Lieblingsstück ist immer das aktuelle

Uta Koschel ist die neue Chefregisseurin

Foto: Thomas Braun
Foto: Thomas Braun

Eigentlich verbietet sich das Attribut neu im Zusammenhang mit Uta Koschels Tätigkeit am Theater Heilbronn. Denn seit Beginn von Axel Vornams Intendanz 2008 ist die Regisseurin fast jedes Jahr mit einer oder mehreren Inszenierungen am Berliner Platz vertreten und prägt somit auch schon seit langem das künstlerische Profil des Hauses mit. Mit Inszenierungen wie zuletzt »Ziemlich beste Freunde«, »Das Fest«, »Der nackte Wahnsinn« oder »Die Katze auf dem heißen Blechdach« hat sie bereits wichtige Akzente gesetzt. Neu ist jetzt ihre Position am Theater. Ab dieser Spielzeit übernimmt sie als Chefregisseurin die Nachfolge von Alejandro Quintana. Sie wird nicht nur verschiedene Inszenierungen verantworten, sondern auch den Spielplan mitgestalten und ein wichtiger Ansprechpartner für das Schauspielensemble sein.
Die Theaterleidenschaft hat sie mit in die Wiege gelegt bekommen. Ihre Mutter war Schauspielerin, der Vater Dramaturg. Nach dem Abitur studierte Uta Koschel an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« in Berlin Schauspiel und ging nach dem Studium 1989 mit einer Gruppe von sieben jungen Absolventen ans Theater Rudolstadt, wo der seinerzeit jüngste Oberspielleiter des Landes, Axel Vornam, ein aufregendes und neues Konzept ausprobieren durfte. Zweite Hausregisseurin war damals Konstanze Lauterbach, und die jungen Schauspieler wurden durch diese zwei sehr unterschiedlichen Regisseure sehr gefordert. Nächtelang diskutierten alle gemeinsam über künstlerische Konzepte und Figurenzeichnungen. Eine gute Schule, prägend bis heute. Das Theater Rudolstadt machte sich damals weit über die Grenzen Thüringens hinaus einen Namen. Als Uta Koschel während eines Probenzyklus mal nicht besetzt war, übernahm sie die Regieassistenz für eine Inszenierung. »Daher rührt mein großer Respekt für alle Regieassistenten«, sagt sie. Offenbar kniete sie sich so hinein, dass Axel Vornam sie fragte, ob sie es nicht mal selbst versuchen möchte, Regie zu führen. Der ersten Inszenierung, einer Ufa-Schlagerrevue »Wir machen Musik«, folgten bald weitere Regiearbeiten. Der Perspektivwechsel vom Schauspieler, der sich gedanklich und emotional mit seiner Rolle auseinandersetzt, hin zum analytischen Gestalter, der die Figuren miteinander in Beziehung bringt und mit den unterschiedlichsten Mitteln einen Text mit Leben erfüllt, gefiel ihr zunehmend gut. Ihr nächstes Engagement in Greifswald/Stralsund von 1996  bis 2003 unterschrieb sie dann schon als Schauspielerin mit Regieverpflichtung. Bis sie eines Tages beschloss, ausschließlich als Regisseurin zu arbeiten. Zunächst war sie freischaffend tätig unter anderem in Leipzig, am Maxim-Gorki-Theater Berlin, in Schleswig, Magdeburg und weiterhin in Greifswald/Stralsund. Dann kehrte sie als Oberspielleiterin nach Rudolstadt zurück, wo Axel Vornam inzwischen Intendant war. Dort inszenierte sie unter anderem »Yvonne, die Burgunderprinzessin«, den »Sommernachtstraum« und »Romeo und Julia« von Shakespeare, »Die Ratten« von Gerhart Hauptmann oder die deutsche Erstaufführung von »Hafen der Sehnsucht« von Armin Petras. Sehr viel Spaß macht ihr auch die Arbeit mit Schauspielstudenten. So erarbeitete sie mit Studierenden der Schauspielschulen in Leipzig, Rostock und der Ernst-Busch-Hochschule in Berlin ihre jeweiligen Abschlussinszenierungen.

