Workshop Prüfungsvorbereitung

TREFFPUNKT LEHRERZIMMER. Wenn wir zu einem Workshop in eine Schule gehen, ist das meist der Ort, der als erstes angesteuert wird. Oft ist noch Zeit für eine kurze Unterhaltung und eine Tasse Kaffee. Ab und zu kennt man den einen oder die andere Kollegin auch schon gut. Gerade in dieser Spielzeit verbringen wir viele Stunden für Workshops in Schulen, um Vorstellungsbesuche für die Prüfungsthemen zu »Nach vorn, nach Süden« (UA) und zu »Woyzeck« vorzubereiten. Wir kommen mit einem Fahrplan in die Schule, wie wir uns den Ablauf des jeweiligen Workshops vorstellen – oft müssen wir aber auch flexibel sein und davon abweichen, je nach dem, ob die Klasse schon ganz tief im Stoff steckt oder noch gar nicht, ob es morgens um 8 Uhr oder nachmittags um 15 Uhr ist. Schreibt die Klasse im Anschluss noch eine Klassenarbeit oder war der Tag vorher schon lang für alle? Deshalb gibt es immer Plan A, B und C. Wir nehmen Sie mit in zwei unserer Workshops, Sie dürfen Mäuschen sein.

Foto © Stefanie Roschek

von Natascha Mundt

Montag, kurz nach halb 10. Die erste große Pause ist vorbei an einem Heilbronner Gymnasium. Nach und nach tröpfeln die Schüler des Leistungskurses Deutsch ins Klassenzimmer. Manche freuen sich, manche sind ob des Unbekannten, was sie in der nächsten Doppelstunde erwartet, etwas unsicher. Andere haben völlig vergessen, dass ich wie ein Ufo im Klassenzimmer gelandet bin und erschrecken sich fast. 16 Augenpaare schauen mich an. Die Klasse hat den »WOYZECK« schon gelesen, aber noch nicht komplett besprochen, sie sehen sich eine Woche später die Inszenierung bei uns an und schreiben im Frühjahr ihr Abitur über den Stoff. Meine Aufgabe für diese Doppelstunde ist es nun, zum einen unsere Inszenierung, also vor allem den konzeptuellen Zugriff und die Ästhetik, zu vermitteln, zum anderen aber auch, den Text, der für die Schüler ggf. ganz weit weg, eben in einem kleinen gelben Buch steht, plastisch und greifbar zu machen.

Wir starten mit einem kurzen Spiel im Kreis: Ähnlich wie beim Uno-Spiel gibt es verschiedene Anweisungen, die Originalzitate aus dem »Woyzeck« sind. Mit einem kräftigen »Jawoll, Herr Hauptmann« gibt man mit einem Klatschen einen Impuls reihum. Ein »Langsam Woyzeck!« markiert einen Richtungswechsel und mit einem »Marie!« kann man sich einen anderen Spielpartner als den links und rechts von sich aussuchen. So wird zum einen der Körper, aber auch der Kopf warm gemacht. Und alle haben was zum Lachen. In einer weiteren Übung haben Zweierteams die Aufgabe, sich wie Marionetten durch den Raum zu führen. Diese Übung wird gesteigert, wenn im weiteren Verlauf dann drei Leute gleichzeitig an den Fäden der jeweiligen »Puppe« ziehen. Ich stelle danach die Frage in die Runde, warum ich wohl diese Übung ausgesucht habe: damit uns nichts peinlich ist, damit wir mit anderen zusammenarbeiten als mit unseren Sitznachbarn, damit wir lernen, zu vertrauen, damit wir erfahren, wie es Franz Woyzeck wohl ergeht, wenn er versucht, es gleichzeitig allen recht zu machen – aha! Darauf wollte ich hinaus, auch wenn alle anderen Antworten auch richtig sind. Wobei es mir immer sehr wichtig ist, im Workshop zu betonen: Ihr könnt nichts wirklich falsch machen, hier gibt es nicht die eine Lösung. Ein Workshop bietet die tolle Möglichkeit, sich auf eine andere Art und Weise mit dem Text, den man im Unterricht liest, mit der Inszenierung, die man, vermeintlich passiv im Zuschauerraum sitzend, erlebt, auseinanderzusetzen. Und er öffnet auch die Augen dafür, dass es nicht die eine Interpretation eines Stoffs gibt, sondern noch viele weitere Lesarten als die, die im Lektüreschlüssel vorgestellt wird.

Zu sehen ist das auch in der letzten Übung, in der die Schüler in Kleingruppen Szenen aus dem Stück erhalten, etwa wenn Woyzeck Marie ersticht oder wenn der Tambourmajor und Marie aufeinandertreffen. Die Aufgabe nun: Übersetzt das, was hier steht, in eure Sprache. Wie würdet ihr das heute sagen, würde diese Szene z. B. auf dem Schulhof, auf einer Wiese am Neckar, auf dem Parkplatz vor der Tankstelle stattfinden? Zuerst gibt es ratlose Gesichter, doch dann geht es in den jeweiligen Gruppen rund. »Nein, das heißt doch, dass er sie klarmachen will!« Es wird gelacht, diskutiert, über die semantische Auslegung eines einzigen Wortes gesprochen; eigentlich gar nicht so viel anders als bei den Proben in unserem Probenzentrum. Den Schülern wird klar, so weit weg von ihnen ist Büchners Text gar nicht. Zum Schluss zeigt jede Gruppe ihre Übersetzung in einer kurzen Szene vor der Klasse und die Zuschauer dürfen raten, mit welcher Szene sie sich beschäftigt haben. »Das war cool, hätt ich gar nicht gedacht – ich freu mich jetzt, das Stück zu sehen«, kommt danach aus einem Mund. Ich wünsche der Klasse viel Spaß in der Vorstellung und viel Erfolg beim Abi, beim Verabschieden winkt mir im Gang ein Schüler zu, wir kennen uns aus einem vorherigen Workshop.

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von Simone Endres

»NACH VORN, NACH SÜDEN« wird in den meisten Realschulen erst im Lauf des Schuljahres gelesen und einige Lehrkräfte hatten uns schon zu bedenken gegeben, dass sie die Inszenierung erst nach der Lektüre besuchen wollen. Die Klasse, die heute vor mir steht, ist mutig und stürzt sich ins Unbekannte. Gleichzeitig bietet meistens gerade der offene, unverstellte Blick auch die Möglichkeit, sich neu und unverkrampft auf die Inhalte und Figuren des Romans einzulassen und eigene persönliche Bezüge herzustellen. So auch heute.

Die Klasse hat noch nie einen Workshop mitgemacht und keine Ahnung, was sie erwartet. Die Ankündigung, den Klassenraum freizuräumen, damit wir Platz zum Bewegen und Arbeiten haben wird mit großer Anspannung und wenig Begeisterung aufgenommen. Die meisten Teilnehmer vergraben sich tief in ihre Anoraks und halten die Arme verschränkt. Keiner möchte seinen Stuhl verlassen.

Lena, genannt »Entenarsch«, die als Protagonistin des Romans von Sarah Jäger durch die Geschichte von »Nach vorn, nach Süden« führt, sucht auch ihren Platz auf dem Hinterhof eines Penny-Marktes. Damit ist das erste Spiel zur Eröffnung des Themas gesetzt. Alle Stühle sind im Raum verteilt und die Aufgabe der Gruppe lautet, durch strategische Platzwechsel »Entenarsch« den letzten freien Platz streitig zu machen. Durch das Spiel löst sich die anfängliche Skepsis.

Es folgen Assoziations- und Dissoziationsübungen zur Etablierung eines wertungsfreien Raums. Assoziation bedeutet, dass alles, was wir hören, zu Bildern im Kopf führt. Dissoziationsübungen helfen dabei, sich frei zu spielen und den inneren Zensor auszuschalten. Die Erfahrung, nichts falsch machen zu können, ist für den Rest der Lektion eine entscheidende, damit jeder Teilnehmer sich traut, den Zustand der Fehlervermeidung hinter sich zu lassen und sich vor der Klasse mit den eigenen Ansichten »zu zeigen«. In 2er-Gruppen werden nun kleine Geschichten improvisiert. Beginnend mit dem Satz: »Sag mal, weißt du noch was gestern auf der Landstraße passiert ist?«, haben alle Teams zur Aufgabe, eine kleine gemeinsame Szene zu entwickeln, die anschließend vor der Klasse präsentiert wird. Mich begeistert die Vielfalt des Themenspektrums. Zwei Jungs zeigen, wie sie ohne gültigen Personalausweis die Einreise aus dem Kosovo zu managen versuchen, drei Teilnehmer sind nach einem Banküberfall auf der Flucht und andere versuchen sich gegenseitig bei der Autopanne behilflich zu sein. Alle sind stolz auf ihre Präsentation. Nebenbei ergibt sich auch die Möglichkeit, darüber zu diskutieren, wie ein Schauspieler sich auf der Bühne fühlen würde, wenn es im Zuschauerraum unruhig wird oder das Handy klingelt. Alle verstehen plötzlich, wie wichtig es ist, den Theaterbesuch als gemeinsames Erleben zu verstehen, und dass Publikum und Bühne keine so starr abgegrenzten Bereiche sind, wie allgemein vermutet. Weiter geht es nun mit den Stationen, die »Entenarsch« mit den Insassen ihres VW Polos erlebt. Es gilt, sich aus sechs Schauplätzen des Stücks drei auszusuchen und diese zu einer kurzen Reiseszene zu verbinden. Beispielsweise geht es so vom Schlossgarten in Fulda über den Kreisverkehr von Oer-Erkenschwick zum »Feld-Wald-Wiesen-Festival« in Bimbach. Diese Ausflüge nutzen wir, um das Prinzip der »Heldenreise« zu besprechen, also vom Loslassen von Sicherheit und dem daran anschließenden Aufbruch, der Krise nach anfänglichem Scheitern, der Heldeninitiation durch Konfrontation mit auftretenden Problemen bis zur Rückreise nach Läuterung. Erhitzt ziehen die Schüler Vergleiche zu Roadtrips aus Film und Fernsehen, und Parallelen zu »The Fast and the Furious« bis hin zum »Herrn der Ringe«.

