie konnte ich mich dazu bringen, mich hinzusetzen und zu schreiben? Fakt ist ja, dass ich Dir sehr schnell geschrieben habe, um zu fragen, was wir tun, weil »Gott wartet an der Haltestelle« in diesem Moment vielleicht nicht das richtige Stück sein könnte. Ich hatte das gleiche Problem mit meinem Stück »Bomb«, das hier in Israel im Juni Premiere haben sollte. Ich dachte, dass es nicht möglich wäre, im nächsten Juni hier über Bombardements aus der Luft und deren Konsequenzen zu diskutieren, weil für lange Zeit niemand etwas darüber hören wollen würde. Anhand der Tatsache, dass ich gerade nicht mehr hinter meinen alten Stücken stehe, habe ich aber auch gemerkt, dass mit mir etwas passiert ist. Wie kann ein Ereignis eine Weltsicht so dramatisch verändern? So habe ich begriffen, dass das ein Trauma ist. Und um mich meiner selbst zu erinnern, habe ich den Text geschrieben, weil ich weiß, dass meine Stücke genau danach suchen, nach dem Menschlichen, dem Humanistischen, danach, alle Menschen als Menschen zu sehen. Ich habe mich selbst gefragt: »Wie bleibst Du Humanistin nach einem Massaker?«
Meine Stücke sind meine Art mit einem Publikum zu kommunizieren. Und dann ist die Frage, wer ist das Publikum. In diesem Fall war das Publikum in erster Linie ich selbst, an zweiter Stelle die Menschen hier in Israel, die im Moment überhaupt nicht in der Lage sind, über die andere Seite nachzudenken, aber auch das westliche und insbesondere das deutsche Publikum. Zuallererst wollte ich den Menschen zu verstehen geben, dass es nicht trivial ist, dass es ein Kampf ist, dass es sehr, sehr schwer ist, menschlich zu bleiben, wenn Du in diesem Kreislauf der Gewalt steckst, und besonders, wenn du in diesem Ausmaß traumatisiert bist.

Gab es eine literarische Gattung, an die Du beim Schreiben gedacht hast?

Ich hatte gar nichts im Kopf, als ich den Text schrieb. Ich war wirklich noch nie in so einer geistigen Verfassung. Ich hatte große Angst. Wir wussten nicht, wie es weitergehen würde. Zu diesem Zeitpunkt schien es, als ob das Massaker erst der Anfang wäre, dass es wieder geschehen könnte, dass es auch in Tel Aviv wieder geschehen könnte. Meine Aufgabe war es, meine Kinder davor zu bewahren, zu viel zu wissen, und davor, psychischen Schaden von der Situation zu nehmen. Sie gingen natürlich nicht zur Schule und mir mussten viele Male am Tag zum Schutzraum rennen. Und sie waren – auch wenn ich das nicht wollte – einer ganzen Reihe von Informationen ausgesetzt, von denen Kinder nichts wissen sollten. Es war eine sehr angespannte Situation. Wir schliefen auf dem Boden bei unseren Nachbarn, weil wir keinen Schutzraum zu Hause haben. Dazu die kollektive Trauer und die Sorge um die Geiseln … Es ist fast unmöglich, das Ausmaß der Trauer, Angst und Unsicherheit zu beschreiben. In dieser geistigen Verfassung schrieb ich den Text. Ich weiß nicht mal genau, warum ich ihn geschrieben habe. Ich hatte das dringende Gefühl, ihn schreiben zu müssen. Ich habe ihn in ein paar Stunden geschrieben und später kaum überarbeitet. Er ist, was er ist. Ich finde das sehr interessant. Vielleicht ist das meine Rolle als Dramatikerin: Ich habe die Werkzeuge, Zeugnis abzulegen, nicht retrospektiv, sondern hier und jetzt, aus meiner eigenen subjektiven Erfahrung heraus, die sehr kollektiv ist. Die Identität zwischen dem Kollektiven und dem Persönlichen ist extrem. Ich erinnere mich nicht, so etwas schon einmal erlebt zu haben. Natürlich außer den Menschen, die alles direkt erfahren haben, an die ich den Ruf nach Humanität nicht richte. Nicht die Geiseln, nicht die Familien der Geiseln, nicht die Opfer, nicht die Menschen, die unmittelbar irgendetwas von dem Horror erleiden mussten. Aber als eine Nation, als Volk haben wir etwas sehr Intensives erfahren. Und ich konnte Zeugnis ablegen, ich konnte einen historischen Moment einfangen. Ich schrieb den Text – und das ist wichtig – bevor die Bodenoffensive der israelischen Armee im Gaza-Streifen begann. Zu diesem Zeitpunkt war die Zahl der Opfer im Gaza-Streifen noch gering. Doch mir war klar, dass die Reaktion in diesem Fall sehr groß sein würde, dass es keine kurze Sache, keine kleine Aktion sein würde, weil ich das Trauma sah. Ich dachte, dass ich mich selbst erinnern müsste, dass ich eine Erinnerung haben müsste, und andere ebenfalls erinnern müsste. Als ich den Text schrieb, waren die Theater in Israel noch geschlossen, und daher kam er zuerst auf die deutsche Bühne, bevor er auf der israelischen Bühne gespielt wurde. Letztlich war das eine positive Sache, weil die Menschen noch vor einem Monat nicht in der Lage gewesen wären zu hören, was ich zu sagen habe. Ich denke, dass es immer noch eine Minderheit ist und viele Menschen immer noch Schwierigkeiten haben. Aber graduell, je mehr die Distanz zu den Geschehnissen zunimmt, sind die Menschen mehr dazu in der Lage.

