Psychologin mit Nadel und Faden

Was machen Sie eigentlich vormittags?
Kostümwerkstatt

Wohl jeder Mitarbeiter des Theaters wurde in seinem Berufsleben schon einmal gefragt: „Und was machen Sie vormittags?“. Viele Menschen haben im Kopf, dass an den Abenden die Vorstellungen im Theater laufen und können sich nicht vorstellen, dass dort fast rund um die Uhr und natürlich auch vormittags gearbeitet wird. Zum Beispiel in der Kostümwerkstatt:
Mit sicherer Hand setzt Roswitha Egger die große Schere an und schneidet den schönen roten mit Pailletten besetzten Jerseystoff für ein Ballkleid zu. Es ist für den großen Showauftritt in der ersten Inszenierung der Spielzeit: “Das Ballhaus“ bestimmt. Sylvia Bretschneider, die in diesem Schauspiel ohne Worte den Typ „große Liebende“ verkörpert, wird es anhaben. Doch dieses Kleid soll nicht einfach nur gut aussehen und der Schauspielerin schmeicheln. Es muss noch einiges mehr können. Obwohl es eng anliegend ist, soll es viel Bewegungsfreiheit bieten und Sylvia Bretschneider muss für das Publikum unsichtbar darunter noch ein zweites Kleid tragen. „Das Ballhaus“ ist eine große Zeitreise durch das vergangene Jahrhundert. Es beginnt im Heute und führt dann zurück in die Zwanziger Jahre. Die erste Verwandlung der Schauspielerinnen und Schauspieler geschieht auf offener Bühne. Sie pellen sich aus dem Jetzt, indem sie das Kostüm abstreifen und dann in den Originalkostümen der 20er Jahre auf der Bühne stehen. Alle Zeitenwechsel werden vor allem über die Veränderungen in den Kostümen erzählt. Für 19 Schauspielerinnen und Schauspieler werden rund 160 Kostüme gebraucht. „Früher hätte ich da Panik bekommen“, sagt Roswitha Egger, die seit 28 (?) Jahren die Kostümwerkstatt am Theater Heilbronn leitet. Aber im Laufe der Jahre hat sie mit den Kolleginnen und Kollegen einen der best sortierten Fundi in Deutschland aufgebaut – so sagen es zumindest die Gast-Kostümbildner, die landauf, landab an den unterschiedlichsten Theatern arbeiten. Tausende Kostüme hängen dort sorgfältig sortiert an meterlangen Kleiderstangen – die allermeisten sind selbst genäht, einige historische Kostbarkeiten auch erworben oder als Schenkung ans Heilbronner Theater gegangen. Rund die Hälfte der benötigten Garderobe hat Kostümbildner Mathias Werner da gefunden.
Die andere Hälfte wird nach seinen Zeichnungen angefertigt.Der schwierigste Part liegt dabei bei den Gewandmeistern Roswitha Egger und Andreas Hihn. Die beiden müssen nämlich nach den Entwürfen, den sogenannten Figurinen, die einen Eindruck davon vermitteln, wie das Kostüm mal aussehen soll, die Schnitte anfertigen – historisch korrekt, nach Schauspielermaß und bühnentauglich. Roswitha Egger kümmert sich um die Damenkostüme – obwohl sie ursprünglich zur Herrenschneiderin ausgebildet wurde: „Es schadet nichts, wenn ich als Leiterin der Abteilung auch von den Herren etwas verstehe“, sagt sie. Ihr Stellvertreter Andreas Hihn schneidet die Maßanzüge aller Couleur für die Männer zu. „Es ist ein sehr kreativer Prozess“, schwärmt Roswitha Egger. Deshalb kann man auch nicht einfach so drauf losarbeiten. Sie versetzt sich bei einem neuen Stück immer erst in Stimmung, in dem sie sich ein paar ganz besonders schöne Kleider vornimmt, auf die sie richtig Lust hat. Beim Ballhaus, diesem Riesenstück, waren es die Kleider von Ingrid Richter Wendel, die nicht nur am Theater die Grand Dame ist, sondern diese in dem Stück auch spielen darf. Außerdem ist sie mit ihrer langen Theatererfahrung ein Vollprofi bei den Anproben und macht es der Kostümchefin leicht. In dieser heiklen Phase ist Vertrauen die absolute Voraussetzung. Längst ist Roswitha Egger zur engen Beraterin für viele Schauspielerinnen geworden. „Schließlich sind wir dafür verantwortlich, ob die Damen optisch zwei Kilo mehr haben oder nicht.“ Manchmal fühle sie fast wie eine Psychologin.

Bevor Roswitha Egger nach Heilbronn kam, absolvierte sie ihre Meisterausbildung in München und arbeitete acht Jahre lang am Staatstheater Stuttgart. Dort war sie vor allem für das Ballett zuständig, hat es gelernt, hoch strapazierfähige Kostüme von großer Schönheit zu zaubern. Und hier entwickelte sie jenen Zug, für den sie heute bekannt ist: Sie ist eine extreme Perfektionistin. „Nur wenn man bei der Arbeit mehr als 100 Prozent gibt, sehen die Kostüme von der Bühne herunter zu 100 Prozent schön aus“, sagt sie. Sind die Kostüme fertig, ist die Arbeit nicht beendet. In der Verantwortung der Kostümchefin liegt auch die Organisation der Umzüge hinter den Kulissen, die eine generalstabsmäßige Planung verlangen. Außerdem müssen die Kostüme nach den Proben und Vorstellungen gereinigt und gewaschen werden.

Manche ihrer früheren Kolleginnen, die heute in der Industrie und für große Modelabels arbeiten, schauen etwas mitleidig, wenn sie Roswitha Egger treffen: Am Theater muss man ständig abends arbeiten – manchmal auch nachts, wenn zwischen den letzten Proben vor der Premiere Kostüme von einem Tag auf den anderen geändert werden müssen . „Ich musste mich entscheiden, entweder Haute Couture oder Theater.“ Dass die Entscheidung aufs Theater fiel, hat sie nie bereut. Kein Tag ist wie der andere. Die Herausforderungen höre nie auf. Und modische Akzente setzt sie eben ganz privat, mit wunderschönen Kleidern, die sie für sich selbst entwirft und die ihrer Seele gut tun.

Silke Zschäckel, Pressereferentin

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