Birth. Future. Borders.

Ayleens Clubspionage: Club 4, eine multikulturelle Theatergruppe auf Zukunftssuche

Freitagmorgen, halb 11. Hinter dem Falafel Beirut in der Heilbronner Paulinenstraße, befindet sich eine der Probebühnen des Theaters. Aus der unscheinbaren Halle schallt ein tosender Applaus nach draußen. Es folgen Jubel und Gelächter. Vorsichtig luge ich durch den Türspalt. In der alten Lagerhalle erwartet mich eine kunterbunte, junge Theatergruppe. Dreizehn junge Menschen zwischen 13 und 30 Jahren aus Syrien, Deutschland, Kurdistan, der Türkei, Sri Lanka und Russland begrüßen mich herzlich. Sie laden mich direkt zum Mitmachen ein. Los geht’s mit einem Aufwärmspiel. Nachdem einer der Teilnehmer die Übung auf Arabisch übersetzt hat, laufen wir alle kreuz und quer durch den Raum. Doch sobald einer stoppt, stoppen alle. Sobald sich einer hinlegt, werfen sich alle schnell möglichst auf den Boden. Auf dem Boden liegend schaue ich mich in der Halle um. Stühle und Tische sind an den Rand geschoben worden, dahinter hängen schwarze Theaterstoffe. Zwischen den Stühlen liegen Jacken und Taschen der Teilnehmer. Seit November letzten Jahres trifft sich der Theaterclub 4 wöchentlich. Unterstützt und angeleitet von den beiden Theaterpädagoginnen Ruth Hengel und Natascha Mundt, probt die Gruppe für ihr selbst entwickeltes Stück „Birth. Future. Borders“. Premiere ist am 23.04.16 um 18.00 Uhr in der BOXX. Das Besondere an der Gruppe ist ihre Zusammensetzung. Durch eine Initiative von Ensemblemitgliedern wurden Flüchtlinge auf das Theaterprojekt angesprochen. Auch über andere Organisationen, wie ARGE, Stabstelle Partizipation und Integration, aim, ökumenische Einrichtungen und das Patenschaftsprojekt des Jugendgemeinderates wurden Flüchtlinge mit Lust aufs Theaterspielen gesucht. Aktuell besteht die Gruppe aus Flüchtlingen aus den verschiedensten Regionen und einheimischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund. Eine bunte Gruppe, aus plus minus 22 Teilnehmern, da ein paar der Flüchtlinge während der Intensivprobenwoche arbeiten oder den Deutschkurs besuchen. Anfangs haben die Teilnehmer bei den Clubtreffen reichlich Zeit damit verbracht sich kennenzulernen. Sie haben sich viel voneinander erzählt. Schließlich soll dieser Teil auch den Kern des Stückes bilden: Eine Dokumentation ihres Lebens und ihrer Suche nach Perspektive. Im Stück berichten sie darstellerisch und musikalisch von Freuden und Schwierigkeiten, die sie erlebt haben. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach ihrer Zukunft und was einmal mit ihnen und der Welt werden wird. Längst haben sich aus den regelmäßigen Proben auch Freundschaften entwickelt. Gemeinsam besucht die Gruppe das Theater oder kocht für einander. Ganz nebenbei lernen die Flüchtlinge so auch Deutsch. Mohammad, der so gut wie kein Deutsch kann, übernimmt das „Auf die Plätze fertig los!