Ich möchte mit einem Satz über die Geiseln enden: Ich denke, solange es Geiseln gibt, Kinder, Babys, alte Menschen, junge Männer, Männer im Allgemeinen, solange es unschuldige Zivilisten in den Tunneln der Hamas gibt, werden die Menschen nicht dazu in der Lage sein, über andere Mütter irgendwo nachzudenken. Es ist nicht möglich, zum Alltag überzugehen, wenn Menschen wie Du und ich in einer solchen Situation sind und wir nicht einmal wissen, was sie durchmachen. Wir wissen nur, dass es furchtbar ist. Ich weiß, dass in anderen Ländern oft die Vorstellung herrscht, dass die Tragödie in Israel am 7. Oktober geschehen ist und dass sie nun vorüber ist. Und dass die Palästinenser in Gaza täglich eine Tragödie erleiden. Für die Israelis sind die Geiseln die Tragödie. Jeder Tag, der vergeht, ohne dass die Geiseln befreit sind, ist ein weiterer Tag des Horrors. Auch für die Menschen, die sie nicht kennen. Es ist nicht so, dass nur die Familien leiden, und alle anderen inzwischen mit ihren Leben weitermachen. Israel ist entsetzt über die Tatsache, dass Zivilisten dort sind. Ich denke, das ist sehr wichtig.

Liebe Maya, vielen Dank für unser Gespräch!

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Angeregte Plaudereien aus dem Nähkästchen

Theaterkreis des Seniorenbüros blickt einmal im Monat hinter die Kulissen des Theaters

von Silke Zschäckel

Foto © Verena Bauer

Stefan Eichberg ist ein Zugpferd. Nicht nur auf der Bühne, sondern auch, wenn es darum geht, Theaterfreunde reiferen Alters am Nachmittag ins Obere Foyer zu locken, um wieder eine neue Facette des Heilbronner Theaters näher kennenzulernen. Einmal im Monat lädt das Seniorenbüro zu einem Theaterkreis ein. Und Steffi Gal, die Leiterin des Seniorenbüros, freut sich, dass es von Veranstaltung zu Veranstaltung mehr Interessierte sind, die sich eine launige Stunde im Theater gönnen und auf unterschiedlichste Weise hinter die Kulissen blicken.