Als mir die Klasse wenige Tage später wieder im Zuschauerraum begegnet, frage ich anschließend, wie es ihnen in der Vorstellung ergangen ist. »War echt cool… aber beim nächsten Mal spielen wir selbst mit«, schallt mir als Echo entgegen.

Wenn das Zeitgeschehen die Literatur einholt

Hans-Ulrich Becker inszeniert »Gott wartet an der Haltestelle« von Maya Arad Yasur im Großen Haus

von Dr. Mirjam Meuser

Das Team von »Gott wartet an der Haltestelle«; Foto © Verena Bauer

Die israelische Autorin Maya Arad Yasur hat ihr Stück »Gott wartet an der Haltestelle« 2013/14 geschrieben – kurz vor dem Beginn des letzten Gaza-Kriegs. Es spielt in den Wirren der zweiten Intifada (2000 bis ca. 2005) und spürt in fast antik anmutender Manier einem Selbstmordattentat nach, das eine junge Frau in einem israelischen Restaurant verübt hat. Maya Arad Yasur studierte zu dieser Zeit in Jerusalem, das aufgrund der besonderen Bedeutung der Stadt für Juden und Palästinenser Ziel besonders vieler Anschläge war. Damals, so erzählt sie, habe sie nie den Bus genommen, sondern sei nur zu Fuß oder mit dem Taxi unterwegs gewesen, um nicht selbst Opfer eines Selbstmordattentats zu werden. Zehn Jahre später recherchierte sie im Rahmen des »Terrorismus«-Projekts der Union des Théâtres de l’Europe zu den Selbstmordanschlägen während der Intifada und stieß dabei auf die Geschichte der 28-jährigen Attentäterin Hanadi Jaradat, die am 4. Oktober 2003 einen Anschlag auf das Restaurant »Maxim« in Haifa verübt hatte. Dabei kamen 21 Israelis jüdischer und palästinensischer Herkunft ums Leben, 50 Menschen wurden verletzt. Der Fall der Studentin Jaradat, die zum Zeitpunkt der Tat kurz vor ihrem juristischen Examen stand, interessierte Arad Yasur derart, dass er zum Ausgangspunkt ihres Dramas wurde. Dabei war das Besondere hier nicht nur, dass die Attentäterin eine Frau war – insgesamt gab es unter den Selbstmordattentätern während der zweiten Intifada nur sechs Frauen –, sondern dass Jaradat unter diesen Frauen die einzige war, die keinen persönlichen Grund hatte, ihr Leben zu beenden. Ihr Motiv war vielmehr Rache, ein Beweggrund der, so Arad Yasur, per se politisch und somit auch dramatisch ist. Zudem hatte Jaradat mit dem »Maxim« ein Ziel gewählt, das von Juden und Palästinensern gleichermaßen besucht wurde, und als Symbol friedlicher Koexistenz galt – der besonders perfide Anschlag richtete sich also explizit gegen jede Form des Ausgleichs und der Versöhnung zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen.

Arad Yasurs Stück zeichnet sich durch einen fragmentierten Erzählstrang mit zahlreichen Vor- und Rückblenden aus, der das Attentat in seine Einzelteile zerlegen will. Was ist geschehen? Wie konnte es dazu kommen? Wäre der Anschlag an irgendeinem Punkt zu verhindern gewesen? Das sind die Fragen, die die Figuren umtreiben – vor allem in den chorischen Passagen, in denen die Stimmen von Toten und Überlebenden des Anschlags auf die von Menschen treffen, die Angst haben, das nächste Opfer zu sein. Sie alle sind auf der Suche nach einer »Lücke im System«, die es ermöglichen könnte, den tragischen Ablauf der Ereignisse zu unterbrechen. Das Stück entpuppt sich so als nahezu antike Tragödie, in der ganz klassisch zwei Ansprüche aufeinandertreffen, die sich gegenseitig auszuschließen scheinen: Wo es für beide Seiten ums blanke Überleben geht, haben das Bedürfnis nach Empathie und Menschlichkeit wie die Einhaltung der Menschenrechte keinen Ort. Während der Proben zur Uraufführung des Stücks, die im August 2014 am Habima in Tel Aviv, dem israelischen Nationaltheater, stattfinden sollte, leiteten die israelischen Streitkräfte als Reaktion auf den anhaltenden Raketenbeschuss aus dem Gaza-Streifen die Operation »Protection Edge« ein, die den Beginn des letzten Gaza-Kriegs im Juli/August 2014 markiert. Über 2200 palästinensische Zivilisten wurden damals durch die Bomben der israelischen Luftwaffe getötet. Im Rückblick zeigt sich, dass die Reaktion der Armee auf die Angriffe durch die Hamas damals unverhältnismäßig war. Im Moment der kriegerischen Operation aber war es dem Theater unmöglich, sich mit dem Stück von Arad Yasur auseinanderzusetzen. Die Proben am Habima mussten unterbrochen und die Premiere von August auf Dezember verschoben werden, u. a. deshalb, weil die israelischen Techniker sich weigerten, für das Stück zu arbeiten. Arad Yasur hat diese Situation, in der ihr Stück bereits das erste Mal vom Zeitgeschehen eingeholt wurde, rückblickend so kommentiert: »Die Menschen denken nicht mehr klar, wenn ein Anschlag passiert.« Wie schnell sich der Wind damals wieder drehte, zeigt sich daran, dass sie nach der Uraufführung im Dezember desselben Jahres für »Gott wartet an der Haltestelle« den Habima Award für Nachwuchsdramatiker erhielt.

Nun ist es ein weiteres Mal passiert. Das Massaker der Hamas an der israelischen Bevölkerung im Hinterland des Gaza-Streifens am 7. Oktober und die seit Wochen tobende israelische Bodenoffensive drohen, Arad Yasurs großartigen ästhetischen Entwurf erneut auf einen bloßen Kommentar zur gegenwärtigen Lage zu reduzieren – und diesmal sogar auf einen, der angesichts der aufgeheizten aktuellen Debatten völlig falsch verstanden werden könnte. Leider lässt sich diese Gefahr bei einem literarischen Text, der sich vermeintlich so klar zeithistorisch verortet wie dieser, schwer umgehen. Das Stück beschäftigt sich mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt, das ist nicht zu leugnen, aber gleichzeitig macht es einen wesentlich weiteren ästhetischen wie historischen Raum auf, der bis in die Antike zurückreicht; und es stellt Fragen, die deutlich darüber hinaus gehen. Der Nahostkonflikt ist nur ein Exempel – wenn auch ein für Arad Yasur naheliegendes –, um sich einer Gesellschaft zu nähern, in der Gefühle wie Angst, Schmerz, Hass und Rache regieren und starken Einfluss auch auf politische Entscheidungen nehmen. Das tragische Scheitern der beiden Hauptfiguren Amal und Yael, sich in diesem Umfeld an Prinzipien der Menschlichkeit zu orientieren, hat menschheitsgeschichliche Dimension. Dem aktuellen Kommentar dagegen widmet sich Maya Arad Yasur in einem neuen Text, in dem sich ihr verzweifeltes Ringen um Haltung und Sprache angesichts der furchtbaren Ereignisse der vergangenen Monate eindringlich niederschlägt. Auf der nächsten Seite finden Sie einen Auszug aus diesem Text, der auch Teil unserer Inszenierung von »Gott wartet an der Haltestelle« sein wird.

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Cleverer Friseur verhilft verhindertem Liebespaar zum Glück

Rossinis »Der Barbier von Sevilla« kommt in zwei verschiedenen Gute-Laune-Inszenierungen nach Heilbronn

von Silke Zschäckel

Staatstheater Meiningen; Foto © Christina Iberl

Das ist der Stoff, aus dem Komödien gestrickt werden: Ein alter Mann begehrt ein junges Mädchen und noch viel mehr dessen Geld. Ein junger Mann erobert ihr Herz und schnappt sie ihm mit Hilfe zahlreicher Finten des örtlichen Barbiers Figaro weg. Wenn man diese turbulente Geschichte mit ihren zahlreichen Verwicklungen und Intrigen noch mit einer gleichermaßen betörend schönen und mitreißenden Musik untermalt, dann hat man eine komische Oper, die an sprudelndem Temperament und Witz kaum zu überbieten ist: »Der Barbier von Sevilla« von Gioachino Rossini. Der junge italienische Komponist war erst 23 Jahre alt, als er dieses Meisterwerk der leichten Unterhaltung mit seinen Ohrwurmmelodien schrieb. Die Vorlage war die gleichnamige Komödie von Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais.

Staatstheater Meiningen; Foto © Christina Iberl

»Der Barbier von Sevilla« kommt in zwei verschiedenen Inszenierungen als Gastspiel nach Heilbronn. Die wunderbar leichtfüßige und warmherzige Inszenierung vom Staatstheater Meiningen lag in den Händen von Brigitte Fassbaender. Hier stehen zwischen dem 17. und 27. Januar vier Vorstellungen auf dem Programm. Am 15. Februar feiert die kunterbunte und vor skurrilem Humor nur so strotzende Inszenierung von Inga Levant vom Theater und Orchester Heidelberg Premiere, die bis zum 2. März fünfmal in Heilbronn zu sehen ist. Vielleicht ist es für manchen Musiktheaterfreund ein besonderes Vergnügen, sich beide Bearbeitungen dieser Oper anzuschauen und zu erfahren, wie unterschiedlich man ein und denselben Stoff interpretieren kann. Es lohnt sich in jedem Fall.

Theater und Orchester Heidelberg; Foto © Susanne Reichardt

Die Grundzüge der Handlung sind in beiden Inszenierungen gleich: Graf Almaviva ist schwer in die junge, schöne Rosina verliebt. Er nähert sich ihr heimlich, denn sie wird eifersüchtig von ihrem Vormund Doktor Bartolo bewacht, der selbst ein Auge auf sie geworfen hat und sie vor allem wegen ihrer Mitgift heiraten will. Almaviva besticht den ihm gut bekannten Figaro, der als Barbier auch im Hause des Dr. Bartolo arbeitet. Figaro schmuggelt die eine oder andere Liebesbotschaft hin und her. Damit Rosina ihn um seinetwillen und nicht wegen seines Adelstitels liebt, gibt sich der Graf als armer Student aus, und es gelingt ihm, die junge Frau für sich zu gewinnen. Um den alten Bartolo zu überlisten und näher an seine Angebetete heranzukommen, rät Figaro dem Grafen, sich zu verkleiden. Zunächst erscheint er als betrunkener Soldat mit einem gefälschten Einquartierungsbefehl, das geht gründlich schief. Der nächste Versuch ist schon wesentlich raffinierter: Als vermeintlicher Gesangslehrer erhält Almaviva alias Lindoro ungehindert Zugang zu Rosina. Am Ende siegt die Liebe. Zumindest fürs Erste.