Nach nunmehr acht erfolgreichen Jahren der Freiberuflichkeit, in denen Berlin ihr Lebensmittelpunkt war und sie an vielen Theatern in ganz Deutschland gearbeitet hat, hat sie nun wieder Sehnsucht nach einem festen Haus. Heilbronn schätzt sie nicht nur wegen des sehr feinen Ensembles, wie sie sagt. Kürzlich hat sie in einer Woche so unterschiedliche Inszenierungen wie »Der nackte Wahnsinn«, »Der Auftrag« und »The Rocky Horror Show« gesehen und dabei zum Teil die gleichen Schauspieler völlig unterschiedlich erlebt. »Für diese Vielfalt liebe ich Theater.« Aber auch die Werkstätten seien großartig, das ganze Haus außergewöhnlich gut organisiert und von einem hohen Arbeitsethos geprägt. Die Stadt ist, wenn auch nicht hübsch, so doch quirlig und dynamisch, das Publikum überaus wach und dem Theater sehr zugetan. Einen Wermutstropfen hat ihr Engagement im Südwesten: Mit ihrem Lebensgefährten Jon-Kaare Koppe, Schauspieler in Potsdam, wird sie weiter eine Fernbeziehung führen. Schon seit der Schauspielschule sind die beiden ein Paar.
Die Schauspielerin merkt man ihr auch noch deutlich an. Wenn sie Dinge beschreibt, tut sie dies mit intensiver Mimik und sehr gestenreich. »Die vier Jahre Studium und die vielen Jahre auf der Bühne haben mich natürlich geprägt, und sie sind für meine Arbeitsweise sehr wichtig«, sagt sie. Eine bestimmte, sofort erkennbare Ästhetik als Markenzeichen habe sie nicht. Sie entwickelt die Inszenierung immer aus dem jeweiligen Stoff heraus gemeinsam mit ihrem Team. Dass sie beide Seiten sehr gut kennt: Die Einsamkeit des Regisseurs, von dem alle die richtige Entscheidung erwarten, und die Ängste des Schauspielers, eine Rolle eventuell nicht zu bewältigen, macht sie nicht nur zur Autoritäts- sondern auch zur Vertrauensperson.
Welches ist ihr Lieblingsstück? »Im besten Fall immer das, an dem ich gerade arbeite«, sagt sie. Freuen wir uns also auf Uta Koschels aktuelles Traumstück »Der Besuch der alten Dame«, mit dem die Theatersaison 2016/17 eröffnet wird.