Diesmal war es also Stefan Eichberg, der sich Löcher in den Bauch fragen ließ. Zum Einstieg interviewte ihn Sophie Püschel, Schauspielleiterin und Dramaturgin, zu seiner Herkunft und Ausbildung. So erfuhren die Damen und Herren, dass der beliebte Mime nicht, wie viele andere, schon sein ganzes Leben zum Theater wollte, sondern durch Zufall auf diese Option stieß. Die Leipziger Schauspielschule »Hans Otto« hatte damals aufgerufen, sich zu bewerben. Obwohl Stefan Eichberg vorher nur ungefähr viermal im Theater war, fand er das interessant. Als er erzählte, dass er am liebsten nach dem ersten Ausbildungsjahr wieder gegangen wäre, reagierten die Zuschauer erleichtert, dass er durchgehalten hat, sonst wäre er ja nicht da, wo er jetzt ist. Im Nachhinein ist er sehr dankbar für seine gute Ausbildung in Schauspiel, Sprache und Bewegung, von der er jetzt noch jeden Tag profitiert, erzählt er. Spannend war auch sein historischer Exkurs in die Wendezeit, die er noch als Student in Leipzig erlebte. Er gehörte mit zu den Demonstranten, die am 9. Oktober 1989 – als noch alles auf der Kippe stand – in Leipzig demonstrierten. In diesem Sommer hat er sich in seiner alten Studienstadt eine Ausstellung zu diesem Thema angeschaut und erst jetzt deutlich gespürt, was er damals als junger Mann sehr gut verdrängen konnte: Die Angst, dass der Mut der demonstrierenden DDR-Bürger in eine Unterdrückung des Aufstandes mit Waffengewalt münden könnte. Er liest gerade jetzt sehr viele Bücher über jene Zeit und das schwierige Zusammenwachsen Deutschlands, erzählt er. Sein erstes Engagement führte ihn 1990 an sein Wunschtheater, das »Hans-Otto-Theater« in Potsdam. Gebannt hörten die Damen und Herren des Theaterkreises zu und fragten, wie es war, nach der Wende Theater zu spielen. »Die Säle waren leer, die Leute hatten andere Sorgen«, erinnert sich Stefan Eichberg. Aber er hatte tolle Kollegen und durfte langsam in immer größere Rollen hineinwachsen. Spannend war für ihn, die unterschiedlichen Arbeitsweisen aus Ost und West kennenzulernen, als die ersten Regisseure aus den alten Bundesländern mit ihren Teams in Potsdam arbeiteten.

Besonders wichtig war seine Potsdamer Zeit für ihn privat, erzählt er liebevoll, weil er hier seine Frau Sabine Unger kennenlernte. Zehn Jahre blieb er in Potsdam, wechselte dann für zehn Jahre ans Schleswig-Holsteinische Landestheater – gemeinsam mit seiner Frau, die zwischendurch in Thüringen engagiert war. In Schleswig-Holstein arbeitet er viel mit dem damaligen Chefregisseur Axel Vornam, der als Intendant das Paar Unger/Eichberg schließlich nach Heilbronn holte. Hier sind die beiden jetzt im 13. Jahr, die längste Zeit, die sie je an einem Theater verbracht haben. Stefan Eichberg genießt es, an einem Haus zu arbeiten, das viel Wertschätzung beim Publikum erfährt. Hier spielte er eine große Rolle nach der anderen. Nach seiner Lieblingsrolle gefragt, nennt er den Walter Faber in »Homo faber«, auch weil er da mit seiner Frau Sabine so intensive Szenen spielen durfte. Nicht immer ist es leicht als Paar am Theater und man muss sich manchmal zwingen, nicht pausenlos darüber zu reden, berichtet er. Die Zuschauer überschütten ihn an diesem Nachmittag mit Sympathie und Wertschätzung, loben sein Spiel, egal, ob er nun in Komödien oder Tragödien zu erleben ist, und finden es auch toll, dass er so gut singen kann.

