Ausbruch aus dem Schulalltag

… mit dem »Process«

Von Julia Campanella, Kl. 13f und Lydia Kastner, Kl. 13g, Theodor Heuss Gymnasium

Jemand musste den Deutschkurs  verleumdet haben, denn ohne dass die Abiturienten etwas Böses getan hätten, wurden diese eines Morgens zu einer Theater-Werkstatt verschleppt. Der Unterricht, der jeden Freitag gegen 11 Uhr stattfindet, kam diesmal nicht.

Der Process

Denn uns stand etwas viel Größeres bevor – ein Theater-Workshop passend zum Sternchenthema »Der Proceß«. Doch was sollte uns erwarten? Wir schwelgten in Unsicherheit. In der Schule sind wir vorbereitet, dort könnte uns etwas Derartiges unmöglich geschehen, wir haben dort einen geregelten Stundenplan, eine eigene Lehrerin, und die Schreibutensilien liegen auf unseren Tischen. Doch unsere unsichere Lage schwand mit der lebensfrohen Präsenz Katrin Singers, Theaterpädagogin am Theater Heilbronn, die sofort unser Interesse für die Übungen weckte. Ausgestattet mit verschiedenen Rollenkärtchen versuchte ein jeder von uns, sich in die Lage der jeweiligen Charaktere zu versetzen. Vielerlei Emotionen – Wut, Freude, Angst, Neid – kamen sowohl stimmlich als auch durch die Körperhaltung zu Tage. Wie der Nachweis von K.s Schuld, so war auch unser Schauspieltalent schwer zu ergreifen. Doch an Resignation war nicht zu denken.

Der Process

Ähnlich wie die Schauspieler, die an der Inszenierung beteiligt waren, durften wir die uns zugeteilten Charaktere mithilfe diverser Gangarten ausprobieren: die trippelnde Gerichtssekretärin, den mechanisch- bürokratischen Untersuchungsrichter,  den kriechenden, untertänigen Kaufmann Block. Neugierig darauf, wie das Stück mit seinen vielseitigen Charakteren auf der Bühne zum Ausdruck kommen würde, ging der Workshop zu Ende. In freudiger Erwartung  besuchten wir die Vorstellung, die einen bleibenden Eindruck hinterließ. Wir konnten dabei die Rollen, die am Morgen dargestellt wurden, wiederentdecken. Beeindruckend war die Umsetzung der kalten, bürokratischen und einengenden Welt im Bühnenbild mithilfe von vielen Grautönen und einer absenkbaren Dachschräge, die K. im Laufe des Prozesses Stück für Stück den Freiraum und die Möglichkeit zur Flucht nahm. Den bürokratischen und grauen Strukturen standen die undurchschaubare Komplexität des Gerichtswesens und vor allem die Frauenrollen, die innerhalb unseres Kurses durch ihr extremes Auftreten für gespaltene Meinungen sorgten, gegenüber.

Der Process

Besonders gelungen war die schauspielerische Leistung des Josef K. Durch die gekonnte Umsetzung der Emotionen, die sich in Kafkas Werk nur indirekt abzeichnen, wurde der Wandel seiner Einstellung zum Prozess verdeutlicht. Dementsprechend trug auch die hinzugefügte Traumszene eine große Bedeutung für die Gesamtinszenierung.

Anhand der szenischen Umsetzung von »Der Process« konnte sich jeder von uns näher mit der Intention des Werkes auseinandersetzen und neue Sichtweisen für die Interpretation gewinnen.