“ vor jeder Probe. Viele Requisiten brauchen die Teilnehmer für ihre Geschichte nicht. Das wichtigste Utensil fällt mir in einer Ecke des Raumes ins Auge. Hier stapeln sich schwarze Koffer. Beim genaueren Hinsehen fällt mir auf, dass sie mit Kreide bemalt sind. Auf einem befindet sich eine Dusche, auf dem nächsten sind Blumen. Mit den Koffern werden Orte im Stück fest gemacht. Die aufgemalten Blumen, werden beispielsweise einen Garten darstellen. Die Koffer symbolisieren jedoch noch viel mehr, sie stehen auch für äußere wie innere Reisen der Menschen. Sie verkörpern nationale und soziale Grenzen und Hürden, die die Teilnehmer teils schon überwunden haben oder für ihre Zukunftssuche noch überwinden müssen. Aus der Ecke werden die Koffer jetzt in die Mitte des Raumes geholt. Jeder der Teilnehmer schnappt sich zwei. Die Gruppe versucht schnellst möglich ein Tor aus den schwarzen Behältnissen für eine Szene des Stückes aufzubauen. Schon beginnt ein wildes Kofferstapeln auf der Bühne. Die Gruppe baut zwei hohe schwarze Koffertürme auf. Sie bilden ein Tor. Ganz oben finden ein rosa und ein blauer Regenschirm Platz, Aboud aus Syrien hat sie dort hingebastelt. „Nur schwarz ist zu langweilig“, meint er. Schließlich handelt die Szene von etwas sehr Spannendem: Der Geburt. Jeder Teilnehmer wird darin sein „Auf die Welt kommen“ darstellen, in dem er durch das Tor schreitet. Im Hintergrund ertönt John Kanders Lied „Willkommen, Bienvenue, Welcome“ aus dem Musical „Cabaret“. Im Text, der von Fred Ebb stammt, heißt die erste Zeile „Willkommen, bienvenue, welcome, Fremde, étranger, stranger!“. Wie das ist, als Fremder in eine neue Welt zu kommen und dort willkommen geheißen zu werden, stellen die Teilnehmer ganz individuell dar. Zunächst ragen ein Paar Füße aus dem schwarzen Koffertor heraus. Langsam tasten sie sich ins Bild. Den Füßen folgen Beine und schließlich ein Mädchen. Neugierig klettert sie durch das Tor, hinaus in die Welt. Der nächste Teilnehmer boxt sich durch eine vermeintlich verschlossene Türe durch das Koffertor. Nach und nach folgen alle anderen aus der Gruppe auf die unterschiedlichste Art und Weise. Sie stellen ihre Geburt sehr kreativ dar und manchmal auch so lustig, dass ich mir ein Lachen nicht verkneifen kann. Ob vorsichtig, mutig oder entschlossen, alle kommen durch das Tor auf die andere Seite. Doch was erwartet die Gruppe dort? „Wenn ihr draußen seid, ist es das erste Mal, dass ihr die Welt seht. Es ist auch das erste Mal, dass ihr euch selber seht!“, erklärt Ruth den Teilnehmern. Mit unserer Geburt fängt auch unsere Zukunft an. Obwohl wir viel selbst über unser Leben entscheiden können, hängt die Zukunft sehr davon ab, in welchem Land und in welcher Familie wir geboren werden. Manche der Teilnehmer, ob aus Syrien oder aus den umkämpften kurdischen Gebieten der verschiedenen Staaten, können in ihren Regionen nicht mehr leben und mussten fliehen. Ihre Heimat gibt ihnen im Moment keine Perspektive. Und wie wird es jetzt hier werden? Im Projekt treffen sie auf andere junge Leute, die auch auf der Suche nach ihrem Lebensweg sind. Gemeinsam erträumen sie sich im Projekt ihre Zukunft. Ob diese Träume wahr werden? Eleanor Roosevelts Lebensweisheit macht Mut: „Die Zukunft gehört denen, die an die Wahrhaftigkeit der Träume glauben.“
Auch Ayleen Kern hofft, dass sich ihre Zukunftsträume einmal erfüllen. Davor will die 21-jährige ihr Studium der Rhetorik und Medienwissenschaften in Tübingen abschließen. Für vier Wochen ist sie Praktikantin der Presse und Öffentlichkeitsarbeit am Theater Heilbronn.   

