Zwischen Dingenskirchen und der Walachei

Wolfgang Herrndorfs »Tschick« kommt auf die Bühne der BOXX

Tschick

Kennen Sie den Wunsch beim Lesen eines Buches, es möge niemals aufhören? Kennen Sie das Gefühl, so sehr in das Leben der Romanfiguren eingetaucht zu sein, dass Sie gar nicht mehr in den eigenen Alltag zurück möchten? Sich zu verlieren in Buchstaben und Seiten, die im Kopf wundervolle Welten entstehen lassen? Man nimmt einfach Platz am Ufer des Mississippi oder eben auf dem Rücksitz eines alten Lada und beginnt eine unvergessliche Reise. So eine Reise ist  Wolfgang Herrndorfs Roman »Tschick«. Es ist die Geschichte zweier ungleicher 14-jähriger Jungen: Maik Klingenberg lebt mit seinen Eltern, die sich kaum für ihren Sohn interessieren, in einer Villa mit Pool. Er  hatte keine Freunde, sein Leben war öde, bis Tschick in seine Klasse kam. Tschick heißt eigentlich Andrej Tschichatschow, ist Russlanddeutscher, lebt in der Hochhaussiedlung, hat es von der Förderschule aufs Gymnasium geschafft und ist trotzdem alles andere als ein Musterbeispiel an Integration. Als die Sommerferien beginnen, fährt Maiks Mutter in die als »Beautyfarm« getarnte Entzugsklinik und sein Vater mit der jungen Assistentin auf »Geschäftsreise«. Da steht Tschick mit einem »geborgten« Lada vor Maiks Tür und will mit ihm in den Urlaub fahren. Ihr grobes Ziel lautet: Walachei.

Ob es die Walachei überhaupt gibt und, wenn ja, wo sie sich befindet, ist eigentlich vollkommen egal. Denn nie stimmte die Floskel vom Weg, der angeblich das Ziel sei, so sehr wie in »Tschick«. Auch wenn die beiden auf ihrer chaotischen Fahrt niemals an einem Ziel ankommen werden, so erfahren sie doch viel mehr über das Leben als alle, die ihre Reise von A nach B mit dem Lineal planen. Die zwei Jungs irren mit ihrem Lada durch die deutsche Provinz wie zwei Flipperkugeln, die von einer Begegnung zur nächsten geschossen werden. Sie treffen auf einzigartige Menschen und lernen sie kennen und schätzen. Da ist zum Beispiel Isa, das kluge Mädchen von der Müllkippe, oder die liebenswerte, aber etwas überregulierte Familie, bei der man sich den größten Nachtisch durch ein wettkampfartiges Harry-Potter-Quiz sichern muss, oder die übergewichtige Sprach-​​therapeutin mit dem tarnfarbenen BMW, die Tschick versehentlich den Fuss bricht und von Maik liebevoll »Flusspferd« genannt wird. Die beiden erleben die besten Wochen ihres Lebens. Dabei wird die Geschichte in einem so ungeheuren Tempo, in einer so unverwechselbaren Sprache und mit so viel Witz und jugendlicher Alltags-Philosophie erzählt, dass man sich tatsächlich ständig wünscht, die Reise möge niemals enden.
Doch »Tschick« ist nicht nur als Roman eine Sensation. Auch als Theaterstück verliert Herrndorfs Text nichts von seiner Sogkraft. Im Gegenteil. Der Theaterfassung gelingt es sogar an vielen Stellen, den wunderbaren Wortwitz des Autors noch lebendiger zu machen und dem Publikum einen noch direkteren Zugang zu ermöglichen. Das Stück feiert die abenteuerliche Reise der sonderbaren Helden als ein Fest des Erzählens. Und so wundert es kaum, dass »Tschick« mittlerweile das meistgespielte Stück auf deutschen Bühnen ist.
Gemeinsam mit Ausstatterin Gesine Kuhn zeigt Regisseur Jens Kerbel die liebenswerten Außenseiter, die Herrndorfs Text bevölkern, als Kaleidoskop deplatziert wirkender Menschen irgendwo zwischen der Walachei, der Pampa, Dingenskirchen oder ganz einfach »Jottwehdeh«.

Von Stefan Schletter

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