Was für ihn gutes Theater ausmache, wollen sie wissen. Die gesellschaftliche Relevanz, die man sowohl in alten als auch in neuen Stücken finde. Und er weiß, dass dieser Aspekt bei der Entwicklung des Spielplans immer eine große Rolle spiele. Die Fragen nehmen kein Ende. Wie sein Gehirn funktioniere, um sich die Mengen an Text von so unterschiedlichen Stücken zu merken? Ob er mit seiner Frau zusammen die Texte lerne? Welche Autoren in der DDR gespielt wurden? Ob er sich inzwischen in Heilbronn heimisch fühlt? Was er gern in der Freizeit unternehme? Und schließlich: »Essen Sie gern Spätzle?« – Nein, antwortet Stefan Eichberg. Er mag gern Soljanka, aber am allerliebsten »Tote Oma«, das ist warme Blutwurst (die kann man jeden Donnerstag auf dem Markt kaufen) mit Kartoffeln und Sauerkraut. »Siehst du, da haben wir heute wieder viel gelernt«, sagt eine der Besucherinnen am Ende zu ihrer Nachbarin. Sophie Püschel, die diese Nachmittage am Theater Heilbronn organisiert, präsentiert hier die gesamte Vielfalt dessen, was das Theater Heilbronn ausmacht. So gab es schon Veranstaltungen mit Regisseuren, mit Kollegen aus dem Malersaal, der Requisite, der Maske und der Schneiderei, mit anderen Kollegen aus dem Schauspielensemble, mit dem Künstlerischen Betriebsbüro, mit dem Intendanten, ja sogar mit einem Theaterfotografen. Und jede dieser Veranstaltungen eröffnet eine neue Perspektive auf die Wunderwelt Theater.

Workshop Prüfungsvorbereitung

TREFFPUNKT LEHRERZIMMER. Wenn wir zu einem Workshop in eine Schule gehen, ist das meist der Ort, der als erstes angesteuert wird. Oft ist noch Zeit für eine kurze Unterhaltung und eine Tasse Kaffee. Ab und zu kennt man den einen oder die andere Kollegin auch schon gut. Gerade in dieser Spielzeit verbringen wir viele Stunden für Workshops in Schulen, um Vorstellungsbesuche für die Prüfungsthemen zu »Nach vorn, nach Süden« (UA) und zu »Woyzeck« vorzubereiten. Wir kommen mit einem Fahrplan in die Schule, wie wir uns den Ablauf des jeweiligen Workshops vorstellen – oft müssen wir aber auch flexibel sein und davon abweichen, je nach dem, ob die Klasse schon ganz tief im Stoff steckt oder noch gar nicht, ob es morgens um 8 Uhr oder nachmittags um 15 Uhr ist. Schreibt die Klasse im Anschluss noch eine Klassenarbeit oder war der Tag vorher schon lang für alle? Deshalb gibt es immer Plan A, B und C. Wir nehmen Sie mit in zwei unserer Workshops, Sie dürfen Mäuschen sein.

Foto © Stefanie Roschek

von Natascha Mundt

Montag, kurz nach halb 10. Die erste große Pause ist vorbei an einem Heilbronner Gymnasium. Nach und nach tröpfeln die Schüler des Leistungskurses Deutsch ins Klassenzimmer. Manche freuen sich, manche sind ob des Unbekannten, was sie in der nächsten Doppelstunde erwartet, etwas unsicher. Andere haben völlig vergessen, dass ich wie ein Ufo im Klassenzimmer gelandet bin und erschrecken sich fast. 16 Augenpaare schauen mich an. Die Klasse hat den »WOYZECK« schon gelesen, aber noch nicht komplett besprochen, sie sehen sich eine Woche später die Inszenierung bei uns an und schreiben im Frühjahr ihr Abitur über den Stoff. Meine Aufgabe für diese Doppelstunde ist es nun, zum einen unsere Inszenierung, also vor allem den konzeptuellen Zugriff und die Ästhetik, zu vermitteln, zum anderen aber auch, den Text, der für die Schüler ggf. ganz weit weg, eben in einem kleinen gelben Buch steht, plastisch und greifbar zu machen.