Auf der Spur der Frisur

oder wie aus einer Yogamatte ein wilde Haarpracht wurde

„Lockenhölzer, Bartkrepp, Resthaar, Leinen und Hanfschnüre“ steht in einem kleinen weißen Rechteck auf einem großen hölzernen Schrank. Sieben weitere Schränke schließen sich in einer Reihe an, voll mit den unterschiedlichsten und ungewöhnlichsten Materialen. Ich befinde mich in der Maskenwerkstatt des Theaters. Dort will ich etwas über Herstellung der eindrucksvollen Perücken des Stückes „Die Werkstatt der Schmetterlinge“ herausfinden. Sie sehen wirklich faszinierend aus. Ich kenne niemand, der solch eine Frisur trägt. Die Haare wirken künstlich, alles sitzt perfekt. Kein Lufthauch könnte auch nur ein Haar aus der scheinbar unzerstörbaren Frisur lösen. Es sind keine echten Haare. Als ich sie zum ersten Mal sehe, frage ich mich, um ehrlich zu sein, aus welchem Universum die wohl stammen? Da außerirdisches Leben noch nicht entdeckt wurde, treffe ich Caroline Steinhage, Chefmaskenbildnerin des Theaters. Sie wird mir erklären, aus welchem Material die Perücken angefertigt sind. Bevor eine Perücke in der Maske gestaltet wird, fertigt die Kostümbildnerin eine sogenannte Figurine an. Dabei handelt es sich um einen gezeichneten Entwurf einer Figur des Stückes, wie beispielsweise der Feodora. „Eine unserer künstlerischen Eigenleistungen ist es, ein Material für die Perücke auszusuchen, dass sie denselben Eindruck wie die Figurine vermittelt“, erklärt Caroline. Feodoras Perücke besteht beispielsweise aus einem auseinander geschnittenen Fugendichtungsprofil, einem ganz normalen Baumaterial also. Dieses hat die Maskenbildnerin Ketrin Lopez Moreno auf einen festen Unterbau aus Schaumstoff geklebt und mit Airbrush-Farben bemalt. Anders Rodolfos Perücke, welche aus einer zusammengerollten Schaumstoffmatte besteht. Etwas schwieriger zu bewerkstelligen war die Perücke der Weisen Alten. Angelehnt ist die Frisur an die historische „Wagenradfrisur“, die Ende des 19. Jahrhunderts zeitgemäß war. Gegenüber den modernen, fast futuristischen Frisuren der jungen Hauptcharaktere Rodolfo, Paganini und Feodora wirkt sie beinahe antik. Schließlich spiegeln sich in der Frisurenwahl die Positionen der Charaktere im Stück wider, während die jungen „Gestalter aller Dinge“ von neuen, fantastischen Wesen träumen, bremst sie die Weise Alte mit ihren altbewährten, festgefahrenen Regeln zunächst aus. Die Kostümbildnerin legte grün als Farbe der Frisur der Weisen Alten fest. Leider gibt es jedoch keinen grünen Schaumstoff. Caroline Steinhage kaufte daraufhin eine grüne Yogamatte. Vom Profil her und der Farbe passt diese perfekt. In der Maske wurde sie auseinandergeschnitten und um Lockenwickler gerollt und zu einer Frisur zusammengeklebt. Das hätte sich die Yogamatte wohl im Leben nicht gedacht, dass sie einmal auf dem Kopf eines Schauspielers landen würde! Circa zwei Wochen nahmen die Anfertigung der Perücken in Anspruch, unter anderem wegen Trocknungsphasen. Auf der Bühne erkennen die Zuschauer das eigentliche Material nicht mehr. Eigentlich alltägliches Material wird zu neuem Leben erweckt. Ziel der Maske ist es schließlich auch, dass die Perücke als „echte“ Frisur der Rolle anerkannt wird. Caroline meint dazu: „Am Ende sitzt da keine Bastelarbeit auf dem Kopf. Es ist eine künstlerische Arbeit: Die Verfremdung der Yogamatte zum Kunstobjekt.“
Auf eine Frisur aus einer Yogamatte wäre Ayleen Kern nie gekommen. Die 21-jährige studiert Medienwissenschaften und Rhetorik in Tübingen. Für vier Wochen ist sie Praktikantin der Presse und Öffentlichkeitsarbeit am Theater Heilbronn.