Theater und Orchester Heidelberg; Foto © Susanne Reichardt

Denn dass das Eheglück dem Paar Almaviva und Rosina nicht allzu lange erhalten bleibt, erfahren wir im zweiten Teil der Figaro-Trilogie von Beaumarchais, die Wolfgang Amadeus Mozart als Vorlage für »Die Hochzeit des Figaro« diente. Almaviva begibt sich schon bald auf amouröse Abwege und steigt Figaros Verlobter Susanna hinterher. Diese Oper lief mit großem Erfolg in der vergangenen Spielzeit am Theater Heilbronn.

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Sprechende Gegenstände, zweifelhafte Wahrnehmungen und eine raffinierte Intrige

Kay Neumann inszeniert »Über den Dingen« von Martin Suter für das Komödienhaus

von Katrin Aissen

v.l.n.r.: Judith Lilly Raab, Pablo Guaneme Pinilla, Lukas Schneider, Tobias D. Weber; Foto © Verena Bauer

»Wenn ich allein bin, spreche ich mit den Dingen. Vielleicht kennen Sie das: Wenn Sie eine ganze Nacht lang arbeiten müssen, dann bekommen auch die Geräusche etwas ganz Bedrohliches. Und ich habe mich dann gefragt: Was wäre eigentlich, wenn die Dinge antworten würden.« Martin Suter

Reto ist mal wieder allein zu Hause. Seit seiner Trennung von Susi hat er ein wiederkehrendes abendliches Ritual: die Tiefkühlpizza in den Ofen schieben, sich ein Glas Rotwein einschenken und ein »kultiviertes After-Work-Selbstgespräch führen«. Dabei spornt er seinen automatischen Staubsauger zum eifrigen Arbeiten an, sein Topfhandschuh mutiert im ausgelassenen Spiel zum bissigen Hund und auch die Pizza wird launig angesprochen. Soweit business as usual, bizarr wird es erst, als die Pizza in das Gespräch einsteigt. Und als sich auch noch der Hugo Boss-Anzug, der Topfhandschuh, das Blumenkissen und der psychologisch geschulte Sessel – er stand früher jahrelang in der Praxis eines Psychiaters – einschalten, gerät Retos Lebenswelt ins Wanken: Hat er ein Gläschen Wein zu viel getrunken? Ist er einsam und bildet sich Dinge ein? Hat er Wahrnehmungsverschiebungen? Kann er seinem eigenen Verstand noch trauen? Doch damit nicht genug: Die Gegenstände können scheinbar nicht nur sprechen, sie haben auch die Beziehung zwischen dem selbstbewussten Produktmanager Reto und seiner Ex-Freundin Susi genau beobachtet und analysiert – und Reto kommt dabei gar nicht gut weg. Wähnt er sich doch als derjenige, der Schluss gemacht hat und der sein Single-Leben genießt, sind die Dinge da vollkommen anderer Meinung. Auch als das Blumenkissen zögerlich davon berichtet, wofür Susi es in Retos Abwesenheit bei ihren Männerbesuchen verwendet hat, erhöht das nicht gerade Retos Selbstwertgefühl …

Martin Suter, bekannt vor allem durch seine hintergründigen – mehrfach ausgezeichneten und verfilmten – Romane, in denen die Protagonisten durch unvorhersehbare, manchmal surreale Ereignisse aus ihrer Lebensroutine gerissen werden, setzt in seinem scharfsinnigen und unglaublich komischen Schauspiel die Beschäftigung mit Figuren im Ausnahmezustand fort. Pointiert, pfiffig und mit bösem Witz erweckt er die Gegenstände zum Leben: Mit dem schwäbisch sprechenden Hugo Boss-Anzug, dem aggressiv-bissigen Topfhandschuh, der launenhaften Pizza, dem schüchternen Blumenkissen, dem therapeutisch bewanderten Sessel oder dem ewig stichelnden Pouf, um nur einige zu nennen, hat er wunderbar plastische Charaktere mit amüsanten menschlichen Eigenschaften entwickelt.

Am Theater Heilbronn wird Regisseur Kay Neumann diese spitzzüngige Komödie mit Unterstützung des Figurenspielers Lukas Schneider als ein Stück für vier Schauspieler in 13 Rollen auf die Bühne bringen. Die Hauptfigur des vermeintlichen Gewinnertypen Reto, dessen falsche Selbsteinschätzung im Laufe des Stücks lustvoll dekonstruiert wird, verkörpert Pablo Guaneme Pinilla. Judith Lilly Raab, Tobias D. Weber und Lukas Schneider spielen nicht nur jeweils einen menschlichen Charakter, sondern kreieren auch als Figurenspieler einen zum Schmunzeln anregenden Bühnen-Kosmos, eine Gesellschaft der Dinge!

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Auf musikalischer Reise durch die Höhen und Tiefen einer Künstlerbiografie

Uraufführung des humorvoll-lebensklugen Stücks »Die Donauprinzessin« des bayerischen Ausnahmekünstlers Georg Ringsgwandl im Salon3

von Sophie Püschel

Juliane Schwabe; Foto © Verena Bauer

Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. Davon kann die junge Schauspielerin (Juliane Schwabe), die in Georg Ringsgwandls musikalischem Theaterstück »Die Donauprinzessin« durch den Abend führt, im wahrsten Sinne ein Lied singen. Einst war sie die große Nachwuchshoffnung des deutschen Theaters: Ihr erstes Engagement führte sie an ein Staatstheater der Oberliga, wo ihr einer der angesagtesten Regisseure Europas die Rolle der Nina in seiner »Möwe«-Inszenierung von Tschechow verschafft. Einladungen zu internationalen Festivals und Lobeshymnen der Presse folgten. Doch nach dem ersten großen Triumph bleibt ihr das Glück nicht lange treu! Wie Tschechows Nina muss auch Georg Ringsgwandls Protagonistin immer tiefer in die Niederungen des Künstlertums steigen und sich so mancher Bewährungsprobe stellen.

Aus Gastverträgen an kleinen Theatern werden schlecht bezahlte Auftritte bei Firmenevents und schließlich bleibt nur der Kellnerjob. Neben dem beruflichen Erfolg verabschiedet sich zu allem Überfluss auch ihr Freund Tim sang- und klanglos aus ihrem Leben. Da Jammern nichts hilft und Miete, Strom und Essen bezahlt werden müssen, landet die Schauspielerin schließlich auf dem Kreuzfahrtschiff »Donauprinzessin«, wo sie zusammen mit zwei Musikern die Passagiere mit Coverhits unterhält. Die »verkannte« Schauspielerin nimmt das Publikum in Georg Ringsgwandls ebenso komischem wie lebensklugem Stück mit auf den Donaudampfer, auf dem die Tage nach einem immer festen Rhythmus verlaufen. Die einzige Abwechslung bieten die ungewöhnlichen Lebensgeschichten und Schicksale der Mitreisenden, die sich nach den Auftritten zu ihr und der Band an die Bar setzen. Die skurrilen Erzählungen füllen mühelos einen ganzen Theaterabend. Während die Schauspielerin das eigene Leben mit den Geschichten der Mitreisenden abgleicht, verleiht sie ihren Gefühlen und Gedanken mit live gesungenen Songs Ausdruck, die von den Beatles bis zu den Dire Straits, von Tina Turner bis Friedrich Holländer, vom Country-Klassiker bis zum Volkslied reichen. Unterstützt wird Juliane Schwabe bei dieser musikalischen Reise von den Multiinstrumentalisten Erik Biscalchin und Micha Schlüter.

Mit bittersüßem Humor und entlarvend genauem Blick für die tragikomischen Details des Lebens blättert der vielfach ausgezeichnete Liedermacher, Kabarettist und Autor Ringsgwandl in »Die Donauprinzessin« die sozialen und seelischen Abgründe einer Künstlerbiografie auf. Analog zu Tschechows Nina erfährt auch Georg Ringsgwandls Schauspielerin am eigenen Leib, dass in der Kunst »nicht der Ruhm, nicht der Glanz die Hauptsache ist, sondern die Fähigkeit zu dulden. Wenn ich an meinen Beruf denke«, so lässt es Tschechow seine Nina formulieren, »habe ich keine Angst mehr vor dem Leben.« Georg Ringsgwandls musikalisch-heitere Dampferfahrt des Lebens wird von der Regisseurin Luise Leschik, die zuletzt Nick
Hornbys »NippleJesus« in Heilbronn inszeniert hat, am 5. Januar 2024 im Salon3 zur Uraufführung gebracht.

Der bayerische Ausnahmekünstler und musikalische Tausendsassa Georg Ringsgwandl (*1948) hat sich als »Karl Valentin des Rock’n’Roll« mit seinen literarisch-skurrilen Liedtexten einen Namen gemacht, wofür er u. a. mit dem »Salzburger Stier«, dem Deutschen Kleinkunstpreis und dem Bayerischen Kabarettpreis in der Kategorie Musik ausgezeichnet wurde. Neben zwölf Alben veröffentlichte er mehrere Theaterstücke und Erzählungen. 2023 erschien sein erster Roman »Die unvollständigen Aufzeichnungen der Tourschlampe Doris« über Glanz und Grusel des Rock’n’Roll. Aktuell ist er gemeinsam mit seiner Band mit dem Programm »Arge Disco« auf Tour in Deutschland und Österreich.

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Als Hospitant am Theater: Immer für einen Lacher gut

Blog von Jacob Wahl, Regiehospitant bei »Extrawurst«

Samstag, 4. März 2023. Der Saal im Komödienhaus füllt sich, mein Handydisplay zeigt: 20:00 Uhr. Gleich beginnt die Premiere. Ich habe das Stück, das hier gleich zur Aufführung kommt, in den letzten Wochen unzählige Male gesehen und kann jeden Satz auswendig mitsprechen. Doch die Premiere vor dem Publikum im ausverkauften Haus ist nochmal etwas ganz anderes.

