Erik Satie: Außenseiter, Grenzgänger und Vater der Neuen Musik

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Satie Karrikatur

Alfred Eric Leslie Satie, geb. in Honfleur (Calvados), zuletzt wohnhaft: Haus zu den vier Schornsteinen, Arcueil (Paris).
Beruf: Komponist, Kneipenpianist.
Besondere Merkmale: Schwarze Melone, schwarzer Cordanzug, schwarzer Regenschirm (bei jedem Wetter), trägt Nickelbrille oder Kneifer, passionierter Fußgänger. Alkoholkrank.
Achtung: Bewaffnet! (mit einem Hammer und Humor), Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs.

„Bevor ich mich an die Niederschrift eines Werks mache, gehe ich ein paarmal mit mir zusammen um es herum.“
Erik Satie

Wer schon einmal versucht hat, anderen die Künstlerpersönlichkeit Erik Satie zu beschreiben, wird vermutlich zustimmen, dass er eine besonders „harte Nuss“ in die Finger bekommen hat. Zählt der Komponist doch zu jenen Menschen, die sich allen Versuchen, ein zusammenhängendes Bild von ihnen zu zeichnen, mit Vorliebe entziehen. Schnell sind dafür die bekannten Anekdoten bei der Hand: Saties winzige und völlig verdreckte Wohnung in einem Arbeiterviertel. Ein musikalischer Einfall, den er in Ermangelung von Papier auf seine Manschetten schreibt. Oder die legendären Titel vieler seiner Werke: Schlaffe Präludien (für einen Hund), Bürokratische Sonatine usf. Doch wo ist unter der Oberfläche der Skurrilität in Kleidung, geäußerten Gedanken und den Manifestationen seiner Arbeit ein Mensch mit einer ganz bestimmten Haltung zum Leben zu finden? Erstaunlicherweise wird gerade in diesem Hang, sich zu entziehen und auf eine Position außerhalb zurückzuziehen – außerhalb von Gesellschaft, außerhalb von Sinn, außerhalb weithin akzeptierter Normen – die Persönlichkeit Saties plötzlich ein Stück weit greifbar. Gerade jene Außenposition ermöglichte Satie immer wieder Grenzgänge des Denkens, ein grundsätzliches Befragen der Möglichkeiten von Musik, mit dem vermutlich kein anderer nennenswerter Komponist seiner Zeit konkurrieren konnte. Satie ist Avantgarde der Avantgarde und als Sonderling marginalisiert, bekannt mit den berühmtesten Künstlern seiner Zeit (Debussy, Ravel, Picasso, Diaghilew) und von der Nachwelt vergessen, in alten Musiktraditionen verwurzelt und „Vater“ der Neuen Musik. Er selbst nannte sich den „seltsamsten Musiker unserer Zeit.“
    Zugegeben, was gerade als Außenposition bezeichnet wurde, ist nicht rein freiwillig. Durch Saties gesamtes Leben ist zu beobachten, dass er „draußen“ landet. Es scheint, als habe er eine generelle Distanz zu den Menschen empfunden und sich selbst als einen Andersartigen gesehen. Von großer Unsicherheit – künstlerisch wie persönlich – geprägt suchte er Anerkennung und erfuhr Zurückweisung, nicht zuletzt wegen seiner eigenen Kompromisslosigkeit. „Ich bin zu jung auf die Welt gekommen, in einer zu alten Zeit“, sagte der Komponist selbst einmal, was der englische Musikwissenschaftler Wilfrid H. Meller so erklärte, dass Satie „einem Kind gleicht, … weil er jene Unschuld besitzt, die einem Künstler zustattenkommt, und nicht weil er infantil wäre. Es macht seine eigentümliche Leistung aus, daß er in einer Zeit, in der das hervorstechende Kennzeichen der künstlerischen Sensibilität die Isolation ist, die geistige Kargheit und Dürre akzeptierte, zu der ihn „cette terre si terrestre et si terreuse“ verhielt, … daß er standhaft ablehnte, seine Haltung im geringsten zu verfälschen und zu entstellen.“
    Musik-ästhetisch gesehen kommt die Außenposition bei Satie von einer großen Pathos-Skepsis. Er setzt sich vom französischen Wagnerismus genauso ab wie vom Impressionismus Ravels und Debussys, wahrt aber auch zum Expressionismus, etwa eines Strawinsky, auffällige Distanz. Das, wovon er sich fortbewegt, ist Musik, die verführt und überwältigt, Musik, die dramatische Entwicklungen aufbaut, in die sie ihre Zuhörer hineinlockt. Anders gesagt, Satie geht auf Distanz zur Tradition der Musik(-Aufführung), wie sie vom 19. Jahrhundert auf das 20. Jahrhundert gekommen ist. Er fühlt sich als Künstler seiner Zeit verpflichtet und sucht nach einer dieser Zeit angemessenen Musik. Was er in vielen Jahren des Ringens mit sich selbst entwickelt, ist eine Musik, die bewusst auf die Addition weniger musikalischer Bausteine setzt: sparsam mit Variationen dieser Bausteine, harmonisch fern von Debussyscher Rafinesse, dynamisch-rhythmisch am Strawinskys Feuer entgegengesetzten Ende der Skala. Orientierung sucht er in der Musik des Mittelalters und im strengen Kontrapunkt, zeigt aber auch Einflüsse von Café Concert und Music Hall. Er nennt seine Musik „weiße“ Musik, womit er ihrem flächigen, bisweilen blassen, doch nicht spannungslosen Charakter einen Namen gibt. Oder: „musique d’ameublement“, was mehr die Funktion in den Mittelpunkt stellt. Wie eine Zierleiste in einem Raum, die man leicht übersieht, und die doch Atmosphäre schafft, will er sie verstanden wissen. „Unterhalten Sie sich!“ ruft er einmal aufgebracht Konzertbesuchern zu, die aufmerksam seiner Pausenmusik lauschen. Noch deutlicher spricht das Klavierstück „Vexations“ (Quälereien) die Funktion von Musik in der Beziehung von Publikum, Aufführenden und Komponisten an. Die Anweisung zum Stück sieht vor, dass der Pianist sich in den Zustand völliger Ruhe versetzt, um es dann 840 Mal in Folge zu spielen: eine „vexation“ nicht nur für Pianisten. Dabei steht hinter der Frage, warum und wozu Menschen in der Situation einer (Musik-) Aufführung zusammenkommen, auch immer die Frage des Wozu menschlicher Existenz und menschlicher Interaktion als Gesellschaft. Diese gleichermaßen politische wie private Frage ist es, die Saties Musik für Komponisten Neuer Musik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so attraktiv machte. Die Happenings eines John Cage etwa wären ohne Erik Satie undenkbar.

Johannes Frohnsdorf, Dramaturg

TIPP: Am 12. April 2014 um 09:30 Uhr gibt es ein Tweetup zur Bühnen-Orchester-Probe „Relâche – Heute keine Vorstellung“. Seid die ersten, die diese Inszenierung miterleben dürfen und twittert live aus dem Theater Heilbronn.
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