»Applaus ist doof!«

Wie ein Dramaturg in acht Wochen zu 45 Kindern kam

Foto: Thomas Braun

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»45!« rufe ich durch die offene Tür, »ich habe 45 Kinder bekommen.« Angelika Illenseer, eine der Damen in unserer Verwaltung, kann sich ein breites Grinsen nicht verkneifen: »Respekt! Wie haben Sie denn das geschafft?« Seit Wochen werden die Zahlen der Kinder durch die Büros der Leitungsetage angesagt wie Börsenkurse. Von Null auf Zwanzig, zurück auf Zwölf, dann hoch auf Dreißig. Der Höchststand mit Sechzig war – glücklicherweise – nur kurz zu halten.
Was ist da los? Das Badische Staatstheater Karlsruhe »borgt« dem Theater Heilbronn in diesem Winter seine Inszenierung von Humperdincks Operndauerbrenner »Hänsel und Gretel«, die dort seit mehr als zehn Jahren alle Jahre wieder vor vollem Haus läuft. Doch für das dort tanzende Kinderballett (14 Engel!) und den singenden Kinderchor waren die acht Fahrten vom Rhein an den Neckar nicht machbar. Zu spät wären sie zurück nach Hause gekommen – und das während der Schulzeit und meist unter der Woche. Schnell einigten sich beide Häuser schon im letzten Winter auf eine Lösung: Heilbronner Ballettelevinnen und Chöre sollen übernehmen und mit Hilfe des Originalchoreografen, Andrej Golescu, und des Originalregisseurs, Achim Thorwald, in den Opernabend »eingearbeitet« werden. Auf dem Papier alles gut und schön. Mit Edith Tilman und der Ballett- und Stepschule Münch war für die Tanzeinlage ein enthusiastischer, wunderbarer Partner gefunden.
Dann kam das Chor-Problem: Ich machte mich im Frühjahr auf die Suche. Zuerst mit sehr positiven Reaktionen der angefragten Chorleiter. Aber sehr schnell bekam ich zu hören: »Tut mir leid, das schaffen wir nicht«, oder »So viele Auftritte können wir nicht gewährleisten«. Schließlich zunehmend »Das ist jetzt leider zu knapp«. Und die Zeit lief weiter – und davon. Da gab’s am Ende nur eins: Einen eigenen Chor gründen. Geboren war der 45köpfige »Hänsel-und-Gretel-Projektchor«, zusammengestellt mit Rat und Hilfe einiger Musiklehrer aus Heilbronn und der Region. Für die Einstudierung ließ sich Andrea Voit-Erlewein gewinnen, die das Ensemble des Theaters Heilbronn seit Jahren stimmlich und gesanglich betreut und schult.
Von da an war auf der Probebühne im zweiten Untergeschoss des Theaters nichts mehr so wie zuvor: 45 angehende Hänsels und Gretels zwischen 9 und 17 Jahren sangen voller Inbrunst: »Die Hexerei ist nun vorbei, nun singen und springen wir froh und frei!« Und neben dem Singen kam auch das Springen nicht zu kurz. Nicht nur bei den drei szenischen Proben mit Regieassistentin Anja Kühnhold in der Woche vor der Premiere. Wo 45 Kinder auf engem Raum zusammen sind – da muss ich Eltern und Lehrern nichts erzählen – geht die Post ab. Zum Beispiel bei der ersten Probe mit Kostüm und Maske: Spitze Entsetzensschreie, als beschlossen wurde, dass einige der überzähligen Mädchen »Hänsels« spielen müssen – mit »kratzigen« Jungsperücken. Und dass drei ganz neugierige Schlingel die Umziehkabine der Mädchen ausspionieren wollten, führte zu einer tiefgreifenden Erkenntnis: »Jungs sind ganz schön blöd«, seufzte ein potentielles Spionage-»Opfer« (10), »was die da sehen wollen, ist bei uns doch gar noch nicht gewachsen!«
Spätestens das beginnende Lampenfieber am Premierenabend sorgte aber auch bei den wildesten Rabauken für die notwendige Disziplin. Denn auf der Bühne, das hatten bis dahin alle gelernt, ist jeder Fehler sichtbar, alles öffentlich. Als um 21.45 Uhr der Applaus aufbrandet, sieht man die Freude, Begeisterung, aber auch die Erleichterung auf den Gesichtern. Alle 45 haben sich bewährt und in wenigen Proben Tolles geleistet. Eine Zeitungskritik wird ihnen sogar einen »fulminanten Schlusschor« bescheinigen. Nur eine kleine Sängerin (11) wirkt verärgert. »Was war denn los?« frage ich auf der Seitenbühne. »Applaus ist doof«, kommt pistolenschnell die Antwort, »da steht man auf der Bühne rum und muss sich dauernd verbeugen. Und das dauert dann auch noch ewig.« Wenn’s weiter nichts ist …
Die letzten Vorstellungen von »Hänsel und Gretel« mit den Elevinnen der Ballett- und Stepschule Münch und den Kindern aus Heilbronner und Weinsberger Chören sind am 9. und 18. Januar und am 6. Februar zu sehen.

Von Andreas Frane

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