Bild im Kopf – Über Tricks in der Theaterfotografie

Kooperation mit Schule für Gestaltung des Kolping-Bildungszentrums Heilbronn

_MG_6335 Leise schleicht er durch die ersten beiden Reihen des Zuschauerraums. Von rechts nach links und wieder von links nach rechts. Ab und zu verweilt er kurz, wartet auf den richtigen Moment und klick. Er ist unauffällig angezogen. Am liebsten wäre er jedoch unsichtbar, um das Geschehen auf der Bühne nicht zu stören. Und wieder Klick, das Foto ist im Kasten. Wer er ist? So beschreibt Thomas Braun, der als freier Fotograf mittlerweile die zweite Spielzeit am Theater digital festhält, seinen Beruf als Theaterfotograf. Mit seinem Arbeitsfeld beschäftigen sich Schüler der Schule für Gestaltung des Kolping-Bildungszentrums Heilbronn bei einer Besprechung eigener Theateraufnahmen mit Thomas und Silke Zschäckel, der Pressereferentin des Theaters. Seit vielen Jahren kooperiert das Theater Heilbronn mit der Schule. Während der Fotoprobe eines ausgewählten Stückes können sich die Schüler der Klasse für Foto- und Medientechnik in Theaterfotografie ausprobieren. Dieses Jahr besuchten und fotografierten sie ein besonders anspruchsvolles und bildgewaltiges Stück im großen Haus: „Der Auftrag“ von Heiner Müller. Als die Fotos mit einem Beamer an die weiße Wand des Klassenraumes projiziert werden, ernten die Schüler Lob von Silke und Thomas. Sie kommentieren die Werke aus unterschiedlichen Blinkwinkeln. Für die Pressereferentin ist es bei der Auswahl der Pressefotos wichtig, dass alle Hauptdarsteller auf dem Bild sind und dass auf dem Bild die Situation, die sich gerade auf der Bühne abspielt, deutlich wird. Es soll keine statische Aufnahme sein, sondern dynamisch und auch mit „Action“. Schließlich soll sie nicht nur ansprechen, sondern auch neugierig auf die Vorstellung machen. „Die Fotos auf unseren Theaterbannern und in den Medien entscheiden mit darüber, ob die Leute nachher ins Theater gehen oder nicht“, meint Silke. Bei der Beurteilung der Schülerfotos zählen jedoch andere Aspekte: Der besondere Blick, den die Schüler haben. Manche der Bilder der Schüler haben eine besonders schöne Aufteilung oder fangen die Darsteller in einer für das Stück wichtigen Szene ein. Schwierig an der Theaterfotografie ist, dass eine Szene nicht noch einmal wieder kommt. Um wichtige Momente nicht zu verpassen, gibt Thomas den Schülern Tipps: „Versucht das Bild, das ihr machen wollt, vorher im Kopf zu haben. Folgt der Handlung um Höhepunkte mitzubekommen.“ Auch für die schwierigen Lichtverhältnisse im Theater hat er einen Kniff auf Lager: „Mit dem Licht was auf der Bühne ist, müsst ihr auskommen. Seid variabel mit eurem Standort, dadurch könnt ihr andere Lichtverhältnisse reinbekommen.“ Generell empfiehlt er, vor der Fotoprobe mit Dramaturg, Regie und Technik zu sprechen. So weiß man über besondere Lichteinstellung, Bühnenaufgänge und -abgänge und Höhepunkte des Stückes Bescheid. Die Theaterfotografie ist keine rein dokumentarische Arbeit. Sie erfordert viel Sensibilität, Aufmerksamkeit und Geduld, um das Besondere aus einer Inszenierung herauszukitzeln und deren Ton zu treffen. „Wichtig ist, dass jeder bei sich selbst bleibt und sich nicht neu erfindet“, fasst Thomas zusammen. Das ist auch das Spannende an der Kooperation mit den Schülern. Mit ihren Bildern werfen sie einen ganz besonderen Blick auf die Inszenierung. Im Theater sind alle schon gespannt auf deren Fotografien.
Gerne würde Ayleen Kern ihre Texte vor dem Schreiben auch im Kopf haben. Die 21-jährige studiert Medienwissenschaften und Rhetorik in Tübingen. Für vier Wochen ist sie Praktikantin der Presse und Öffentlichkeitsarbeit am Theater Heilbronn.
Fotos: Diana Gilgenberg, Elena Gighashvili, Kim Falkner, Julia Winkler, Lorena Köhler, Anastasia Wirth