»Wir sind schon längst im freien Fall«

»Kriegerin« ab dem 24. September in der BOXX

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Für Marisa ist klar: »Wir sind keine Nazis. Wir sind rechts, das stimmt. Wir mögen Deutschland, das stimmt auch. Wir mögen Deutschland gerne deutsch.« Eben noch pöbelte sie mit ihren Leuten – allen voran Marisas Freund Sandro – gegen die in ihrer Stadt untergebrachten Geflüchteten und fährt in einem Anflug exzessiver Gewalt die afghanischen Brüder Rasul und Jamil mutwillig mit dem Auto an. Die darauf folgenden Ereignisse holen sie unvermittelt ein. Denn Rasul steht plötzlich im Supermarkt vor ihr und lässt sich nicht abschütteln. Zur selben Zeit steigt Svenja, fasziniert von den archaischen Ritualen und Parolen, immer tiefer in die rechte Szene ein. So stehen sich nicht nur Marisa und Rasul gegenüber, plötzlich sieht sich Marisa auch mit Svenjas Radikalisierung konfrontiert, die der ihren ähnlich und damit ein Spiegel ihrer bisherigen Einstellung ist. »Wir rasen nicht einmal mehr auf den Abgrund zu. Wir sind schon längst im freien Fall«, weiß Marisa.
»Auch wer lange in der rechten Szene drinsteckt, hat nicht jede Menschlichkeit verloren. Da darf man auch niemanden aufgeben.« David Wnendt, Regisseur des ausgezeichneten Kinofilms »Kriegerin«, ließ es nicht bei dieser Überlegung bewenden. Noch im Erscheinungsjahr des Films 2012 bezog Wnendt Stellung zur Frage, ob die Demokratiefeindlichkeit in der breiten Bevölkerung zunehmend auf fruchtbaren Boden falle: »Es gibt Umfragen, die besagen, dass mittlerweile über die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland der Demokratie skeptisch gegenüber steht. Das sind alarmierende Zahlen. Das parlamentarische System verliert zunehmend an Rückhalt. Die Rechtsextremen sind nicht vollkommen isoliert. Ihre Kritik am System findet auch Anklang bei normalen Bevölkerungsschichten.« Belege dafür liefern nicht zuletzt die seit 2014 anhaltenden Aufmärsche von Pegida und die Montagsmahnwachen, die sich als sogenannte »Volksbewegungen« präsentieren. Die Demonstrierenden bringen dort ihre gefühlte Bedrohung durch Flüchtlinge,  den Islam oder auch eine jüdisch-amerikanische Weltverschwörung zum Ausdruck. Auch wenn die Zahlen der Demonstranten derzeit rückläufig sind, die propagierten Inhalte bleiben öffentlichkeitswirksam. So ergab die aktuelle Mitte-Studie der Universität Leipzig von 2016, dass jeder und jede zweite Deutsche in diesem Jahr angab, sich »wie ein Fremder im eigenen Land« zu fühlen und das nachweislich über 40% der Befragten Muslimen und Muslimas die Zuwanderung nach Deutschland untersagen wollen. Immer noch werden diese Ergebnisse vielerorts als vermeintlich unerwarteter »Rechtsrucks in Deutschland« beschrieben; etwa, dass 21,9% der Aussage beipflichten, dass Deutschland jetzt eine einzige starke Partei brauche, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpere, 32,1% die Ansicht teilen, die Ausländer kämen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen und noch immer 12% der Befragten der Aussage voll zustimmen, dass die Deutschen anderen Völkern von Natur aus eigentlich überlegen seien. Tatsächlich aber werden dadurch die faktischen Entwicklungen der mindestens letzten 25 Jahre innerhalb Deutschlands und Europas verschleiert.
Ohne kategorische Antworten zu liefern, zeigt »Kriegerin« die tiefsitzenden Ängste vor dem vermeintlich Anderen. Einerseits lässt sich das Verführungspotenzial rassistischer Gesinnungen durch die theatrale Bearbeitung einmal mehr zur Diskussion stellen, andererseits aber auch die oft unterstellte Unmöglichkeit, eine Veränderung der Wahrnehmung und eine Empathie für den Anderen hier als eine Möglichkeit erfahren.
Nach »Krieg – Stell dir vor, er wäre hier« eröffnet Adewale Teodros Adebisi die Spielzeit 2016/2017 in der BOXX mit seiner Inszenierung von »Kriegerin«. Die Ausstattung übernimmt Gesine Kuhn, die bereits für »Krieg – Stell dir vor, er wäre hier« und »Die Werkstatt der Schmetterlinge« Bühne und Kostüme entworfen hat.

