»Was ist in unserem Herzen die Welt ohne Liebe?«

Werther_szene

»Wie froh bin ich, dass ich weg bin!« So beginnen »Die Leiden des jungen Werther« und sofort merkt man die Wut und die Unruhe, die in diesem jungen Mann stecken. Weggehen, ausbrechen, frei sein. Getrieben von einer unbändigen Sehnsucht nach Freiheit und nach dem Leben im Hier und Jetzt, macht er sich auf den Weg, Grenzen zu überschreiten und Neuland zu betreten. Jeder Baum und jeder Strauch erscheinen im Lichte seiner Freiheit wie ein kleines Wunder. Und als er dann auch noch Lotte begegnet, ist es um ihn geschehen. Die Welt scheint sich einzig um ihn zu drehen. Und obwohl er bald erfährt, dass Lotte schon vergeben ist, begehrt er sie weiter mit kindlichem Trotz, einem fast hilflosen: ICH WILL, ICH WILL, ICH WILL! Werther ist vollkommen erfüllt von einem Gefühl jugendlichen Totaloptimismus’, das ihm ständig suggeriert: Alles ist möglich!
Dieses Grundgefühl hat er gemeinsam mit Generationen junger Menschen, die aus der Geborgenheit ihrer Jugend aufbrechen und hin- und hergerissen sind zwischen dem Wunsch, Kind zu bleiben und der Notwendigkeit, erwachsen zu werden.
An diesem Punkt setzt auch die BOXX-Inszenierung des Werthers an und nicht etwa am allseits bekannten tragischen Ende. Regisseur Michael Götz stellt die Lebensentwürfe der drei Protagonisten gleichberechtigt nebeneinander. Da ist zum einen der ungestüme Stürmer und Dränger Werther, der für den Moment lebt und zum anderen der besonnene Albert, der sein Leben in einem ordentlichen Rahmen plant – zwischen diesen beiden Polen pendelt verunsichert die liebenswerte Lotte.

Goethes »Die Leiden des jungen Werther« erschien 1774 und war einer der ersten Bestseller der Literaturgeschichte. Der Briefroman entfachte ein regelrechtes Wertherfieber. Teile der bürgerlichen Jugend begannen Werthertracht (blauer Frack, gelbe Weste, Kniehose aus gelbem Leder und grauer Filzhut) zu tragen. Einige identifizierten sich so sehr mit dem liebeskranken Werther, dass sie sogar sein Ende teilten und sich umbrachten. Noch heute spricht man von einem »Werther-Effekt«, wenn Selbstmorde, über die in den Medien berichtet wird, Nachahmungstaten auslösen.
Doch der Grund für die weltweite Wirkung des Briefromans liegt sicher nicht nur am Suizid des unglücklichen Helden, sondern vielmehr am sprachlichen Geschick des Autors und an der Beschränkung auf die inneren Zustände Werthers, die den Leser von Goethes Text so emotional packen. Diese Energie der Liebe ist es auch, die den 240 Jahre alten Text heute noch so lebendig erscheinen lassen, und die Theaterbühne ist der ideale Ort, um am »himmelhoch jauchzen und zu Tode betrübt sein« der jungen Menschen Lotte, Albert und Werther unmittelbar teilzuhaben.

Von Stefan Schletter

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