Stückentwicklung in eigener Regie

Ayleens Clubspionage: Theaterclub 3 – Zwischen zwei Welten

Auf der kleinen Probebühne, versteckt im tiefen Gängelabyrinth des Theaters, scheint alles vorbereitet zu sein. Stühle und Tische sind auf der Bühne zu verschiedenen Räumen angeordnet. In der großen Spiegelwand werden die 18 Teilnehmer des Theaterclub 3 reflektiert. Auf dem Boden markiert Kreppklebeband Auf- und Abgänge der Schauspieler, so wie das Herz des Theaterstücks: den Umriss eines, gläsernen Raumes. Was es mit diesem auf sich hat? Das werde ich gleich in der Probe herausfinden. Vom Rand des Saales verfolge ich die Probe mit. Neben mir sitzen Nikolai Stiefvater, ein renommierter Mediengestalter, Stefan Schletter, Leiter des Jungen Theaters, sowie zwei Regieteams, die selbst im Club Mitglied sind. Zwei Gruppen haben sich im Laufe der Woche mit jeweils einer Welt theatralisch auseinander gesetzt. Eine der beiden mit der realen, alltäglichen, betreut von den jugendlichen ‚Regisseuren‘ Jule und Giovanni. Die andere, unter Leitung des zweiten Regisseur-Teams Steve und Volkan, mit einer virtuellen, an ein Computerspiel angelehnten Welt. Drei Teilnehmer des Clubs sind für die Kostüme verantwortlich. Premiere ist am 18.06.15 um 18.00 Uhr in der BOXX. Noch hat das Stück keinen Namen, es läuft unter dem Arbeitstitel „Kein Netz“. Die Idee zum Stück kam Leiterin des Clubs, Katrin Singer, und den Teilnehmern in Anlehnung an das Stück „Im Netz“ von Tim Staffel, dass im Mai am Theater Premiere hat. Die Probe beginnt. Jule zählt ein: „Drei, zwei, eins.“ Kurz ist es mucksmäuschenstill im Raum. Dann schaltet sie die Musik ein. Auf der Bühne beginnt das Spiel über das alltägliche Internatsleben der Protagonistin Nora, gespielt von Luise. Aus dem Off wird in einer monotonen Freundlichkeit ihr Tagesablauf vorgelesen: „Es ist 8.00 Uhr. Bitte stehen sie auf, in zwanzig Minuten beginnt der Unterricht.“ Alles im Internat läuft nach einem bestimmten Zeitplan ab. Jeder hat sich nach den Regeln der sehr elitären Schule zu richten. Von den Schülern wird viel gefordert. Vom akademischen Leben im Internat so langsam überfordert, kreiert Nora sich eines Tages ihre Heldin im virtuellen Leben, einen weiblichen Avatar. Nachts schleicht sie sich an die Computer, um im Spiel „Rückkehr der Nymphen“ heldenhaft zu kämpfen. Bei dieser Szene kann ich endlich das Rätsel des gläsernen Raumes lösen. Der Raum, der jetzt nur markiert ist, weil der Plexiglaswürfel noch in der Schreinerei angefertigt wird. Auf der Bühne wird Nora von ihm aus in die geheimnisvolle Welt der Nymphen tauchen, denn dort steht ihr Computer. Während sie spielt, erscheint ihr Avatar, gespielt von Melissa, auf der Bühne. „Das ist die größte Herausforderung des Stückes, die virtuelle und reale Welt sinnvoll zu verknüpfen“, meint Stefan Schletter. Rein darstellerisch wäre das schwierig. Es braucht eine formale, technische Verknüpfung über Licht, Bild und Ton. Geschrieben haben die Teilnehmer das Stück fast ganz alleine. Zum ersten Mal in der Clubgeschichte liegen Stückfassung, Dramaturgie und Entwerfen und Entwickeln der Kostüme in Hand der Teilnehmer. Die 18 Jugendlichen des TC3 haben zwei Künstlerkollektive gebildet. Spannend am Projekt ist, dass die verantwortungsvollen Posten von ihnen selbst übernommen werden. Schauspieler und Regie auf Augenhöhe, kann das funktionieren? Zunächst war das keine einfache Aufgabe, schließlich muss sich ein Regisseur mit Entscheidungen auch über seine Schauspieler stellen. Im Laufe der Woche wurden die Rollen der Teilnehmer klarer. Eine Diskussion über Abläufe auf der Bühne beendet einer der Regisseure selbstbewusst: „Das könnt ihr uns überlassen, wir sind da dran.“ Es ist faszinierend, wie die Gruppe in Eigenverantwortung so produktiv arbeitet. Sogar einige Kostüme sind schon fast fertig. Während die einen in der Intensivwoche geprobt haben, ratterten die Nähmaschinen im Büro der Theaterpädagogik. Anna, Jannik und Marie waren dort fleißig an der Arbeit. Bei der Anprobe ernten sie Applaus. Hier und da noch ein paar Änderungen, dann sind die Kostüme bühnenreif. Die Ergebnisse der intensiven 7 Tage Kostümentwicklung und der Probenarbeit lassen sich sehen. Professionelle Unterstützung, bekommt der Club von Nikolai Stiefvater. Er produziert am Theater die Trailer der Stücke oder Videodokumentationen. Er freut sich auf das Projekt mit dem Theaterclub. „Am Theater stehen Künstlerisches und Technik nah bei einander“, erklärt er. Für die Gruppe wird er ein Intro, eine geographische Karte der Spielwelt, verschiedene Orte des Spiels, aber auch eine Uhr für die reale Welt gestalten, die dann auf den Plexiglaswürfel projiziert werden. Damit schafft der sympathische Mediengestalter die Rahmenbedingungen für das Computerspiel auf der Bühne. Und das wichtigste: Durch seine Arbeit gelingt es, virtuelle und reale Welt auf der Bühne zu verknüpfen! Dass das alles noch fehlt bei der Probe, fällt gar nicht auf, so fesselnd ist die spielerische Darstellung. Auf der Bühne läuft alles wie am Schnürchen, von der realen Welt in die virtuelle und zurück. Bei ihrem Stück geht es den Teilnehmern des Clubs aber auf keinen Fall darum, das Internet als Fluchtort von der Welt zu verteufeln. Nein, sie wollen ein Stück auf die Bühne bringen, in dem am Ende jeder für sich selbst etwas mitnehmen kann.
Ayleen Kern staunt darüber, was der Theaterclub in einer Woche auf die Beine gestellt hat. Die 21-jährige studiert Rhetorik und Medienwissenschaft in Tübingen. Am Theater Heilbronn ist sie für 4 Wochen Praktikantin der Presse und Öffentlichkeitsarbeit.

