Wenn hinter dem Himmel von morgen der Abgrund des Scheiterns beginnt

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Mit „Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution“ kommt erstmals ein Stück von Heiner Müller auf die Bühne des Theaters Heilbronn. Ein Gespräch mit Intendant und Regisseur Axel Vornam über den Autor, die Verantwortung für den Fortschritt und den Spaß am Weiterdenken.

von Kristin Päckert

Heiner Müller ist für Sie einer der wichtigsten Theaterautoren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie haben ihn auch persönlich kennen gelernt.

Ja, das ist aber schon lange her. Das war Mitte oder Ende der siebziger Jahre, als ich am Studententheater war. Da begann er gerade berühmt zu werden. Er war der große Geheimtipp unter den Autoren und eine sehr beeindruckende Persönlichkeit. Wenn Heiner Müller gesprochen hat, ging es nie um irgendetwas Banales. Man hatte immer den Eindruck, man hört jemanden beim Nachdenken, Entwickeln und Philosophieren zu. Das fand ich schon sehr spannend. Seine Art zu denken war sehr geschult an Dialektik. Das ist auch sein Verständnis von Geschichte und Vorgängen und das findet sich auch in den Stücken wieder.

„Der Auftrag“ überführt die Konflikte zwischen Ost und West in die postkolonialistischen Konflikte zwischen sogenannter Erster und Dritter Welt und ist eines der derzeit am meisten gespielten Werke Müllers. Warum ist das Stück gerade heute so brisant?

Das hat sicherlich auch mit der Situation zu tun, in denen sich die europäischen Länder befinden, und damit, dass man das Gefühl hat, dass mit jedem Fortschritt auch bestimmte Verluste verbunden sind. Man muss nachfragen, was denn Fortschritt überhaupt heißt, jetzt, Anfang des 21. Jahrhunderts. Wie lässt er sich definieren? Inwieweit kann ich ihn überhaupt gestalten oder wann werde ich Opfer des eigenen Fortschritts, den ich initiiert habe? Wie kann ich Fortschritt als Prozess in eine Permanenz bringen? Es ist die Frage, wie man das austariert, wie man das versteht und ob man diese Verluste hinnehmen muss. Ob es gar nicht anders denkbar, gar nicht anders machbar ist. Das macht auch die Tragik in den Stücken von Heiner Müller aus. Immer wieder diese Differenz zwischen historischen Entwicklungen und dem Verhältnis des Subjektes dazu. Wir befinden uns in einer Art von Status Quo und natürlich kann man sich in dieser Gesellschaft einrichten. Aber es wird insgesamt nicht mehr infrage gestellt, ob diese Gesellschaft, so wie sie sich jetzt konstituiert, wirklich in der Lage ist Zukunftsfragen zu beantworten. Wir erleben permanent, dass sie das nicht ist. Man denke nur an die Klimakonferenzen, die alle scheitern, obwohl jeder weiß, dass es Ende des Jahrhunderts zu spät sein wird. Die Gesellschaft oder die Menschheit ist dabei, sich selbst abzuschaffen. Mit sehendem Auge rennt sie auf den Abgrund zu. Und da ist man natürlich auch im Verständnis von Heiner Müller, der sagt, dass es vielleicht genau diese Katastrophe braucht, um wieder über so etwas wie Fortschritt nachzudenken und ihn in Gang zu bringen. Was die sogenannte Flüchtlingskrise angeht, liegen die Ursachen nicht nur im Krieg in Syrien. Man hat diese ganze Region seit 20 Jahren destabilisiert. Die Amerikaner vorne dran mit Völkerrechtsverletzungen. Aber dazu gehört ebenfalls diese Art von Postkolonialismus, der auch ganz heftig von der EU betrieben wird.

Heiner Müller sagt, sein Interesse an der Wiederkehr des immer Gleichen, sei ein Interesse an der Sprengung des Kontinuums. Gerade jetzt stehen wir wieder in einer politischen Verantwortung. Die westliche Politik reagiert auf den Anschlag von Paris erneut mit militärischen Interventionen. Bisher haben diese militärischen Reaktionen jedoch nie zu einer Stabilisierung, sondern zu noch mehr Gewalt geführt. Sind wir erneut bei einer Wiederkehr des immer Gleichen? Wird man die Geister, die man rief denn eigentlich noch los?