Hinter mir liegen sechs aufregende Wochen. Sechs Wochen als Regiehospitant bei Extrawurst, einer Komödie, in der die Vereinsversammlung eines Tennisclubs wegen einer scheinbar unbedeutenden Angelegenheit – der Anschaffung eines zweiten Grills für das einzige muslimische Mitglied – aus dem Ruder läuft.

© Björn Klein

Die erste Zeit wurde im Probenzentrum des Theaters Heilbronn geprobt, einem modernen Bau Norden Heilbronns, gelegen zwischen Bahngleisen und Industriegebiet. Von innen wirkt es wie eine Mischung aus Turnhalle und Theaterbühne. Als ich zum ersten Mal in den Probenraum komme, treffe ich dort nicht nur auf den Regisseur des Stückes Folke Braband, sondern auch auf das Ambiente eines Tennisclubs: Überall stehen Pokale und Tennisschläger. Die Schauspielerinnen und Schauspieler kommen dazu, setzen sich auf die Barhocker im Bühnenbild von Tom Presting und sprechen den Text der Szene, die heute geprobt werden soll. Plötzlich bin ich mittendrin im Stück und höre, wie sich die Diskussion um den zweiten Grill entspinnt: Soll man zusätzlich zu dem Grill, das man ohnehin neu anschaffen will, einfach noch einen zweiten kaufen? Oder genügt es einfach, den alten Grill sauber zu machen? Anschließend erlebe ich die gleiche Szene nochmal, diesmal aber nicht nur als Text, sondern gespielt. Der Unterschied fällt mir zuerst ehrlich gesagt kaum auf, weil das Ensemble schon beim Lesen des Textes alles gegeben hat.

Ab da sitze ich Tag für Tag hinter dem großen Tisch im Probenzentrum, schaue mir die Proben an, lache bei den schrägen Gags, trage Änderungen am Text in mein Regiebuch ein und esse währenddessen zu viele Schokokekse. Wenn Tennisbälle über die Bühne fliegen, sammle ich sie wieder auf und bringe das Bühnenbild gemeinsam mit Lisa, der Regieassistentin, wieder in den Originalzustand. Als absoluter Theaterneuling trete ich auch mal in ein Fettnäpfchen: Als ich nach einer Probe begeistert applaudiere, werde ich freundlich zur Seite genommen und lerne, dass man das auf keinen Fall tun darf, denn Klatschen vor der Premiere bringt Unglück – so besagt es zumindest der Theateraberglaube.

Schließlich ist es so weit: Zwei Wochen vor der Premiere wechseln wir vom Probenzentrum auf die Bühne im Komödienhaus. Hier sehe ich zum ersten Mal auch das Originalbühnenbild: Der Schriftzug TC Fortuna Gaffenberg prangt über der Bühne, die nun kaum mehr von einem echten Tennisvereinsheim zu unterscheiden ist. Die Früchte der Arbeit der vergangenen Wochen zahlen sich jetzt aus: Meine Anmerkungen im Regiebuch helfen Lisa, die finale Bühnenfassung für die Mitarbeitenden von Licht und Ton auszuarbeiten. Und am Abend vor der Premiere sagen mir die Ensemblemitglieder, dass ihnen meine Lacher bei den Proben eine große Hilfe waren, um abschätzen zu können, ob die Pointen funktionieren.

Und dann sitze ich in der Premiere unter den Zuschauern. Ganz so gelassen wie bei den Proben kann ich nicht mehr sitzen, weil auch ich gespannt bin, wie das Stück beim Publikum ankommt. An einer Stelle lache ich als einziger, weil einer der Schauspieler einen überraschenden Einfall hat, der aber nur mir auffällt, weil ich das Stück kenne. Am Ende läuft aber alles gut – die Theatergeister haben wohl nochmal ein Auge zugedrückt und mir mein vorzeitiges Applaudieren verziehen. Mit nach Hause nehme ich an diesem Abend nicht nur einen Rucksack voller Premierengeschenke, sondern auch jede Menge ermutigende Erfahrungen und vor allem die Erinnerung an eine schöne, witzige Zeit.

Warm gespielt – Fortbildungsreihe Theaterpädagogik

Für Sportler ist ein »Warm-Up« vor dem Spiel selbstverständlich. Aber auch in der Schule sind »Warm-Up«-Spiele ein guter Start. Sie dienen der Konzentrationsförderung oder eignen sich prima für ein Auflockern zwischendurch. Der Kopf wird wach, Körper und Stimme werden aufgewärmt und man wird warm mit der Gruppe. Fehlen nur noch die passenden Ideen dazu …

Die Theaterpädagoginnen Natascha Mundt und Simone Endres halten im ersten Teil der dreiteiligen Fortbildungsreihe »Grundlagen Theaterpädagogik« für Pädagogen jede Menge kreativen Input für »Warm-Up«-Spiele bereit.

Ein Spiel ohne Verlierer: Ziel ist es, dass sich alle Teilnehmer auf die Stühle retten können und kein Fuß den Boden berührt.
Foto: Natascha Mundt.

Mit großer Spielfreude im Gepäck versammelt sich im Oktober eine bunt zusammengewürfelte Gruppe im Salon3 zum Workshop. In lockerer Runde stellen sich die Teilnehmer kurz vor und man findet sich auf Anhieb interessant und sympathisch. Mit dabei sind unter anderem Pädagogen aus den Bereichen Sonderschulpädagogik, Fremdsprachen, Sport und Musik. Einer der Teilnehmer plant eine Theater AG an seiner Schule zu gründen, eine andere Teilnehmerin hat bereits »aus Versehen« eine gegründet.

Unter Anleitung der Pädagoginnen Natascha Mundt und Simone Endres wird das erste Spiel erklärt, das dabei helfen soll, sich die Namen der Teilnehmer besser einzuprägen. Dazu wird ein Kreis gebildet, zwei Bälle werden als Hilfsmittel benutzt. Eine Person muss sich eine andere Person aus dem Kreis heraussuchen, ihren Namen rufen und ihr den Ball zuwerfen. Nach der ersten Runde wird das Ganze in derselben Reihenfolge wiederholt. Nachdem die erste Runde gut geklappt hat, kommt der zweite Ball ins Spiel. Aber aufgepasst, der zweite Ball bekommt eine andere Reihenfolge als der erste! Gar nicht so einfach, wenn zwei Bälle durch die Luft fliegen und man sich blitzschnell daran erinnern muss, welchen Ball man welcher Person zugeworfen bzw. zuzuwerfen hat.

Konzentration erfordert auch das Assoziationsspiel. Eine Person wählt zu Beginn ein Thema (beispielsweise: Klassenarbeit) und die nächste Person darf ihrer Phantasie freien Lauf lassen und eine Assoziation zu dem vorher genannten Begriff nennen. Die Runde wird auf diese Weise fortgesetzt und es wird darüber gelacht, was für ulkige Verbindungen zu Stande kommen. Am Ende der Schock: Die Runde soll von rückwärts rekonstruiert werden und jede Person muss sich daran erinnern, was sie selbst und die Person nach ihr gesagt hat. Als Hilfe dient das Schema »ich habe x gesagt, weil du y gesagt hast«. Schließlich ist das Staunen groß, dass auch eine scheinbar so komplexe Aufgabe bewältigt werden kann. Eine schöne Idee hat auch eine Pädagogin, die vorschlägt, dass man das Assoziationsspiel gut nach einer Klassenfahrt spielen könnte und dadurch die individuellen Erinnerungen gemeinsam Revue passieren lässt.

Da es bei den Spielen viel um Kreativität geht, ist die Logik manchmal im Weg. Im nächsten Spiel wird daher bewusst mit logischen Denkmustern gebrochen. Eine Person darf pantomimisch eine Situation vorspielen (z.B. einen Kuchen backen). Eine andere Person muss daraufhin fragen »Was machst du?«. Die spielende Person muss auf die Frage hin eine komplett andere Tätigkeit nennen als sie gerade ausführt (z.B. Wäsche waschen statt Kuchen backen). Für die fragende Person ist die Antwort das Stichwort, denn nun muss sie selbst pantomimisch aktiv werden. Sie wird wiederum von der nächsten Person gefragt »Was machst du?« und muss eine möglichst skurrile Antwort geben. Auch hier entstehen lustige Situationen:

A: (hampelt wie ein Clown)

B: Was machst du?

A: (hampelt wie ein Clown) Ich unterrichte!

B übernimmt die Aussage von A und spielt einen Lehrer vor der Klasse.

C: Was machst du?

B: (gestikuliert wie ein Lehrer vor der Klasse) Ich rette die Welt!

Die Theaterpädagoginnen erklären, dass es bei allem nicht um ein Schwarz-Weiß-Denken in »richtig« und »falsch« geht. Insgesamt soll den Kindern die Angst genommen werden, Fehler zu machen. Denn nur, wer etwas riskiert und Fehler macht, kommt durch die Erfahrung weiter und kann sich weiterentwickeln.

Am Ende des Workshops wird es ganz schön kuschelig. »Wir spielen Reise nach Jerusalem«, kündigt Natascha Mundt an, »allerdings mit neuen Spielregeln«. Das Spiel heißt dann »Reise nach New York«. Verlierer gibt es keine, die einzige Challenge ist, dass sich alle Teilnehmer auf die Stühle retten können und kein Fuß den Boden berührt. Leichter gesagt als getan, wenn am Ende nur noch zwei Stühle übrig sind, auf die sich eine ganze Gruppe drapieren muss. Eine riesen Gaudi ist es allemal!

Diese und noch viel mehr Bewegungs- und Konzentrationsspiele gab es im Oktober 2022 beim ersten Teil
»Theaterpädagogik 1: Warm-Up« der dreiteiligen Fortbildungsreihe »Grundlagen Theaterpädagogik«.
Klingt spannend? Dann sei unbedingt bei Teil 3 dabei:

Theaterpädagogik 3: Improvisation
Mi., 01.03.2023, 17:00 – 19:00 Uhr

Außerdem bieten wir verschiedene Schwerpunkt-Fortbildungen an:

Schwerpunkt-Fortbildungen

Philosophieren mit Kindern:
24.03.2023, 17:00 – 19:00 Uhr

Bewegung im Raum:
17.05.2023, 17:00 – 21:00 Uhr

Drama im Unterricht zum Anfassen:
14.06.2023, 17:00 – 21:00 Uhr

Mehr Informationen findest du hier.