Wir starten mit einem kurzen Spiel im Kreis: Ähnlich wie beim Uno-Spiel gibt es verschiedene Anweisungen, die Originalzitate aus dem »Woyzeck« sind. Mit einem kräftigen »Jawoll, Herr Hauptmann« gibt man mit einem Klatschen einen Impuls reihum. Ein »Langsam Woyzeck!« markiert einen Richtungswechsel und mit einem »Marie!« kann man sich einen anderen Spielpartner als den links und rechts von sich aussuchen. So wird zum einen der Körper, aber auch der Kopf warm gemacht. Und alle haben was zum Lachen. In einer weiteren Übung haben Zweierteams die Aufgabe, sich wie Marionetten durch den Raum zu führen. Diese Übung wird gesteigert, wenn im weiteren Verlauf dann drei Leute gleichzeitig an den Fäden der jeweiligen »Puppe« ziehen. Ich stelle danach die Frage in die Runde, warum ich wohl diese Übung ausgesucht habe: damit uns nichts peinlich ist, damit wir mit anderen zusammenarbeiten als mit unseren Sitznachbarn, damit wir lernen, zu vertrauen, damit wir erfahren, wie es Franz Woyzeck wohl ergeht, wenn er versucht, es gleichzeitig allen recht zu machen – aha! Darauf wollte ich hinaus, auch wenn alle anderen Antworten auch richtig sind. Wobei es mir immer sehr wichtig ist, im Workshop zu betonen: Ihr könnt nichts wirklich falsch machen, hier gibt es nicht die eine Lösung. Ein Workshop bietet die tolle Möglichkeit, sich auf eine andere Art und Weise mit dem Text, den man im Unterricht liest, mit der Inszenierung, die man, vermeintlich passiv im Zuschauerraum sitzend, erlebt, auseinanderzusetzen. Und er öffnet auch die Augen dafür, dass es nicht die eine Interpretation eines Stoffs gibt, sondern noch viele weitere Lesarten als die, die im Lektüreschlüssel vorgestellt wird.

Zu sehen ist das auch in der letzten Übung, in der die Schüler in Kleingruppen Szenen aus dem Stück erhalten, etwa wenn Woyzeck Marie ersticht oder wenn der Tambourmajor und Marie aufeinandertreffen. Die Aufgabe nun: Übersetzt das, was hier steht, in eure Sprache. Wie würdet ihr das heute sagen, würde diese Szene z. B. auf dem Schulhof, auf einer Wiese am Neckar, auf dem Parkplatz vor der Tankstelle stattfinden? Zuerst gibt es ratlose Gesichter, doch dann geht es in den jeweiligen Gruppen rund. »Nein, das heißt doch, dass er sie klarmachen will!« Es wird gelacht, diskutiert, über die semantische Auslegung eines einzigen Wortes gesprochen; eigentlich gar nicht so viel anders als bei den Proben in unserem Probenzentrum. Den Schülern wird klar, so weit weg von ihnen ist Büchners Text gar nicht. Zum Schluss zeigt jede Gruppe ihre Übersetzung in einer kurzen Szene vor der Klasse und die Zuschauer dürfen raten, mit welcher Szene sie sich beschäftigt haben. »Das war cool, hätt ich gar nicht gedacht – ich freu mich jetzt, das Stück zu sehen«, kommt danach aus einem Mund. Ich wünsche der Klasse viel Spaß in der Vorstellung und viel Erfolg beim Abi, beim Verabschieden winkt mir im Gang ein Schüler zu, wir kennen uns aus einem vorherigen Workshop.

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von Simone Endres

»NACH VORN, NACH SÜDEN« wird in den meisten Realschulen erst im Lauf des Schuljahres gelesen und einige Lehrkräfte hatten uns schon zu bedenken gegeben, dass sie die Inszenierung erst nach der Lektüre besuchen wollen. Die Klasse, die heute vor mir steht, ist mutig und stürzt sich ins Unbekannte. Gleichzeitig bietet meistens gerade der offene, unverstellte Blick auch die Möglichkeit, sich neu und unverkrampft auf die Inhalte und Figuren des Romans einzulassen und eigene persönliche Bezüge herzustellen. So auch heute.