Das weiß ich nicht. Zumindest aber muss man, und das ist auch der verzweifelte Versuch von Heiner Müller, diese Geister immer wieder heraufbeschwören. Er hat mal diesen Satz geprägt: „Das Bekannte ist nicht erkannt.“ Wir haben uns an bestimmte Phänomene schon gewöhnt, aber wir befragen sie nicht mehr. Und das ist einfach der Punkt. Man muss sie immer wieder ausgraben, sie befragen. Sonst hat man gar keine Chance, diese Art von Kontinuum der Wiederkehr des immer Gleichen zu durchbrechen. Das funktioniert nur, wenn man immer wieder auf die Bruchstellen von Geschichte verweist. Das Furchtbare ist aber auch, dass ich in dem Moment, wo ich etwas verändere, auch damit rechnen muss, dass diese Veränderung etwas verändert, was ich vielleicht gar nicht verändert haben möchte. Da ist der Verweis auf die Risiken enthalten. Müller sagte: „Ich glaube an die Ausformulierung von Differenzen. Das ist das Einzige, was Dinge in Bewegung setzen kann.“ Das ist auch Aufgabe des Theaters, genau diese Differenzen aufzumachen und zu beschreiben. Bis zur Unerträglichkeit. Das Theater muss sich dann auch nicht wundern, wenn es nicht immer gemocht wird. Aber es ist wichtig, dass man es tut. Und, was das angeht, ist „Der Auftrag“ ein wichtiges Stück.

Heiner Müller hat sich besonders für das Motiv des Verrats interessiert, auch wegen seiner eigenen Ausreisegenehmigung. Spürbar ist dies in der Figur des Debuisson, der nach dem Siegeszug Napoleons den Auftrag als hinfällig betrachtet und zurück in den Schoß seiner Familie kehrt.

Naja, der Verrat ist aber ein schwer auszuhaltender. Wenn man sich einer gesellschaftlichen Utopie verpflichtet fühlt und diese auch weiter tragen will, ist der Moment, in dem in Frankreich die Konterrevolution zuschlägt, der Versuch dieser gesellschaftlichen Utopie also abgebrochen wird, für jemanden wie Debuisson schwer erträglich. Dann kommt die Frage nach der Sinnhaftigkeit dessen, was man bis dahin getan hat. Das Schlimme ist das Bewusstsein darüber. Das ist das, was die Figuren von Heiner Müller auch auszeichnet. Sie wissen um ihr Handeln, sie reflektieren es. Denen passiert es nicht, dass sie sagen, ich verkaufe mich ans Kapital und werde Manager oder Ingenieur und verdiene 150.000€ im Jahr, kann mir mein Einfamilienhaus kaufen und stütze damit dieses System, obwohl es eigentlich falsch ist. Das ist die Sache, die diese Figuren umtreibt und auch verzweifeln lässt. Als Antoine oder dann am Ende auch Debuisson.

Welche Rolle spielt dabei die Französische Revolution?

Sie ist nur das Vehikel. Es ist ja keine kontinuierliche Geschichte, in der die Französische Revolution abgehandelt wird. Büchner hat sich auch nicht für die Französische Revolution an sich interessiert, sondern für die deutschen Verhältnisse 1830. Also die Zeit der finstersten Restaurationen und Kleinstaaterei, und dieser Hoffnungslosigkeit, dass alles, was Französische Revolution war, dieser Funke von Aufbruch oder Fortschritt, mit Soldatenstiefeln niedergetrampelt. Also eine Zeit, in der nicht absehbar war, dass es da überhaupt eine gesellschaftliche Bewegung geben könnte. Und das ist natürlich das, was Heiner Müller auf eine ganz andere Art und Weise auch immer permanent untersucht. Diese Nicht-Bewegung, die wir gegenwärtig verzeichnen. In der man das Gefühl hat, es gibt eigentlich auch keinen gesellschaftlichen Diskurs mehr über so etwas wie Utopie. Es gibt keine gesellschaftliche Vision mehr. Sondern das, was passiert, ist, dass man den Status Quo mehr recht als schlecht verwaltet und auf Ärgernisse oder auf Veränderungen reagiert. Das ist ein Reagieren aber kein Gestalten mehr.

Ist das Stück auch dafür da, den Diskurs noch einmal neu anzuregen?

