Starker Stoff

„Uff!“ Stephanie Paschke stößt die Luft aus und streicht sich die roten Haare aus dem ernsten Gesicht. „Das ist ein harter Stoff.“ Auf der kleinen Probebühne im Untergeschoss des Theaters Heilbronn probt sie mit den Schauspielern Susan Ihlenfeld und Johannes Bahr und dem Musiker Nicolas Kemmer für die szenische Lesung „Grafeneck“. Stephanie wirkt erschöpft. Und das nicht, weil sie als Regieassistentin parallel die Proben zum Musiktheaterabend „Die Winterreise“ betreut und die Abend- bzw. Morgenspielleitung bei „Agent im Spiel“ übernimmt. Sondern weil sich die Auszüge aus historischen Dokumenten und Zeugenaussagen, die sie für das Projekt zusammengestellt hat, nicht mehr auf Distanz halten lassen, wenn die beiden Schauspieler sie lesen.

Zwischen Januar und Dezember 1940 wurden auf Schloss Grafeneck in der Schwäbischen Alb über 10.600 Menschen in einer furchtbaren Euthanasie-Aktion ermordet. Der Beginn der systematischen Vernichtung menschlichen Lebens im NS-Deutschland. Dass sich das Theater Heilbronn jetzt mit diesem Thema auseinander setzt, ist Rita Eichmann, Rektorin der Realschule Weinsberg, und Günter Sauter, Direktor des Schulamts Heilbronn, zu verdanken. Im Deutschunterricht wird in diesem Schuljahr an den Realschulen „Grafeneck“ gelesen, der „Heimatkrimi“ von Rainer Gross, der den Massenmord an psychisch kranken und behinderten Menschen auf der Schwäbischen Alb zum Auslöser eines Verbrechens und seiner Aufklärung macht. Eichmann und Sauter kamen im letzten Jahr mit der Idee auf das Theater zu, eine Lesung oder ein Projekt aus der Schullektüre zu entwickeln.

Die einfache Lösung, den Roman in Auszügen lesen zu lassen, hat Stephanie Paschke und die Heilbronner Theaterleitung wenig gereizt: „Rainer Gross hat das Thema ‘Euthanasie im Dritten Reich’ für eine heutige Geschichte über den Umgang mit Vergangenheit verwendet“, erklärt Paschke. „Wir sind bei der Recherche in Büchern und im Internet und bei einem Besuch der Gedenkstätte Grafeneck auf so viel gestoßen, was uns schockiert und berührt hat, dass wir allein damit schon mehrere Lesungen füllen könnten.“ Für das Projekt „Grafeneck“, das ab 30. Januar neun Mal im Komödienhaus für Schülergruppen, aber auch für alle anderen Interessierten zu sehen sein wird, haben sie und Dramaturg Andreas Frane eine Auswahl an Texten zusammengestellt, die die Hintergründe der Zahlen und Fakten aufhellen und die Zuschauer auf eine Spurensuche durch dieses finstere Kapitel der Geschichte mitnehmen will. Harter Stoff!

Andreas Frane, Dramaturg

Schloss Grafeneck

Spur der Erinnerung

Die Spurensuche in Orginaldokumenten »Grafeneck« erinnert an die Opfer der Euthanasie-Verbrechen

Das ehemalige Jagdschloss Grafeneck wurde 1940 zum Schauplatz eines organisierten Massenmordes.

Für die Dorfbewohner der Schwäbischen Alb war es damals das »verwunschene Schloss«. Für die Nachwelt ist es heute der Tatort eines Massenmordes. Abgeschieden auf einem Hügel über dem Dolderbach, vom Tal aus kaum zu sehen, leicht abzusichern und abzusperren: Das ehemalige herzogliche Jagdschloss Grafeneck bei Münsingen, 65 Kilometer südlich von Stuttgart. Zwischen dem 18. Januar und dem 13. Dezember 1940 wurden dort in der Euthanasie-»Aktion T4« mehr als 10.600 Menschen systematisch ermordet. Es waren vor allem Frauen und Männer aus den Heil- und Pflegeanstalten Süddeutschlands, mit psychischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen, die als »Defektmenschen« und »unwertes Leben« ausgesondert und – unter strengster Geheimhaltung – mit Kohlenmonoxyd vergast wurden. Doch die »Geheime Reichssache« war nicht so geheim, wie es sich die Verantwortlichen gewünscht hätten.

Mit der szenischen Lesung »Grafeneck«, die auf Anregung des Schulamtes Heilbronn entsteht, will das Theater Heilbronn an die ungeheuerlichen Vorgänge erinnern und das Schicksal der Opfer ebenso wie den menschenverachtenden Zweckrationalismus der Täter aufzeigen. Susan Ihlenfeld und Johannes Bahr lesen aus Originaldokumenten, Briefen, Zeugenaussagen und dienstlichen Formularen und lassen so das erschreckende Bild einer Zeit auferstehen, in der Menschenrechte und Demokratie mit Füßen getreten und der Wert des Lebens nur nach Nützlichkeitskategorien beurteilt wurden.

Bislang sind nur circa 8000 Namen der Opfer von Grafeneck bekannt, die in der heute dort eingerichteten Gedenkstätte aufgezeichnet sind.

»Heute bin ich endlich der Spur der Erinnerung gefolgt«, schrieb dort eine Besucherin ins Gästebuch. »Jetzt endlich habe ich das Ausmaß realisiert und versuche, den Namen einer Tante, die hier zu Tode gekommen ist, ins Bewusstsein zu bringen.«

(Andreas F.)

Künstlerische Leitung
Stephanie Paschke
Musikalische Leitung
Nicolas Kemmer
Dramaturgie
Andreas Frane
Mit
Johannes Bahr
Susan Ihlenfeld
Nicolas Kemmer

Termine:
Mo. 30.01.2012 10.00 Uhr
Mo. 30.01.2012 19.00 Uhr
Mi. 01.02.2012 10.00 Uhr
Mi. 01.02.2012 19.00 Uhr
Mo. 13.02.2012 10.00 Uhr
Mo. 13.02.2012 19.00 Uhr
Di. 14.02.2012 10.00 Uhr
Di. 14.02.2012 19.00 Uhr