»Wenn ein Bild nicht gut ist, warst du nicht nah genug dran«

Theaterkreis des Seniorenbüros zum Thema »Theaterfotografie« mit Fotograf Candy Welz und Dramaturgin Sophie Püschel. Mit dabei ist außerdem eine Schulklasse vom Kolping Bildungswerk.

Candy Welz im Gespräch mit unserer Dramaturgin Sophie Püschel.

Heute nicht hinter, sondern vor der Kamera: Candy Welz fotografiert seit der Spielzeit 2018/19 für uns am Theater Heilbronn. Ganz gespannt lauscht das Publikum, was Candy über seinen Beruf zu erzählen hat, für den es besonderes Fingerspitzengefühl braucht. »Keiner fängt als Theaterfotograf an«, antwortet Candy auf die Frage, wie er zur Theaterfotografie gekommen ist, »es dauert, bis man ein Gespür dafür bekommt«. Der Fotograf aus Weimar fotografiert bereits journalistisch für namhafte Zeitungen wie die Welt, Reuter oder den Stern. Sein Studium absolviert er in Medienkultur, praktische Erfahrung kann er anschließend bei der Regionalzeitung (Thüringer Allgemeine) sammeln. Dort fotografiert er für die Ressorts Sport, Politik sowie Theater. Als die journalistische Fotografie anfängt »den Bach runterzugehen«, konzentriert er sich mehr auf die Theaterfotografie.


Die journalistische Fotografie erweist sich als eine gute Schule: Candy lernt mit Druck und der Einmaligkeit der Ereignisse umzugehen. »Ausreden kann ich nicht drucken« – dieser Satz seines Chefs hat sich ihm ins Gedächtnis gebrannt. Candy geht erst, wenn er ein gutes Foto in der Tasche hat, egal wie groß oder klein der Auftrag ist. Das Fotografieren von Theateraufführungen bringt neue Herausforderungen mit sich: schwierige Lichtverhältnisse und je nach Stück tummelt sich eine unterschiedliche Anzahl an Darstellern auf der Bühne. Ob sich Candy da inhaltlich noch auf das Stück konzentrieren kann? Meistens bekommt er nur die Hälfte mit, zu sehr ist er mit dem Wechsel der Objektive beschäftigt. Ganz unvorbereitet geht der Fotograf jedoch nicht an die Arbeit. Am Theater Heilbronn gibt es zuvor immer ein Gespräch mit den Stückdramaturgen. Diese geben ein kurzes Briefing und weisen den Fotografen auf konzeptionelle Schwerpunkte hin. Außerdem werden die Anforderungen an die Bilder je nach Publikationsart (Leporello, Website, etc.) besprochen.

Das neugierige Publikum stellt Candy an diesem Abend viele Fragen: Ob er schon einmal Prominente fotografiert habe? Beschweren sich eigentlich die Schauspieler, wenn sie sich auf den Fotos nicht gefallen? Ja, Prominente hatte der Fotograf im Laufe seiner journalistischen Arbeit mehrfach vor der Linse. Anfangs ist er nervös, denkt »Hoffentlich versau ich’s nicht«, mit der Routine wird jedoch klar »die sind auch nur Menschen«. Die zweite Frage verneint er. Unsere Dramaturgin Sophie Püschel ergänzt, dass auch das Theater nichts davon habe, wenn die Schauspieler auf den Bildern unvorteilhaft aussehen bzw. einen unpassenden Ausdruck hätten. Wichtig ist, dass die Fotos den Kern der Inszenierung widerspiegeln.

Anschließend zeigt Candy eine Reihe spannender Theaterfotografien, die von verschiedenen Inszenierungen entstanden sind. Von extrem ausgefallenen Bühnenbildern, Nebel und Wasser auf der Bühne ist alles dabei. Mit wechselnden Lichtverhältnissen können Bilder derselben Inszenierung ganz unterschiedlich aussehen. Ideale Vorrausetzungen sind für Candy viel Bewegung auf der Bühne und Lichtwechsel. Gerne ist der Fotograf ganz »nah dran«. Ist einmal ein Fuß abgeschnitten bzw. nicht mehr im Bildausschnitt zu sehen, stört ihn das nicht: »Das perfekte Bild ist langweilig«. Leitgedanke für seine Arbeit ist Robert Capas Maxime: »Wenn ein Bild nicht gut ist, warst du nicht nah genug dran«. Damit kann sowohl der physische Abstand als auch die gedankliche Auseinandersetzung gemeint sein. Einmal war Candy sogar selbst Teil einer Inszenierung und konnte zum Fotografieren ganz nah an die Darsteller heran. Das Publikum ist von den Fotos beeindruckt. Zum Schluss gibt es eine letzte Frage, und zwar, ob Candy von sich Selfies mache. Er lacht: »Nein. Es gibt einen Grund, warum ich mich hinter der Kamera verstecke«.

Nicht gesucht, aber gefunden

Figurentheater ist für Katja Spiess die innovativste der Darstellenden Künste und eine große Leidenschaft

Foto: Max Kovalenko

Hand aufs Herz! Woran denken Sie, wenn Sie den Begriff Figurentheater hören? Wahrscheinlich kommt vielen, zumindest denjenigen, die noch nie die »IMAGINALE« besucht haben, zuerst und ausschließlich die Augsburger Puppenkiste oder das Kasperle-Theater aus Kindertagen in den Sinn. So ging es vor 29 Jahren auch Katja Spiess, die nach ihrem Studium der Germanistik, Geschichte und der vergleichenden Literaturwissenschaften auf der Suche nach einer Dramaturgie-Stelle im Theater war. Im Bereich Tanz oder Schauspiel sollte es sein. Figurentheater hatte sie gar nicht auf dem Schirm, als ihr durch Zufall ein Job in der Pressestelle/Dramaturgie des FITZ, des Theaters animierter Formen, in Stuttgart angeboten wurde. Sie willigte ein, wollte maximal ein Jahr bleiben. Jetzt sind es 29 Jahre, 20 davon als Leiterin des FITZ und als Mitbegründerin des Festivals »IMAGINALE« im Jahre 2008, das zu den wichtigsten Figurentheaterfestivals in Europa gehört. Sie hat ihre berufliche Liebe dort gefunden, wo sie nicht im Traum darauf gekommen wäre, zu suchen. Die Leidenschaft ist bis heute frisch, wird geradezu ständig neu entfacht. Denn kaum eine Kunstform ist so innovativ und entwickelt sich so dynamisch wie das Figurentheater, sagt Katja Spiess. »Dies liegt an dem ungeheuren Potential an künstlerischer Veränderung und Weiterentwicklung, die im Figurentheater steckt, und an der inspirierenden Kraft, die von diesem Genre ausgeht. Der Fundus dieser virtuosen Kunst reicht vom zerknüllten Papier bis zur filigranen Marionette, von Masken bis zu Licht, Raum und Schatten, von der Stabpuppe bis zum Alltagsobjekt. Grenzüberschreitungen zu Schauspiel, Musik, Tanz und Pantomime sind inzwischen selbstverständlich und machen Figurentheater zu einer sehr zeitgemäßen Kunstform.

Mit Beginn des neuen Jahrtausends bewegen sich vor allem die jungen Theatermacher verstärkt auf die anderen Künste und die Neuen Medien zu. Sie definieren ihr künstlerisches Selbstverständnis nicht mehr im Kontext herkömmlicher Inszenierungs- und Aufführungstraditionen. Bildende Kunst, Performance Art, Musik, Film, Video werden in ästhetische und inhaltliche Strategien eingebunden, die interdisziplinärem Denken entspringen, und unbefangen zu verschiedensten künstlerischen Ausdrucksweisen vereinigt.« So wird auf der Homepage des FITZ mit Begeisterung geworben. Aber nicht nur die fantastische Bandbreite an Formen ist beeindruckend. »Figurentheater kann auf besondere Weise vom Menschen erzählen«, schwärmt Katja Spiess. Es greift die großen Menschheits-Themen auf: Das Leben in all seiner Schönheit und Mühsal, den Tod aber auch die große Politik. Es darf Schabernack treiben, in die tiefsten Abgründe schauen, frech und politisch unkorrekt sein. Und es darf Grenzen überschreiten, die Schauspielern aus Fleisch und Blut gesetzt sind. Man kann den Puppen unendlich viel zumuten. »Aber am Ende vergisst man, dass es Puppen sind und man könnte schwören, dass die Masken nicht starr gewesen sind, weil das Spiel einen emotional so tief berührt hat.«

Für die »IMAGINALE« wählt Katja Spiess alle zwei Jahre die spannendsten internationalen Figurentheaterinszenierungen aus. Sie fährt im In- und Ausland herum, um neue Stücke anzuschauen und besucht viele Festivals. Eigentlich sollte die 8. »IMAGINALE« bereits 2022 stattfinden, aber die Coronabedingten Unsicherheiten machten ein internationales Festival zu diesem Zeitpunkt unmöglich und es wurde um ein Jahr verschoben. Für die »IMAGINALE« 2023, die nun vom 02. bis 12. Februar 2023 stattfindet, konnte sie nur wenig reisen. Stattdessen hat sie viele großartige Künstlerinnen und Künstler angesprochen und nach neuen Arbeiten gefragt. So wird das 8. Festival animierter Formen auch eine kleine Wundertüte mit vielen Stücken, die dann zum ersten Mal zu sehen sein werden.