Na sicher. Das ist eine Sensibilisierung für die Widersprüche dieser Zeit, die zum Teil gar nicht mehr besprochen werden. Auch in den Parlamenten setzt man sich ja nicht wirklich mit den gesellschaftlichen Problemen auseinander. Das sind mehr oder weniger Reparaturkolonnen, die da unterwegs sind. Mehr aber auch nicht. Das, was man jetzt macht, das lässt sich trefflich an einem Beispiel beschreiben. Seit den achtziger Jahren wurde über die Festung Europa gesprochen. Seither sagt man, wenn die Entwicklungen zwischen Erster und Dritter Welt weiter so auseinander laufen – und man kann es jetzt einfach benennen als die Schere zwischen Arm und Reich – dann werden die Leute irgendwann vor Europa stehen und zu recht sagen: „Wir wollen was zu fressen haben“. Und die wird dann auch kein Stacheldrahtzaun zurückhalten, die werden teilhaben wollen. Diese Situation ist lange absehbar gewesen. Man muss auch fragen, ob man überhaupt daran interessiert gewesen ist, da stabile Verhältnisse einkehren zu lassen oder ob man sich nicht verkalkuliert hat. Ob das Irak ist oder der Arabische Frühling, den man so fröhlich beklatscht hat. Jetzt sieht man, dass daraus keine stabilen Verhältnisse und politische Strukturen erwachsen sind, sondern die Konflikte aufbrechen, die über Jahrzehnte erheblich durch diese autoritären Regierungsformen untern Teppich gehalten wurden.

Der Engel der Verzweiflung ist eine allegorische Figur, der auf Walter Benjamins Engel der Geschichte verweist. Wie steht er zum Stück?

Das ist einerseits eine Art Kommentarebene, andererseits in gewisser Weise auch die innere Stimme von Antoine. Das ist auch die Reflektiertheit dieser Figuren, die genau wissen, was sie tun und woran sie verzweifeln. Und das hat schon damit zu tun, wenn er sagt „ich bin der kommende Aufstand“. Aber da ist das Scheitern schon mit formuliert. Und das ist das, was die Figuren auch in den Wahnsinn treibt, das wirklich tragische Moment, wo es dann in gewisser Weise auch die Dimension einer griechischen Tragödie hat. Ich weiß, ich werde etwas wieder und wieder tun und ich weiß in dem Moment, in dem ich die Särge der Toten aufsprenge und der Himmel der Aufstand ist, lauert dahinter schon der Abgrund des Scheiterns. Das ist dieser Moment, in dem die Revolution institutionell wird oder in sich selbst gefriert. Und das ist auch der Moment dieser allegorischen Figur. Das ist auch das Faszinierende in den Texten Müllers, dass in diesen paar Zeilen, die man natürlich nicht bis ins Letzte analysieren kann, immer auch ein gewisser Interpretationsspielraum ist. Das ist die Qualität dieser Sprache, dass sie ganz unterschiedliche Assoziationen bei einem auslöst, die man nicht immer unbedingt in Begriffe fassen kann. Das ist ja auch ein harter Prozess eines permanenten Versuches, sich dem anzunähern, es verstehen zu wollen. Es gibt ja auch Texte, die habe ich durchgelesen und dann habe ich sie verstanden. Das war’s. Aber um die muss ich mich auch nicht weiter bemühen. Und das ist ja das, an dem man dann Spaß daran hat, wenn man es möchte, dass man an diesen Texten gedanklich immer weiter arbeitet, um dahinter zu kommen. Dieser Text ist voll von Brüchen. Prosatexte wechseln sich ab mit Spielszenen und Traumsequenzen, die sich unmittelbar anschließen. Das macht den Reiz dieses Textes aus. Man kann keiner kontinuierlich erzählten Geschichte folgen, sondern ist gezwungen, jede Szene und jeden Moment neu zu bewerten und sich neu anzueignen. Und das ist auch das Vergnügen, zu dem man die Zuschauer einlädt. Der Abend wird keine einfachen Antworten erzeugen, sondern im besten Fall nachwirken. Vielleicht wird man Sätze im Ohr haben, die einen nicht loslassen, weil man versucht sie zu begreifen oder ins Verhältnis zur eigenen Realität zu setzen. Und das ist, glaube ich, das spannende, was so ein Text kann.

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