„Eines vereint sie alle. Sie haben Blauwalherzen.“

In der Theaterwerkstatt rascheln die Vespertüten. Noch sitzen alle gemütlich, teils frühstückend, auf den komfortablen Couches. Gemütlich ist gut, denn die 15 Jugendlichen haben ganz schön Muskelkater von den ersten zwei Tagen Intensivprobe. Ramona Klumbach, Leiterin des Theaterclubs 2, wischt den schwarzen Tanzboden blank. Herzlich gibt sie mir die Hand und begrüßt mich zur Probe. Noch fehlen ein paar Teilnehmer, aber gleich wird es los gehen. Schon trippeln die Jugendlichen barfuß oder in bunten Socken auf die schwarze, rechteckige Tanzfläche. Mit Ramona und den beiden renommierten Choreografen, Felix Bürkle und Paolo Fossa, stellen wir uns im Kreis auf. Wir beginnen mit einem Aufwärmspiel: PENG. Im Spiel versucht man sich auf Kommando schnellstmöglich mit Fingerpistolen abzuschießen. Wer langsamer ist, scheidet aus. Schnell merke ich, mit Entspannung ist es jetzt definitiv vorbei. Nach zwei Runden Anspannung in PENG geht es gleich richtig zur Sache. Paolo legt einen schnellen Beat auf, vom Wilden Westen im Aufwärmspiel geht’s jetzt ins elektronische Zeitalter. Alle stehen am Ende des Raumes, ihre Blicke sind gebannt auf Paolo gerichtet. Er dreht und wendet sich um die eigene Achse, streicht dabei mit der Hand durch die Luft wie ein Maler mit dem Pinsel auf eine Leinwand. Dann schnellt sein Bein mit einem schnellen Kick nach vorne. Der Beat gibt den Takt an. Bass Kick Bass Kick. Alle reihen sich hinter Paolo ein und tanzen in kraftvollen Bewegungen über die schwarze Fläche. Es ist toll anzuschauen. Die Gruppe ist mit Eifer dabei. Wir sind in der Intensivprobenwoche für das Projekt „Blauwalherzen“, mit dem die 15 Teilnehmer ihre Faschingsferien verbringen. Als Ramona und Nicole Widera das Projekt planten, war ihre Idee, dass die Teilnehmer zwischen 12 und 17 Jahren im Tanz durch ihren Körper sprechen. In reinen Theaterprojekten geht es darum durch Text zu sprechen. Bei diesem Projekt ist das anders: Nicht die Sprache sondern der Körper steht im Fokus. In der Jugend verändert sich der Körper und wird fremd. Man drückt sich über Sprache und Stimme aus, wird laut oder leise. Der Körper rückt in den Hintergrund, stört manchmal sogar. Durch das Tanzen bekommen die Teilnehmer hier eine Chance, ihn kennenzulernen, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Gemeinsam wollen sie aus der Starre ausbrechen. Um sich diesem Ziel zu nähern haben Ramona und Nicole mit der Gruppe schon verschiedene Tanzmethoden ausprobiert. „Es ist toll, wie alle mitmachen“, lobt Ramona die starke Gruppe. Ob zu Ballettübungen oder Improvisationen, seit Oktober trifft sich der Theaterclub einmal wöchentlich. Welche Themen die Jugendlichen am Ende auf die Bühne bringen wollen, haben sie selbst entschieden. Es geht um ihre Lebenswirklichkeiten: Um Schulalltag, Kindheitserinnerungen und Rebellion. Aber auch um Einsamkeit und darum, sich selbst in dieser Welt zu finden und zu behaupten. „Blauwalherzen“ soll das Stück heißen. Denn egal wie schwierig es manchmal ist Gefühle zu zeigen, haben trotzdem alle in der Gruppe ein großes Herz. Premiere ist am 23. April 2016 um 18.00 Uhr in der BOXX. Die beiden Leiterinnen entwickeln mit der Gruppe die Dramaturgie und Choreografie. Seit Beginn der Planung, war aber klar, dass es sich lohnt professionelle Unterstützung anzufordern. In der Clubszene des Theaters ist das neu. Felix Bürkle und Paolo Fossa sind ein echter Gewinn für den Club. Paolos