Diese eine Liebe wird nie zu Ende gehen

Die Heilbronner und ihr Theater: 40 Jahre Theaterneubau am Berliner Platz in Heilbronn
»Ein Theater-Neubau ist kein Ereignis, sondern eine Verpflichtung zu einem Ereignis, das nur durch tägliche harte Arbeit erzielt werden kann: Theater.« – Friedrich Dürrenmatt

Der Theaterneubau am Berliner Platz von oben. Foto: Krug

»Liebe Theaterfreunde! Heute habe ich Ihnen nichts Programmatisches zu sagen – nichts Ihnen ans Herz zu legen – Sie um nichts zu bitten. Keine Sorgen habe ich vor Ihnen auszubreiten – habe um nichts zu kämpfen, das bewahrt, durchgesetzt oder verhindert werden sollte – habe nicht um Ihre Aufmerksamkeit zu werben, um Ihre Behütung oder Ihre Mithilfe. Das wird sicher wiederkommen, liebe Theaterfreunde, wenn das neue Haus erst einmal Normalität und Arbeitsalltag geworden ist, und dann werde ich wieder vor Ihnen stehen mit Nöten und Notwendigkeiten. Heute habe ich nur eines – Ihnen zu danken, daß Sie alle – mit so viel Vertrauen – in so großer Zahl auf uns zugekommen sind, um dabeizusein, wenn wir um und für Leben spielen werden im neuen Theater Heilbronn. Ich würde Ihnen gerne applaudieren – wie Sie so oft uns – wenn die Feder Hände hätte. Ich werde arbeiten, daß Sie Grund haben, bei uns bleiben zu wollen in den kommenden Jahren im neuen Theater, verspricht Ihnen Ihr Klaus Wagner.« So schreibt der 1979 in sein Amt gewählte Intendant in der ersten Ausgabe der Theaterzeitung nach der Eröffnung des Theaterneubaus am Berliner Platz, dessen Geburtstag wir am 16. November 2022 zum vierzigsten Mal feiern dürfen. Er wusste, an wen er sich dankend zu wenden hat, nämlich an all jene, deren vehementer Arbeitseifer in ideeller wie in materieller Hinsicht diesen Theaterbau in einem entscheidenden Maße überhaupt erst ermöglicht hatte. Und das nicht zum ersten Mal in der Geschichte, nein, die Geschichte des Heilbronner Theaterlebens lässt sich nicht ohne die Geschichte seiner außergewöhnlich engagierten Bürgerschaft erzählen, die nicht etwa ein neues, sondern vielmehr alle drei zentralen Theaterbauten der Stadt – ganz zu schweigen von den unzähligen kleineren Bühnen, die als Übergangsstationen fungieren mussten – mit aufgebaut und mitgestaltet hat. Und Klaus Wagner wusste ebenso, auf wen er sich auch im schlimmsten Falle bittend verlassen kann: auf all jene, die in lebendiger Partnerschaft mit dem Theater gemeinsam das Bühnengeschehen dieser Stadt gestalten sollten.

Man sagt, dass der Schwabe mit dem Eintritt ins Schwabenalter, also mit vierzig Jahren, g’scheit würde. Nehmen wir also den vierzigsten Geburtstag des Theaterneubaus zum Anlass, zurückzublicken und zu prüfen, ob der vermeintliche Spätzünder wirklich erst jetzt ins Alter vernünftiger Reife eintritt – oder ob er nicht vielmehr, trotz des »Theaters um das Theater«, das integraler Bestandteil seiner Geschichte ist, schon weitaus früher weise war: Vor allem dann, wenn das Theater wagte, in dankende, bittende, sich gegenseitig fordernde und fördernde Beziehung mit seinem lebendigen Partner, der Heilbronner Bürgerschaft, zu treten.

Ein historischer Blick zurück, der immer auch ein lehrreicher Blick in die Zukunft sein kann.

Text und Recherche: Clemens Miersch
Fotoauswahl und Recherche: Kea Leemhuis, Rebekka Gogl

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Heilbronn kann zurückblicken auf eine bis ins späte Mittelalter zurückreichende Theatertradition, die hier nur schlaglichtartige Betrachtung anhand der drei zentralen Bauten der Heilbronner Theatergeschichte – des Aktientheaters, des Fischer-Theaters und des Theaterneubaus am Berliner Platz – erfahren kann. Wurde Theater hier anfangs vor allem durch die Kirchen und die Zünfte belebt, gastierten spätestens seit dem Dreißigjährigen Krieg viele Wanderschauspieltruppen in Heilbronn, die sich zunehmend und gegen das Misstrauen der Obrigkeit in der Stadtgesellschaft etablieren und der Bevölkerung Bühnenkunst bieten konnten. Entscheidend zur Entwicklung der Theatergeschichte in Heilbronn trug die Erweiterung der Stadt nach Osten bei: Der Heilbronner Bürger Carl Christoph Braunhardt legte im Jahre 1817 jenseits der Stadtmauer – dort, wo sich heute die Harmonie befindet – einen Biergarten an, der 1819/20 um einen Gartensaal erweitert wurde. Dieser wurde zu einer wichtigen Spielstätte für die Wanderbühnen. In der Folge kauften die Bürgerschaft und die Stadt mit aus Aktien gewonnenem Kapital dieses Anwesen. Für Theaterkunst allerdings waren die baulichen Verhältnisse unzulänglich und so wurde erstmals der Ruf nach dem Bau eines Theatergebäudes laut, der an der Westseite des Aktiengartensaales erfolgen sollte. Im Jahre 1842 wurde die Stadt Heilbronn ersucht, diesen Bau nicht nur zu genehmigen, sondern auch finanziell mit zu stemmen. Gleichwohl der Stadtrat das Bauvorhaben genehmigte, stellte sich die Obrigkeit gegen eine Subventionierung vonseiten der Stadt. Erstmals in der Geschichte des Heilbronner Theaterlebens wird in ganz besonderem Maße deutlich, was immer wieder entscheidender Einflussfaktor sein sollte: das besondere Engagement der Heilbronner Bürgerschaft, wenn es darum geht, Theater als notwendigen infrastrukturellen und ideellen Bestandteil ihrer Stadtgesellschaft zu etablieren und zu bewahren. Selbst nach Absage finanzieller Unterstützung durch die Stadt ließen sich die Bürgerinnen und Bürger nicht von dem Vorhaben abbringen. Sie kauften die Anteile der Stadt am Aktiengarten auf und übernahmen den Betrieb in ihre Hände. Damit räumten sie den Weg frei für die Genehmigung des Theaterbaus. Am 9. November 1844 wurde das Aktientheater schließlich eingeweiht. Hier konnte nicht nur eine Intendanz und ein festes Ensemble etabliert werden. Schauspiel-, Opern- und Operettenaufführungen sorgten für regen Publikumsverkehr und Heilbronn gewann nach und nach den Ruf, über ein herausragendes Stadttheater zu verfügen. Regelmäßigkeit kehrte in den Folgejahren in das Theatergebäude ein. Doch schnell wurde auch klar: Der Theaterbau, nun »Rumpelkasten« genannt, reichte in architektonischer Hinsicht nicht mehr aus, um den Ansprüchen neuzeitlicher Theaterkunst gerecht zu werden. Aus Brandschutzgründen wurde das Aktientheater 1903 geschlossen. Die das Gebäude verwaltende Harmonie-Gesellschaft konnte den Bau aufgrund hoher Kosten nicht selbstständig renovieren. So ging das Theater schließlich wieder in städtische Hand über. Doch der bereits im Jahre 1902 entstandene Wunsch nicht nur nach einem Umbau, sondern nach einem Theaterneubau, scheiterte vor allem am mangelnden Geld.

Das Heilbronner Aktientheater. Foto: Stadtarchiv Heilbronn, Fritz Wolff

Im Mai des Jahre 1908 ruft der damalige Oberbürgermeister Paul Göbel schließlich zu Stiftungen und Darlehen für die Realisierung eines neuen Baus auf. Innerhalb kürzester Zeit sind 500 000 Mark zusammengetragen. Wiederum wird die enorme Spendenbereitschaft der Bevölkerung sichtbar. Selbst als die kalkulierten Kosten während der Bauphase nach oben korrigiert werden mussten, scheute man nicht zurück und auch die nun notwendigen 625 898 Mark werden zusammengetragen. »Erbaut von der Bürgerschaft 1912/1913« sollte am Ende ganz treffend die Inschrift am Theaterneubau lauten. Der Bau nach den Entwürfen des Architekten Theodor Fischer konnte beginnen: Am 9. Mai 1912 erfolgte die Grundsteinlegung; am 30. September 1913 wurde das Haus eingeweiht. Ihm sollte jedoch eine viel zu kurze Geschichte beschert sein: Nur 31 Jahre sollte es als Schauspielhaus dienen und dann sein Dasein gute 26 Jahre weitgehend als Ruine fristen. Nicht nur der im Jahre 1914 beginnende Erste Weltkrieg markierte eine Zäsur. Auch die Machtübernahme der Nationalsozialisten und der damit einhergehende Zweite Weltkrieg ließen die Blütejahre der Zwischenkriegszeit, die man am Fischer-Theater erlebte, verblassen. Am 28. Juni 1944 erfolgte die letzte Vorstellung. »Von jetzt ab gehört ihr mir!« sind die Worte, mit denen NSDAP-Kreisleiter Richard Drauz die Theatermacher im Anschluss an die »Nabucco«-Vorstellung zur Kriegsdienstpflicht ruft.

Das Heilbronner Fischer-Theater, »Erbaut von der Bürgerschaft 1912/1913«. Foto: Stadt Heilbronn, Baudezernat

4. Dezember 1944, 19:22 Uhr: »Come in and bomb red TI’s as planned« – »Fliegen Sie ein und bombardieren Sie die roten Zielmarkierer nach Plan«. Der Funkspruch von Maurice A. Smith befiehlt die Bombardierung Heilbronns. 1260 Tonnen Bomben fallen und verursachen einen Vernichtungsgrad der Stadt von 62 Prozent. Auch wenn das alte Fischer-Theater die Luftangriffe vergleichsweise glimpflich überstand, unbrauchbar für den Spielbetrieb wurde es dennoch. Damit kündigte sich bereits eine lange Phase des Theaterspiels in Provisorien und Übergangsbauten wie auch des jahrzehntelangen »Theaters um das Theater« an. Auch wenn die Sehnsucht nach Theater die Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg schnell wieder ergriff und sich auch in konkreter Arbeit realisierte – zum Teil unter widrigen, aber auch die Kreativität notgedrungenermaßen beflügelnden Bedingungen, die der Qualität des Theaters nicht zwangsläufig einen Abbruch taten –, der Streit um die baulichen wie finanziellen Bedingungen eines Neu- oder Wiederaufbaus sollte sich vom Zeitpunkt der Zerstörung des Fischer-Theaters im Jahre 1944 bis zur Eröffnung des Theaterneubaus am 16. November 1982 beinahe so lange ziehen, wie wir heute Geburtstag des Neubaus feiern.

