Eigentlich war er schon auf dem besten Wege in ein Kloster, aber zölibatär zu leben, das konnte sich Johannes Bahr als 22-Jähriger beim besten Willen nicht vorstellen. So brach er sein Theologiestudium in Wien ab, ging zurück in seine Heimatstadt Graz, studierte kurz Philosophie und Psychologie, um sich dann endlich für die Schauspielerei zu entscheiden. Gelockt hatte ihn das Theater schon lange. Gegen das Verbot seiner sehr frommen und strengen Mutter, die ihn bei Wind und Wetter morgens um 6 Uhr als Ministrant zur Frühmesse schickte, ging Johannes Bahr heimlich zur sozialistischen Jugend, den »Roten Falken«, wo auch Theater gespielt wurde. Später als Novize im Augsburger Dominikanerkloster blickte er aus seinem Fenster direkt auf den Parkplatz des Theaters. Er sah die Schauspieler zu den Proben gehen und erlebte auf der Bühne einen Mann, der ihn bis heute fasziniert, den Pantomimen Marcel Marceau. Der Franzose und Charlie Chaplin sind seine Vorbilder.
40 Jahre steht Johannes Bahr jetzt auf der Bühne, 33 davon in Heilbronn. Derzeit probt er seine letzte Rolle im Festengagement. Mit Ingrid Richter-Wendel als Großmutter an seiner Seite spielt er den Großvater in dem Ensemble-Stück »Das Fest« von Thomas Vinterberg und Mogens Rukov. »Meine Gesundheit war nie die stabilste. Jetzt weist sie mich in die Schranken«, sagt der Schauspieler. Deshalb geht er ab Mai in den (Un)Ruhestand. Im »Fest« geht es um ein dunkles Familiengeheimnis. Auch die Kindheit von Johannes Bahr wurde von einer Geschichte geprägt, die die Familie damals lieber für sich behielt. Seine Mutter stammt aus der Ukraine, die damals zur Sowjetunion gehörte. Während des Zweiten Weltkrieges hat die studierte Germanistin als Übersetzerin für deutsche Sprache gearbeitet und sich in den Feind verliebt, einen österreichischen Soldaten – Johannes‘ Vater. Das war Kollaboration und seine Mutter musste mit ihrem Geliebten nach Graz fliehen, fühlte sich aber dort sehr fremd. »Sie war schwermütig, und ich habe früh angefangen, mich in die Welt der Fantasie und der Bücher zurückzuziehen«, sagt Johannes Bahr. Ein Erbteil seiner Mutter ist das, was man die russische Seele nennt – tiefgründig und äußerst emotional. »Wenn ich auf der Bühne einen Menschen spiele, dem es schlecht geht, kann ich mich so intensiv in die Figur hineinfühlen, dass ich mit ihr weinen muss«, gesteht der Schauspieler. In seiner ersten Rolle als Romeo in Innsbruck habe er so intensiv gelitten, dass besonders die Frauen im Publikum in Tränen aufgelöst waren. »Ich war nie der strahlende Held, sondern habe eher ein Faible für gebrochene Figuren, die allen Grund haben, am Leben zu verzweifeln und trotzdem immer wieder ihr Glück suchen.« So einen Typen zu spielen wie derzeit Mr. Mushnik im Musical »Der kleine Horrorladen« macht ihm großen Spaß. Aber auch skurrile Charaktere liegen ihm – sehr gern erinnert er sich an seine Rollen als »Gespenst von Canterville« und als Kaiser im »Weißen Rößl«, als überbesorgter Königs-Vater in »König Drosselbart« und jetzt als Sandmann in »Peterchens Mondfahrt«.
Seit Bestehen des Theaters am Berliner Platz gehört Johannes Bahr zum Heilbronner Ensemble. Dabei war der Start für ihn nicht leicht. Seine erste Rolle sollte der Mephisto im »Faust« sein. Aber er legte sich ständig mit dem regieführenden Intendanten Klaus Wagner an und wollte alles besser wissen. Irgendwann wurde es dem Intendanten zu bunt und er schickte den jungen Hitzkopf nach Hause. Was für eine Niederlage. Aber Johannes Bahr hat daraus gelernt: »Theater ist Teamarbeit und der Schauspielerberuf verlangt ein Höchstmaß an Disziplin«. Klaus Wagner glaubte trotzdem an ihn und gab ihm viele schöne Chancen. Sein größtes Glück, das er hier gefunden hat, ist jedoch seine Familie. »Eines Tages stand auf dem Bahnhof in Stuttgart ein schönes Mädchen mit Hut und schaute mich freundlich an«, erinnert er sich. Johannes Bahr setzte sich im Zug neben sie und sprach sie an: »Ich glaube, wir müssen uns kennenlernen.« Dieses schöne Mädchen ist heute noch seine Frau, mit der er zwei – inzwischen erwachsene – Kinder hat und auf dem Familienweingut in Eberstadt lebt. »Da fühle ich mich richtig wohl«, erzählt er und freut sich darauf, künftig mehr Zeit für den Garten und seine kleine Schreinerei zu haben. Außerdem hängt Johannes Bahr auch die Schauspielerei nicht ganz an den Nagel. Er synchronisiert Filme und veranstaltet Lesungen – am liebsten mit österreichischer Literatur. Und falls im Theater wieder mal ein Großvater gebraucht wird, sagt er nicht nein.