Übungen erinnern mich ein wenig an Kampfsporttraining, was nicht weiter verwunderlich ist. Schließlich hat er neben Tanz auch Ausbildungen in Capoeira, Kalaripalayattu, Judo und der Feldenkraismethode. Der in Turin ausgebildete Tänzer, war schon in vielen Staatstheatern in Deutschland als Choreograf und Darsteller tätig. Er arbeitete in ganz Europa, im Theater am Gärtnerplatz München, Staatstheater Bremen, im Tanzhaus NRW und vielen anderen. Die Musik in der Theaterwerkstatt wird schneller, Paolo zieht das Tempo an. Die Tanzübungen werden zügiger und nach und nach wird die Anstrengung auf den jungen Gesichtern sichtbar. Alle sind konzentriert dabei, trotz Muskelkater und blauer Flecken von gestern. Die Bewegungen werden rhythmisch, jeder Schritt ist getaktet. Ein Schritt ein Atemzug. Vom Rand der Matte geben Paolo und Felix Tipps. „Beide Choreografen ergänzen sich perfekt“, meint Ramona Klumbach, „während Paolo das etwas härtere Training morgens übernimmt, leitet Felix Gruppen- und Partnerübungen“. Neben eigenen Soloprojekten hat Felix Bürkle viel Erfahrung mit Gruppenchoreografien und Tanzprojekten. Mit seiner Produktion „beckett, beer and cigarettes“ wurde er von Pina Bausch zum internationalen Tanzfestival NRW 2008 eingeladen. Über die Jahre sammelte er vielerlei Erfahrung mit verschiedenen Gruppenprojekten in Europa und darüber hinaus. Im Raum liegt Anstrengung in der Luft. So langsam kann ich verstehen, woher der Muskelkater kommt, der auch mich am nächsten Tag nicht verschont. Plötzlich springt Paolo auf und schreit „Böse! Das ist böse!“ Überraschte Blicke. Er macht vor, was er meint. Mit jedem Kick und jeder Armbewegung scheint er eine Energie wegzudrücken, die Luft mit Wut zu durchschlagen. „Ich selbst bin tausend Sachen. Hungrig, lustig, müde. Entwickeln wir jetzt tausend Sachen. Jeder von uns wird wütend, fröhlich, traurig!“, spornt Paolo die Gruppe an. Mutig setzen es die 15 Teilnehmer um. Die gute Atmosphäre ist deutlich zu spüren. Alle sind voll dabei. Wenn ich von meiner Matte gebannt zuschaue, ist es als würde ich plötzlich mitfühlen. “Ihr kommuniziert durch euren Körper”, sagt Felix, “was ist die Information die ihr übertragen wollt?” Mit ganz verschiedenen Übungen nähert sich der Club dem Ziel „auszubrechen“ – sich seinen wahren Gefühlen zu stellen. Eine davon ist “Bodysurfen”. Das klingt nicht nur nach Spaß, es macht auch viel Spaß. Bei der Übung ist der Raum voll von Gelächter. Felix und Paolo machen es vor. Felix legt sich flach auf den Bauch, Paolo liegt quer über ihm. Sie bilden ein Kreuz. Durch eigenes Rollen bringt Felix Paolo zum über ihn hinweg surfen. Paolo gleitet über ihn drüber. Viel Körperkontakt ist ungewohnt in der heutigen Gesellschaft, sogar Provokation, meint Paolo. Kinder umarmen sich, klettern auf den Schoß der Eltern. Das ist ganz normal. Aber wenn man älter wird, sagt einem die Gesellschaft, das darf man nicht. Gefallen lassen, will sich die Gruppe das nicht, das spürt man deutlich. Ausbrechen heißt, das wiederzufinden, was einem die Gesellschaft wegnimmt. Gefühle zu zeigen, Grenzen zu überschreiten, zu provozieren. Paolo fasst den Morgen zusammen: “Auszubrechen heißt nicht cool sondern wild zu sein!” Oder was denkst du?
Auch ohne eigenes Rhythmusgefühl war Ayleen Kern vom Tanzprojekt begeistert. Die 21-Jährige studiert Rhetorik und Medienwissenschaften in Tübingen. Am Theater Heilbronn ist sie für 4 Wochen Praktikantin der Presse und Öffentlichkeitsarbeit.