Während der reflektierenden Verarbeitung der gesammelten Eindrücke schien es uns, als ob durch die Vorfälle des Tages eine große Unordnung verursacht worden sei. War aber einmal diese Ordnung wieder hergestellt, war jede Spur dieser Vorfälle ausgelöscht und alles nahm seinen gewöhnlichen Lauf des Schulalltags auf

Oma-Schreck oder Herzrasen im »Process«

Wie es sich anfühlt, Statistin am Theater zu sein

Von unserer Praktikantin
Rebecca Göttert

Dass ich mal stark geschminkt und laut kichernd auf einer Bühne vor 700 Zuschauern stehen würde, hätte ich nicht gedacht, als ich ein Praktikum am Theater Heilbronn begonnen habe. Doch ist man erst mal am Theater, kommen jeden Tag neue Herausforderungen auf einen zu. Für mich bedeutet das, Statistin in Kafkas »Der Process« zu sein.
Zusammen mit fünf anderen Mädchen und Susan Ihlenfeld, die Schauspielerin im Heilbronner Ensemble ist, spielen wir in der »Titorelli-Szene«. Wir sind die Straßenmädchen, die immer um den Maler Titorelli herumlungern. Auf der Bühne scharwenzele ich auffällig Kaugummi kauend um Stefan Eichberg, der den Maler Titorelli spielt, herum. Aber das Kaugummikauen für die Bühne will gelernt sein.

Das üben wir in Extra-Proben für uns Statisten, die auf der Probebühne und ohne Schauspieler stattfinden. Außerdem wird geklärt, auf welches Stichwort wir wie reagieren müssen. Unser Signal ist ein Pfeifen von Titorelli. Dann heißt es, Sebastian Weiss, der die Hauptrolle des Josef K. spielt, nicht aus den Augen zu lassen, möglichst auffällig Kaugummi zu kauen und Blasen zu machen – Dinge, für die man sonst kritisiert wird.

Diesem Verhalten wurde auch unser Kostüm angepasst: Negligees aus Omas Schrank kombiniert mit rutschenden Overknee-Wollsocken und abgewetzten Schuhen. Das i-Tüpfelchen gibt uns die Maske: die Haare werden in ein voluminöses Nest verwandelt und das Gesicht mit den Fingern stark übertrieben geschminkt. Passt natürlich zur Inszenierung, die den »Process« als Mischung aus Albtraum und Realität zeigt, ist aber definitiv ein Schreck für die eigene Oma. Zum Glück sieht sie einen nicht aus der Nähe. Die Schminkmasken sehen aus Zuschauersicht nicht mehr ganz so gruselig aus.

In der Woche vor der Premiere gibt es die sogenannten Hauptproben. Da sind die Abläufe schon so wie in den Vorstellungen. Die Maskenzeiten werden getimt, die richtigen Requisiten werden benutzt und ganz wichtig: die Applausordnung wird festgelegt. Dass die für uns Statisten manchmal komplizierter ist als der Auftritt selbst, können Sie ab und zu am Ende einer Vorstellung sehen.

Meine Maskenzeit liegt erst eine Stunde nach Vorstellungsbeginn. Wenn ich am Theater ankomme, ist die Tiefgarage sehr voll. Wenn ich mir vorstelle,  dass das alles Zuschauer sind, steigt die Aufregung. Beim Aufgang auf die Bühne kann ich ganz kurz die vielen Köpfe im Zuschauerraum sehen. Da macht das Herz einen kleinen Sprung. Zeit um weiter darüber nachzudenken bleibt mir allerdings nicht. Schnell den Kaugummi in den Mund und schön schmatzen. Im Rampenlicht angelangt, verfliegt die ganze Aufregung. Das Scheinwerferlicht blendet so sehr, dass ich die Zuschauer nur erahnen kann.

 

Banu, Bianca, Franziska, Rebecca (Die Verfasserin dieser Zeilen) und Tatjana sind Statistinnen im »Process«.

Albtraum oder Wirklichkeit

»Der Process« nach Franz Kafka hat Premiere im Großen Haus
(Premiere 26.11.2011 – nur noch RESTKARTEN für die ersten 4 Vorstellungen!)

Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. Welche Schuld der dreißigjährige Bankangestellte Josef K. auf sich geladen haben soll, erfährt er nicht. Er muss auch nicht ins Gefängnis, darf weiter seiner Arbeit nachgehen und soll auch sonst an seinem Leben nichts ändern. Doch zunehmend ergreift die unklare Bedrohung »Process« immer mehr die Herrschaft über K.s Gedanken und Handlungen.