Bereits am 1. November 1945 gab das Heilbronner Künstlertheater, das vorrangig aus Mitgliedern des alten Stadttheaters bestand, im neubezogenen Trappensee-Saal seine erste Vorstellung. Die Tatsache, dass Brennholz als Eintrittspreis diente, verdeutlicht beispielhaft die missliche Lage kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Lange sollte der Trappensee-Saal auch nicht als Spielstätte dienen können: Das Theater musste einer Schule und Filmvorführungen weichen. In der Folge bezog das Theater den Saalbau »Zur Sonne« in Sontheim. Die Zuschauergunst minderte dies keineswegs. Ganz getreu dem damaligen Spielzeitmotto »Und neues Leben blüht aus den Ruinen« kamen in unmittelbarerer Nachkriegszeit allein in der ersten Spielzeit 75 202 Besucher, um eine der 214 Vorstellungen zu sehen. In den folgenden Jahren wandelte sich das Heilbronner Künstlertheater zum Neuen Theater Heilbronn. Doch auch im Sontheimer Provisorium endete am 2. April 1949 der Theaterbetrieb. So ganz ohne Theater wurden nun erneut die Stimmen lauter, die die Neugründung eines Theaters wünschten und die Hoffnung auf einen Wiederaufbau des alten Stadttheaters hegten. Auf der Suche nach weiteren Übergangsspielstätten trat eine Gruppe Theaterbegeisterter 1951 schließlich an den Ortsausschuss des Deutschen Gewerkschaftsbundes heran: Denn der große Saal des Gewerkschaftshauses war eine der wenigen verbliebenen, für Theateraufführungen geeigneten Räumlichkeiten. Der DGB gestand den Theaterenthusiasten sowohl Mittel wie Räumlichkeiten zu, die man – neben weiteren kleinen Ausweichbühnen – lange Jahrzehnte bespielten sollte. Der hohe Zuschauerandrang führte schließlich zur Gründung des Vereins »Kleines Theater Heilbronn e.V.« Der Spielplan wurde diverser; Gastspiele konnten gegeben werden. Zur Spielzeit 1954/55 wurde Walter Bison Oberspielleiter des Theaters, der ab der Spielzeit 1956/57 Intendant werden und die kommenden Jahrzehnte bis 1980 entscheidend prägen sollte.

Und das alte Fischer-Theater am Nordende der Allee? Entsprechend finanziellen Möglichkeiten lediglich teilweise wieder instandgesetzt, diente es als Probenort für das »Kleines Theater Heilbronn e.V.«, vorrangig aber auch als eine Unterkunft für die städtischen Ämter. Bereits 1952 forderten Mitglieder des Kleinen Theaters die Kommunalpolitik zum Wiederaufbau des Alten Theaters auf: Während eines Spektakels geisterten sie in den Trümmern des zerstörten Hauses und begannen symbolisch mit dem Wiederaufbau. Doch nicht nur ihre Stimmen wurden in den folgenden Jahren von Gemeinderat und Stadtverwaltung nicht gehört. Auch gegenüber einem Großteil der Bevölkerung, der sich einen Wiederaufbau wünschte, blieb man zunächst taub. Zunehmend entwickelte sich jedoch das Bewusstsein für die Frage nach einer Wiederbelebung eines zentralen Theaterbaus in der Stadt. Auch die kursorische Berichterstattung öffentlicher Medien wie der Heilbronner Stimme schärfte darauf ein. Unter diesem Druck gestand 1958 der damalige Oberbürgermeister Paul Meyle: »Der Wiederaufbau des Theaters kann nicht länger aufgeschoben werden.« Doch dem prinzipiellen Einverständnis des Gemeinderats musste er schon im Folgejahre entgegenhalten, dass kein für einen solchen Bau hinlänglich erfahrener Architekt gefunden werden konnte.

1960 nahm man schließlich zum auf Theaterbauten spezialisierten Hannoveraner Architekten Gerhard Graubner Kontakt auf. Ortsbesichtigungen der Ruine sowie die Erstellung eines Gutachtens erfolgten, das Graubner Mitte 1961 dem Gemeinderat vorstellte. Er sprach sich gegen einen Wiederaufbau aus und lieferte stattdessen das Modell für einen Theaterneubau an gleicher Stätte. Die FDP-Fraktion durchkreuzte diese Pläne und brachte einen anderen Standort am Bollwerksturm ins Rennen, was heftige Debatten zwischen ihr und der für den alten Platz am Nordende der Allee kämpfenden SPD lostrat. Freie Wähler, Christdemokraten und Liberale setzten sich schließlich 1962 gegen den Oberbürgermeister und die SPD durch: Graubner erhält keinen Planungsauftrag für den Bau – eine Entscheidung, die nur geringe Zeit später gekippt werden sollte. Ein kommunalpolitisches Hin und Her verzögerte die Entscheidung bis zur Vergabe des Planungsauftrags an Graubner Ende 1962. Kostenschätzung damals noch: 10,8 Millionen Mark. Doch einem zeitnahen Bau-, geschweige denn Spielbeginn erteilte Baudezernent Karl Nägele eine klare Absage. Absagen, die sich auch in den folgenden Jahren wiederholen sollten, und den Baubeginn stetig vertagten. Weitere Planungsentwürfe folgten: Einer inzwischen sowohl den Abbruch, die Außenanlagen und die Tiefgarage umfassenden 22,3-Millionen-Mark-Version folgte 1966 der abgespecktere 15,8-Millionen-Mark-Entwurf Graubners. »Ein guter Plan, aber für die Schublade«, so der Stadtrat der Freien Wählervereinigung Willy Schwarz. Im Jahre 1967 befeuerte erneut eine Umfrage der Heilbronner Stimme die Debatte, die ergab, dass eine klare Mehrheit der Befragten für einen Wiederaufbau und weniger für die Realisierung des Graubner-Baus votiere. Dem hielt Oberbürgermeister Hans Hoffmann entgegen: »Die Politik der Gemeinde sollte im Rathaus und nicht im ‘Heilbronner-Stimme’-Haus gemacht werden!« Den ungebremsten Enthusiasmus der Heilbronner Bürgerschaft, in den Jahrzehnten nach dem Kriegsende bis zum schlussendlichen Neubau unermüdlich Spenden zu sammeln sowie Vereine und Initiativen zu gründen, die sich dem Ziel verschrieben hatten, ein eigenes Stadttheater fest im Stadtbild zu etablieren – etwa den Theater-Förder-Verein im Jahre 1968 unter Vorsitz des Kulturbürgermeisters Erwin Fuchs – , schmälerte dieses Politikdrama zu keiner Zeit. Bis November 1982 sammelte allein der Theater-Förder-Verein 2,6 Millionen Mark für einen neuen Theaterbau.

Ein Beispiel der zahlreichen Aktionen der Heilbronner Bürgerschaft zum Sammeln von Spenden für den Theaterbau: Dieser Arbeitskreis von Frauen trug mit Basaren zum Erfolg des Theaterfördervereins bei. Foto: Heilbronner Stimme, Kugler

Im Jahre 1969 erfolgte dann per Gemeinderatsentscheidung die Auftragsvergabe an Gerhard Graubner. Der Weg zum Abriss des Alten Theaters war endgültig freigeräumt: Am 18. Juli 1970 um 16:40 Uhr wurde der Fischer-Bau gesprengt. Weit über 1000 Schaulustige erlebten, wie das Gebäude zu einem riesigen Schutthaufen zusammensackte. »Eine Stunde der Wehmut«, konstatierte der unermüdlich für das Theater kämpfende Bürgermeister Erwin Fuchs. Die Sprengung des alten Gebäudes blieb umstritten, der Wiederaufbau keine Option mehr. Und auch die weitere Planung und Umsetzung des Neubaus sollte noch die ein oder andere städteplanerische Hürde nehmen und viel kommunalpolitischen Zank über sich ergehen lassen müssen. Nur sechs Tage nach der Sprengung des alten Baus folgte die nächste Hiobsbotschaft: Architekt Gerhard Graubner ist tot. Die erneute Verzögerung des Bauvorhabens musste hingenommen werden.

Architekt Gerhard Graubner mit einem Modell des Theaterneubaus. Foto: Heilbronner Stimme, Eisenmenger

Der Finger lag durchgehend mahnend im Finanzbuch der Stadt: Und so provozierten auch die steigenden Kosten, die Oberbürgermeister Hoffmann inzwischen auf 25 bis 30 Millionen bezifferte, weiter die Ablehnung des Graubnerschen Konzepts vonseiten der FDP, CDU und FWV; die Freien Wähler erhoben gar die Forderung nach einem Bürgerentscheid. Während die beiden Fronten stritten, starb der nächste »Vater« des Graubner-Baus: Thomas Münter, der schon unter Graubner für die Bühnentechnik verantwortlich zeichnete, schied 1972 aus dem Leben. Die weitere Planung oblag nun den beiden Architekten Rudolf Biste und Kurt Gerling.

In den beiden darauffolgenden Jahren legten die Fraktionen jeweils unterschiedliche Alternativkonzepte für den Theaterbau vor: Die CDU wollte kostengünstiger das Gelände der Kelter in der Gymnasiumstraße bebauen, die Freien Wähler das Gelände der Weingärtner-Genossenschaft. Mit den Stimmen der SPD, des Oberbürgermeisters sowie der FDP wird 1974 jedoch der Bau des Graubner-Entwurfs am Berliner Platz vom Gemeinderat beschlossen. Für eine weitere Verzögerung sorgte allerdings die mit der Bauplanung verbundene und 1976 abgesegnete Geradeausführung der Allee auf die Weinsberger Straße. Plötzlich erregte die kolportierte Gesamtkostensumme von 60 Millionen Mark Ärger – erneute Kostenrechnungen und Vorschläge günstigerer Theaterpläne zirkulierten. Ausgerechnet der Oberbürgermeister Hoffmann selbst trat 1977 mit einer neuen Idee eines Theater- und Kongresszentrums Harmonie auf. Der Graubner-Plan sei veraltet. Doch auch er, dafür heftig gescholten, konnte es nun nicht mehr ändern: Die Realisierung des Baus nach den Plänen Graubners – oder nun besser: den Plänen Graubners, Bistes und Gerlings – wird im Dezember 1977 knapp, aber mehrheitlich, beschlossen. Nach jahrzehntelangem Gezeter quittierte nun auch der Widerstand gegen den Theaterneubau. Der letztgültige Baubeschluss erging am 16. November 1978 durch den Gemeinderat; der erste Spatenstich folgte am 28. November 1979 durch Oberbürgermeister Hoffmann. Das Ende des »Theaters um das Theater« markierte bekanntlich die Eröffnung des Neubaus, dessen Geburtstag wir dieses Jahr am 16. November zum vierzigsten Mal feiern dürfen. Endbilanz: 67 285 000 Mark, samt Zusatzkosten; Kosten allein für den Theater-Bau: 54 729 000 Mark.

