In »Spring Awakening« entdecken Jugendliche ihre Sexualität – und nutzen Rock- und Pop-Songs als Ventil
»Ganz tief in mir drinnen«, schreibt Steven Sater im Booklet zur preisgekrönten CD von »Spring Awakening«, »weiß ich, dass wir bei all unserer endlosen Arbeit an dem Musical dem furchtlosen und originellen Geist Frank Wedekinds treu geblieben sind.« Acht Jahre lang haben Sater und der Liedermacher und Sänger Duncan Sheik an einer Musical-Fassung von »Frühlings Erwachen« gearbeitet, haben Songs geschrieben und wieder verworfen, ihre Arbeit in Workshops und Konzertauftritten erprobt und verfeinert. Es hat sich gelohnt: Die Uraufführung ihres Musicals 2006, zuerst Off-Broadway, dann schnell in ein größeres Theater transferiert, lief mehr als 850 Vorstellungen lang und gewann – neben vielen anderen Preisen – acht Tony Awards, die Oscars des amerikanischen Theaters.
Der kleine schwarz-weiße Aufkleber auf der amerikanischen CD allerdings, auf dem vor der »expliziten« Sprache der Songtexte gewarnt wird, weist darauf hin, dass der Stoff auch heute das Potential zum Provozieren hat wie vor über 120 Jahren: Als Frank Wedekind sein Stück 1891 drucken lassen wollte, musste er es auf eigene Kosten tun, der ursprüngliche Verlag lehnte sein Manuskript ab. Lange Zeit galt es als Skandalstück, sogar als Pornografie. Selbst Max Reinhardts bahnbrechende Uraufführung in den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin 1906 konnte nur unter heftigen Zensurauflagen stattfinden. 33 Jahre sollte es dauern, bis »Frühlings Erwachen« unzensiert auf einer Bühne zu sehen war.
Wedekinds Geschichte von Jugendlichen, die ihre Sexualität entdecken, und von einer scheinheiligen Erwachsenenwelt, die darauf mit Befremden und Entsetzen, Druck und drastischen Sanktionen reagiert, seine Abrechnung mit einem repressiven Schulsystem, das junge Menschen nicht formt, sondern verformt, hat ihre Brisanz und Eindringlichkeit bis heute nicht verloren. Der amerikanische Musiker Duncan Sheik, dem Steven Sater Wedekinds Werk im Frühjahr 1999, nach dem Amoklauf in Columbine, in die Hand drückte, war sich zuerst nicht sicher, ob ihn eine Musical-Fassung wirklich interessierte. Erst als beide erkannten, dass sie Rock- und Pop-Songs als Ventil für die Figuren des Stückes, als Ausbrüche aus ihrer repressiven Umwelt und als Brücken ins Hier und Heute nutzen konnten, nahm die Arbeit an »Spring Awakening« Gestalt an.
Inzwischen wird das Musical nicht nur international an vielen Theatern inszeniert – die deutschsprachige Erstaufführung fand 2009 in Wien statt. Es ist eine Art moderner Klassiker des Musical-Theaters geworden. Nicht nur an amerikanischen High Schools, auch an vielen deutschen Schulen entdecken junge Menschen die Songs und Themen von Sheik und Sater – und natürlich von Wedekind – für sich. 2012 verkündete die Schulleitung eines Gymnasiums in NRW, sie müsse eine Aufführung des Stückes untersagen, damit der Ruf der Schule nicht geschädigt würde. Vielleicht ist 1891 nicht so weit entfernt von uns, wie wir denken …
Mit »Spring Awakening« stellt sich Christian Doll erstmals dem Heilbronner Publikum vor. Seit 2012 ist der Schauspieler und Regisseur Intendant der Bad Gandersheimer Domfestspiele und hat dort zusammen mit dem Musikalischen Leiter Heiko Lippmann mit »Blondgirl Undercover« und »Maria, ihm schmeckt’s nicht« auch bereits zwei eigene Musicals auf die Bühne vor der historischen Stiftskirche gebracht. Seine Musicalfassung von »Gefährliche Liebschaften« hat im Juli 2014 dort ihre Uraufführung.
Andreas Frane, Dramaturg