Peggy Mädler, die gerade mit ihrem Romandebüt »Legende vom Glück des Menschen« Erfolge feiert und für das Theater Heilbronn bereits maßgeblich an der Textfassung der Schauspielcollage »Exit Europa« beteiligt war, hat Kafkas Roman für das Theater Heilbronn dramatisiert.

Wie stehst du zu diesem Roman:
Peggy Mädler: Ich bin – salopp gesagt – ein großer Fan von Kafka und besonders auch von diesem Roman. Ich mag die Mischung aus bedrückenden, sehr klug gebauten und gleichzeitig auch humorvollen Szenen. Es macht mir großen Spaß, bei Kafka dieses Augenzwinkern zu entdecken, mich von ihm zum Schmunzeln bringen lassen. Der Advokat, den K. aufsucht, liegt die ganze Zeit in einem riesigen Federbett – was für eine skurrile Situation, wenn man genauer darüber nachdenkt!

Unter welchem Aspekt seziert man einen Roman, wenn er auf der Theaterbühne spielbar sein soll?
Peggy Mädler: Im Vordergrund steht natürlich zunächst der Interpretationsansatz des Regisseurs. Dann kommen ganz praktische Erwägungen hinzu: Wie viele SchauspielerInnen stehen zur Verfügung? Wie sieht die Bühne aus? Welche Figuren gehen ab, welche bleiben auf der Bühne? Im Roman beispielsweise verlässt K. immer die Szene oder die jeweilige Situation. Bei uns kommt er während des ganzen Abends nicht von der Bühne. Ansonsten habe ich versucht, den Text hauptsächlich über Kürzungen und die Auswahl der Szenen zu modernisieren. K.s Leben in der Pension tritt in der Bühnenfassung in den Hintergrund, weil es aus einer heutigen Perspektive eher historisch wirkt. Dafür wird die Arbeitswelt von K., die Bank, viel stärker betont.

Welchen Interpretationsansatz verfolgt das Team mit der Inszenierung?
Peggy Mädler: Das Ganze ist wie ein Albtraum aufgebaut, bei dem man nicht genau weiß, was passiert hier eigentlich nur im Kopf von K. und was ist davon Realität. K. ist gleichzeitig Protagonist und Erzähler der Geschichte, das Geschehen entwickelt sich ja nicht unabhängig von seinem Erleben, sondern ist eng damit verknüpft, K. schätzt Situationen ein, bewertet sie und trifft Entscheidungen. Und letztendlich muss der Zuschauer auch immer wieder entscheiden, ob er K.s Wahrnehmung traut oder nicht.

Ist der Text der Bühnenfassung 100 Prozent Kafka?
Peggy Mädler: Ich würde sagen, der Text ist auf der Sprachebene 99 Prozent Kafka. Ich habe den Originaltext verwendet, ihn aber in Teilen anders strukturiert und verknappt und darüber hinaus Teile aus den Fragmenten und den »Traum« hinzugefügt, eine Erzählung, die im Umfeld des »Process« entstanden ist und in Kafkas Erzählband »Der Landarzt« veröffentlicht wurde. Josef K. geht in diesem Traum auf einem Friedhof spazieren, er fühlt sich nahezu magisch von den frischen Gräbern angezogen und entdeckt schließlich einen Künstler, der den Namenszug von K. in den Grabstein ritzt …

Wie ist deine Arbeitsweise beim Dramatisieren?
Peggy Mädler: Sie mutet wahrscheinlich sehr altmodisch an. Bevor ich mich an den Computer setze und losschreibe, arbeite ich mit Schere, Kleber, Papier und einer großen Wand in meiner Wohnung, die nur diesem Zweck dient – Strukturen bzw. Gliederungen zu erarbeiten. Genauso mache ich es auch beim Schreiben von Prosatexten, wie meinem Roman. Ich sortiere, ordne an dieser Wand, klebe Textpassagen zusammen oder verwerfe sie, bis das Grundgerüst fertig ist. Das hilft mir dann später am Computer bei der Orientierung.

(Die Fragen stellte Silke Zschäckel)