Die Klasse hat noch nie einen Workshop mitgemacht und keine Ahnung, was sie erwartet. Die Ankündigung, den Klassenraum freizuräumen, damit wir Platz zum Bewegen und Arbeiten haben wird mit großer Anspannung und wenig Begeisterung aufgenommen. Die meisten Teilnehmer vergraben sich tief in ihre Anoraks und halten die Arme verschränkt. Keiner möchte seinen Stuhl verlassen.

Lena, genannt »Entenarsch«, die als Protagonistin des Romans von Sarah Jäger durch die Geschichte von »Nach vorn, nach Süden« führt, sucht auch ihren Platz auf dem Hinterhof eines Penny-Marktes. Damit ist das erste Spiel zur Eröffnung des Themas gesetzt. Alle Stühle sind im Raum verteilt und die Aufgabe der Gruppe lautet, durch strategische Platzwechsel »Entenarsch« den letzten freien Platz streitig zu machen. Durch das Spiel löst sich die anfängliche Skepsis.

Es folgen Assoziations- und Dissoziationsübungen zur Etablierung eines wertungsfreien Raums. Assoziation bedeutet, dass alles, was wir hören, zu Bildern im Kopf führt. Dissoziationsübungen helfen dabei, sich frei zu spielen und den inneren Zensor auszuschalten. Die Erfahrung, nichts falsch machen zu können, ist für den Rest der Lektion eine entscheidende, damit jeder Teilnehmer sich traut, den Zustand der Fehlervermeidung hinter sich zu lassen und sich vor der Klasse mit den eigenen Ansichten »zu zeigen«. In 2er-Gruppen werden nun kleine Geschichten improvisiert. Beginnend mit dem Satz: »Sag mal, weißt du noch was gestern auf der Landstraße passiert ist?«, haben alle Teams zur Aufgabe, eine kleine gemeinsame Szene zu entwickeln, die anschließend vor der Klasse präsentiert wird. Mich begeistert die Vielfalt des Themenspektrums. Zwei Jungs zeigen, wie sie ohne gültigen Personalausweis die Einreise aus dem Kosovo zu managen versuchen, drei Teilnehmer sind nach einem Banküberfall auf der Flucht und andere versuchen sich gegenseitig bei der Autopanne behilflich zu sein. Alle sind stolz auf ihre Präsentation. Nebenbei ergibt sich auch die Möglichkeit, darüber zu diskutieren, wie ein Schauspieler sich auf der Bühne fühlen würde, wenn es im Zuschauerraum unruhig wird oder das Handy klingelt. Alle verstehen plötzlich, wie wichtig es ist, den Theaterbesuch als gemeinsames Erleben zu verstehen, und dass Publikum und Bühne keine so starr abgegrenzten Bereiche sind, wie allgemein vermutet. Weiter geht es nun mit den Stationen, die »Entenarsch« mit den Insassen ihres VW Polos erlebt. Es gilt, sich aus sechs Schauplätzen des Stücks drei auszusuchen und diese zu einer kurzen Reiseszene zu verbinden. Beispielsweise geht es so vom Schlossgarten in Fulda über den Kreisverkehr von Oer-Erkenschwick zum »Feld-Wald-Wiesen-Festival« in Bimbach. Diese Ausflüge nutzen wir, um das Prinzip der »Heldenreise« zu besprechen, also vom Loslassen von Sicherheit und dem daran anschließenden Aufbruch, der Krise nach anfänglichem Scheitern, der Heldeninitiation durch Konfrontation mit auftretenden Problemen bis zur Rückreise nach Läuterung. Erhitzt ziehen die Schüler Vergleiche zu Roadtrips aus Film und Fernsehen, und Parallelen zu »The Fast and the Furious« bis hin zum »Herrn der Ringe«.

Als mir die Klasse wenige Tage später wieder im Zuschauerraum begegnet, frage ich anschließend, wie es ihnen in der Vorstellung ergangen ist. »War echt cool… aber beim nächsten Mal spielen wir selbst mit«, schallt mir als Echo entgegen.