Der erste Spatenstich am 28. November 1979 durch den Heilbronner Oberbürgermeister Dr. Hans Hoffmann: »Damit ist die Verwirklichung des Theaterprojektes eingeläutet!« Foto: Stadt Heilbronn, Baudezernat

Hans Viehweg, Schauspieler und Regisseur am alten Stadttheater, nannte die Eröffnung begeistert »ein Jahrhundert-Ereignis.« Margot Winkler, frühere Opern- und Konzertsängerin, meinte: »Heilbronn kann stolz und glücklich sein über so ein Theater.« Zahlreiche von Euphorie getragene Stimmen ließen sich herbeizitieren. Und dennoch: Der Streit um diesen Theater-Neubau und die damit verbundenen gigantischen Geldsummen haben ihre Spuren hinterlassen. Man muss nicht einmal zwischen den Zeilen lesen und auf die Untertöne achten, um neben den zurecht gelösten und erleichterten Kommentaren auch zahlreiche (Er-)Mahnungen und Warnungen bezüglich des weiteren Fortgangs der Arbeit im neuen Stadttheater zu finden. Denn vor allem eines schien dem Theater aus der kostenschweren Realisierung seines Baus zu erwachsen: Verantwortung – in kultureller nicht minder als in ökonomischer Hinsicht. Zwischen Euphorie, Rechtfertigungsbedürfnis und Bringschulderklärung schillert das Vokabular. Intendant Klaus Wagner etwa formuliert: »Für uns, die wir dieses neue Theater verwaltend und gestaltend in die Zukunft führen sollen, ist dieses Theater natürlich nicht nur eine Freude, die wir genießen, sondern auch eine Verpflichtung. Es geht ja darum, nicht die Einmaligkeit, die uns jetzt so viel Interesse und so viele Interessenten beschert, als Erfolg und Ergebnis zu verbuchen, sondern es geht darum, die Zukunft und Normalität zu garantieren.« Unverhohlen gesteht auch Hans Hoffmann: »Eines möchte ich jedoch nicht verhehlen: Die Entscheidung für das heutige Projekt fiel zum Glück noch vor der Talfahrt in die Rezession. Unter den heutigen wirtschaftlichen Verhältnissen, den derzeitigen finanziellen Voraussetzungen, wäre solch ein Beschluss kaum mehr vorstellbar. Wir haben gerade noch rechtzeitig gebaut. Im Glauben an eine gute Zukunft, im Vertrauen auf eine langfristig gesunde Entwicklung.«

In der Tat: Die zweite Ölkrise und die anhaltende Konsolidierungskrise Anfang der 80er Jahre trafen die deutsche Wirtschaft hart. Auch den deutschen Theatern ging es vielerorts an den Kragen: Waren sie nicht unmittelbar von Schließungen oder Stellenabbau bedroht, so mussten sie doch die immer schwieriger werdende Aufgabe bewältigen, »den Balanceakt zwischen Kunst und Kommerz, Nötigem und Erstrebenswertem, Wagnis und Existenzsicherung souverän zu meistern«, wie der Journalist Joachim Schweller die Lage kommentierte. So bestand zumindest die Gefahr, dass hier die »freie Kunst« gegenüber ökonomisch bilanzierbaren Erfolgsquoten ins Hintertreffen gerät. Und in Heilbronn? Da verbuchte man seit Jahrzehnten nicht nur steigende Zuschauerzahlen – von den 1940er- bis zu den 80er-Jahren hatte sich die Zahl der Besucher pro Spielzeit verdoppelt –, sondern auch steigende Zuschüsse vonseiten der Stadt und des Landes. Und dennoch: In der Situation, in der andere Theater krisengebeutelt Klagelieder anstimmten, baute Heilbronn für 60 Millionen Mark ein neues Theater. Vielleicht ist hier auch der Ursprung jener alarmistischen Rhetoriken zu suchen, die sich rund um die Eröffnung in den Kommentarspalten formierten. Deutlich lässt sich da die Forderung herauslesen, man solle nun das politische Schmierentheater hinter sich lassen und sich stattdessen an anständige Theaterarbeit machen, die letztlich langfristig zu überzeugen weiß – eben durch eine dauerhafte Gewinnung und Bindung des Publikums durch kunstfertige Theaterarbeit. Die Ausreden waren nun ohnehin passé: Auf schwierige bauliche Umstände konnte man sich in diesem Haus mit »idealen Arbeitsbedingungen«, so Verwaltungsdirektor Jürgen Frahm, nicht mehr berufen, wenn es darum gehen sollte, Krisen zu rechtfertigen. Dass aber auch der modernste Stand der Technik nicht automatisch über die gelingende programmatische Ausrichtung des Hauses befand, war ebenso klar.

Die Theaterkasse, damals noch im Kiosk der Allee-Unterführung, erlebte schon ein halbes Jahr vor der ersten Premiere im neuen Haus einen wahren Ansturm. So wurden innerhalb von sechs Wochen über 5000 Jahresmieten gebucht. Foto: Foto Heidelind Andritsch

Offensichtlich ist: Mit ungetrübter Freude startete auch die Geschichte des neuen Stadttheaters nicht. »Heilbronn tat und tut sich schwer mit dem Theater«, konstatiert der Journalist und spätere Vorsitzende des Theatervereins Heilbronn Uwe Jacobi. »Und trotzdem wurde und wird es geliebt. Sonst wäre die kulturelle Tat, einen solchen Neubau auf den Berliner Platz zu stellen, nicht möglich gewesen.« Nun sei die Bevölkerung gefordert, »das Theater als ihr Theater anzunehmen«, so Erwin Fuchs. Auf die andere Seite dieser Wahrheit verweist Uwe Jacobi in der Heilbronner Stimme: »Nach den Bürgern«, die in vielfältiger Hinsicht diesen Bau ja überhaupt erst ermöglicht hatten, »ist es nun am Theater, zur kulturellen Tat zu schreiten.« Man wird es als lohnenswert zu wiederholenden Gemeinplatz werten können, dass die Entwicklung eines Theater nie ein Einbahnstraßenverkehr ist. Sie besteht nur in und durch das dynamische Miteinander sich gegenseitig ansprechender und anregender Partner. Vonseiten des Theaters hat man demnach vielleicht nicht in erster Linie zu beweisen, dass das Haus »sein Geld wert ist«. Vielleicht hat man in erster Linie dem Publikum, der Bevölkerung, die eben so viel Geld in die Hand genommen hat, um ein eigenes Theater in ihrer Stadt zu etablieren, etwas zu bieten, was man für Geld nun mal nicht kaufen kann, gleichwohl Geld dafür vonnöten sein wird; etwas, was nur Theater bieten kann, nämlich, eine genuine neue ästhetische Erfahrung zu machen. Das bedeutet sicher nicht, dem Publikum nach dem Mund zu reden, sondern es auch zu fordern. Das bedeutet aber sicherlich, das Publikum – vor allem ein Publikum, das, wie das Heilbronner, so persistent am Gedanken eines eigenen Theaters festgehalten hat und festhält, es nicht minder gefordert wie tatkräftig gefördert hat – ernst zu nehmen, es zu erheitern, zu unterhalten, seine existentiellen Erfahrungen in theatrale Bilder zu überführen und zu befragen. Ein Blick zurück auf die letzten 40 Jahre – zu dem wir Sie herzlich einladen – muss erweisen, wie das dem Theater Heilbronn gelungen ist. Man wird jedoch den Gedanken nicht los, dass die vermeintlich mit dem vierzigsten Lebensjahr einsetzende Vernunft dem Theater Heilbronn in lebendiger Partnerschaft mit seiner Bürgerschaft schon weit vorher beschieden war.

DIe Eröffnungsinszenierung von »My fair Lady« erinnert mit dem alten Stadttheater als Kulisse an den langen Weg bis zur Eröffnung des Theater-Neubaus. Foto: Archiv Heilbronner Stimme

Es gibt einen Text von Walter Bison anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Heilbronner Volkbühne mit dem Titel »Die Bedeutung«, der immer noch so heutig und hellsichtig ist, dass er es verdient gehabt hätte, hier in Gänze zitiert zu werden. Bison schreibt darin: »Wie oft wurde das Theater totgesagt, wie oft wurde ihm der Untergang prophezeit. Wenn man das Theater zerstören könnte, so wäre es in den Bombennächten, wie die Mehrzahl seiner Gebäude, zugrundegegangen. Es lebte weiter, noch ehe seine Häuser, wie heute in fast allen Theaterstädten, wieder aufgebaut waren. Es fand zu neuen Formen in Zimmern und Scheunen. Das geschah nicht allein, weil das Verlangen nach Unterhaltung und Zerstreuung nicht zu unterdrücken ist, […] es geschah vor allem, weil im Theater von jeher ein Gesetz waltet, das wesenhafte Schichten des Menschen anspricht und sich aus tieferen Quellen tränkt. Unbeirrbar, immer seinem Ursprung treu, ruft das Theater zur Besinnung, zur Selbsterkenntnis, zum Geist. Es ruft heute in eine Zeit hinein, die berstend voll ist von verwirrenden, kaum greifbaren technischen Dingen, von Entwicklungen, Entdeckungen, deren Ziel der Mitlebende kaum begreifen kann und immer mehr zu fürchten lernt. Auch in dieser Zeit ruft das Theater wie durch die Jahrhunderte: ›Mensch, verliere Dich und Dein Wesen nicht!‹« Bison wusste nicht minder als die Heilbronner Bevölkerung: »Die enge Beziehung, die innere Bindung zum Menschen und zum Menschlichen macht das Theater zum geistigen Mittelpunkt einer Stadt.«