In der Katastrophe wird die Wahrheit offenbar

 »Der Besuch der alten Dame« ab 23. September im Großen Haus

besuch-der-alten-dameEs ist »eine Geschichte, die sich irgendwo in Mitteleuropa ereignet, geschrieben von einem, der sich von diesen Leuten durchaus nicht distanziert und der sich nicht sicher ist, ob er anders handeln würde.« So beschreibt es Friedrich Dürrenmatt in seinen Anmerkungen zu »Der Besuch der alten Dame«. Das Stück spielt in Güllen, einer Kleinstadt, die sich in einer wirtschaftlichen Krise befindet. Es gibt viele Arbeitslose und die Industrie ist zusammengebrochen. Doch es gibt einen Hoffnungsschimmer: Claire Zachanassian, inzwischen die reichste Frau der Welt, hat ihren Besuch angekündigt, und so hoffen die Bewohner, dass die alte Dame, die selbst aus Güllen stammt, ihnen mit einer großzügigen Geldspende aus der Not helfen wird. Sie ist tatsächlich gekommen, um ihrer Heimatstadt zu helfen, aber sie verlangt im Gegenzug Gerechtigkeit. Claire, die damals noch Klara Wäscher hieß, musste Güllen vor vielen Jahren gedemütigt verlassen, nachdem sie von ihrem früheren Liebhaber Alfred Ill erst geschwängert und dann sitzengelassen wurde. Um der Vaterschaftsklage zu entgehen, hat er im Prozess Zeugen bestochen, die angaben, auch mit Klara geschlafen zu haben. Klara musste dadurch einerseits schmerzhaft erfahren, dass Liebe kein verlässlicher Wert ist und andererseits, dass man alles kaufen kann, Waren wie Menschen. Durch das Gerichtsurteil wurde sie zur Hure, zum Sinnbild der käuflichen Liebe. Und so ist es nicht die Wohltätigkeit, die sie treibt, sondern vielmehr der Wunsch nach Rache. Und sie kann es sich leisten. Denn mittlerweile hat sich das Blatt gewendet. Sie kommt zu Stückbeginn mit ihrem siebten Ehemann und einer Schar merkwürdiger Bediensteter angereist. Nun stellt sie die Bedingungen, denn sie hat die Finanzkraft. Und so verspricht sie eine Milliarde für Güllen – 500 Millionen für die Stadt, 500 Millionen verteilt auf alle Bürger – wenn jemand das Unrecht, das ihr angetan wurde, wiedergutmacht. Eine Milliarde, wenn jemand Alfred Ill tötet. Natürlich lehnt die Bevölkerung das Angebot zunächst aus moralischen Gründen ab. Doch schon bald beginnen die Menschen zu konsumieren, auf Kredit zu kaufen und sich immer mehr in den Maschen der Ökonomie zu verfangen.
Für Regisseurin Uta Koschel steht in diesem Stück jedoch nicht das menschliche Fehlverhalten des Einzelnen im Zentrum. Ihr Interesse gilt vielmehr der Zwangsläufigkeit der Geschichte. Durch das Angebot der alten Dame wird etwas in Gang gesetzt, das nicht mehr aufzuhalten ist. Natürlich will niemand Ill töten. Doch die Verlockungen des Konsums sind in der Not zu groß und so offenbart sich die Leichtfertigkeit, mit der die Menschen auf Kredit kaufen, die Augen vor den Konsequenzen verschließend. In »Der Besuch der alten Dame« bestätigt sich die marxistische Grundaussage, nach der das Sein das Bewusstsein bestimmt. Anders ausgedrückt heißt das, dass die materiellen Lebensumstände das Denken prägen. Dürrenmatt versteht sich nicht als Therapeut, sondern als Diagnostiker und skeptischer Opponent, dessen Literatur das Publikum zu Irritation und kritischer Reflexion bewegen soll. Und in der Tat stellt sich die Frage bei jedem von uns: Was würden wir anstelle der Güllener tun? Ist die Aussicht auf schnellen Reichtum wirklich so einfach zu verwerfen, wie es in moralischem Sinne sein sollte? Lebt uns der Kapitalismus nicht genau das vor? Kapital schafft Macht über all jene, die weniger besitzen. Im privaten wie globalen Kontext. Auf politischer Ebene wird unsere Finanzkraft genutzt, um anderen Staaten zu helfen, ihnen gleichzeitig aber auch die Bedingungen für diese Hilfe vorzuschreiben. Und »sie sind gezwungen unsere Auflagen zu erfüllen, denn ohne uns werden sie da nicht mehr herauskommen« (IWF-Chefin Christine Lagarde).
Was wir brauchen, ist ein gesellschaftliches Gewissen. Der kategorische Imperativ, den Kant 1785 entwickelte, muss zu einer gesellschaftlichen, allgemeinen Aufgabe werden. »Doch unser heutiges Gewissen ist pervertiert. Es lautet nicht: Ich bin gut. Es lautet: Die anderen sind ja auch schlecht.« Das stellte Dürrenmatt schon 1961 fest. Und bis heute hat sich daran nichts verändert. Wir ziehen uns mit dieser Ansicht schlichtweg aus der Verantwortung. Der mit dem Besuch der alten Dame rapide einsetzende Verfall der, von den Güllenern zu Beginn des Stücks noch hoch gepriesenen, »christlich-humanistischen Werte« zeigt in erschütternder Weise, dass solche Traditionen einer zunehmenden Ökonomisierung aller Lebensumstände kaum etwas entgegenzusetzen haben.
Doch was können wir tun? Protestieren. Vielleicht. Besser wäre es aber unsere Haltungen und Handlungen zu reflektieren. Denn unsere Entscheidungen haben Einfluss auf eine Zukunft, die noch gestaltet werden kann. Dürrenmatt kommt 1969 in seinem »Monstervertrag über Gerechtigkeit und Recht« zu dem Ergebnis: »Nicht der Einzelne verändert die Wirklichkeit, die Wirklichkeit wird von allen verändert. Die Wirklichkeit sind wir alle, und wir sind immer nur Einzelne.«