Spielender Umgang mit „Dantons Tod“ und „Homo faber“

„Wenn du an Danton denkst, denkst du an die Guillotine. Wenn ich an Danton denke, denke ich ans Abitur.“
„Wenn du an Danton denkst, denkst du ans Abitur. Wenn ich ans Abitur denke…“
„Nein, stopp mal. Wenn du an Danton denkst.“

Der Gedanke hat aber zwei Nasallaute. Auch sonst sind da eine Menge Ecken, an denen die Zunge falsch abbiegen kann.
„Wenn du an Danton denkst, denkst du ans Abitur. Wenn ich an Danton denke, denke ich an Wikipedia.“

Verhaltenes Kichern. Die Nasallaute könnten nämlich Thema im Abi-Aufsatz werden. Eine Schulklasse denkt an Danton, ihr Deutsch-Lehrer macht mit und die Theaterpädagogin Ruth Hengel. Ich denke auch an Danton. Das gehört zu meinem Praktikum. „AbiTour“ heißt die Projektwoche. In der BOXX werden kompakte Fassungen von „Dantons Tod“ und „Homo Faber“ gezeigt, beide sind Abi-Stoff. Davor Workshops und Einführungen der Dramaturgie, hinterher Nachgespräche mit dem Ensemble.

Wir stehen gerade in einem der Workshops. Im Moment im Kreis. Wir sind aber auch noch bei der Einstiegsübung. Was soll das eigentlich werden? Gedacht ist es so: Die Schülerinnen und Schüler begehen das Drama, kauen auf seinen Texten herum. Sie erkunden seine Themen und positionieren sich. Sie spielen damit.

Bei „Dantons Tod“ beschäftigen wir uns mit gesellschaftlichem Status und damit, was er mit einem menschlichen Körper macht. Es geht um revolutionäre Reden und die Stimmen, die sie formen. Wir bewegen uns in der Literatur, aber gleichzeitig geht es um etwas sehr Gegenwärtiges. Gewalt und Moral, Demokratie und Terror und wie sie zueinander stehen, das alles wird Thema. Außerdem: Ist es an der Spitze einer Revolution eigentlich genauso peinlich wie auf der Bühne vor der eigenen Klasse?
Im Workshop zu „Homo Faber“ dagegen legt Theaterpädagogin Katrin Singer den Schwerpunkt auf die Charaktere des Romans und der Stückfassung, auf ihre Beziehungen untereinander und zu Orten. Hanna Piper liebt den Louvre, das ist offensichtlich. Ihre Position zum Dschungel ist da schon weniger eindeutig, das Lebendige, das Wilde scheinen zu passen, andererseits: Die Kunsthistorikerin im Regenwald? Und auch hier ist das Ziel eben nicht, über die Figuren zu sprechen, sondern ihre Rolle anzunehmen, als sie zu sprechen und sich zu begegnen. Schließlich ist es ja die theatrale Herangehensweise an den Text.

Die Klassen, die während der Projektwoche für einen Tag ans Theater kommen, stehen ein Jahr oder auch nur wenige Wochen vor den Abi-Prüfungen. Das theaterpädagogische Begleitprogramm soll sie dabei unterstützen, aus den Inszenierungen etwas mitzunehmen, was der Text allein noch nicht hergibt, das Unmittelbare. Pardon, das soll Theaterpädagogik eigentlich immer. Aus dem Verwertungszusammenhang kommen wir hier ja sowieso nicht raus, Kunst wird plötzlich ganz handfest sinnvoll, wenn sie bei der Prüfungsvorbereitung hilft.

„Wenn du an Danton denkst, denkst du an deinen Deutschlehrer. Wenn ich an Danton denke…“ Ich überlege. Georg Büchners Tragödie habe ich nie gelesen, das habe ich mit einigen Schülern gemeinsam.

Dafür fühle ich mich aber verdächtig textsicher.

Malte Lutz hätte sich als Schüler nie getraut, die Pflichtlektüre zu ignorieren. Inzwischen studiert der 22-Jährige aber Theaterpädagogik an der Hochschule Osnabrück. Am Theater Heilbronn ist er für sechs Wochen im Praktikum.