Gesellschaft im Zerrspiegel

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»Ich bin geflohen aus dem Süden, wo es heiß ist und die Menschen sterben wie die Fliegen, ohne dass sie sich selber umbringen müssten,« sagt Elisio. »Im Süden, da lachen wir über euch, ich verstehe das alles hier nicht« – Elisio und Fadoul heißen die beiden illegal eingewanderten Flüchtlinge, die wie eine Art roter Faden durch eine kalte Großstadt am Meer und durch die 19 Szenen von Dea Lohers Erfolgsstück »Unschuld« ziehen.
Selbst getrieben von Schuldgefühlen – sie waren in einem entscheidenden Moment zu feige und zu selbstsüchtig, um einem anderen Menschen zu helfen – treffen sie auf eine Gesellschaft von Versehrten und Verzweifelten, Kontakt- und Schicksalssuchenden: Da ist die merkwürdige Frau Habersatt, die die Hinterbliebenen von Gewaltopfern aufsucht und sich als die Mutter der Täter ausgibt. Oder die an Diabetes erkrankte Frau Zucker, die einfach mal die Verantwortung für sich ihrer Tochter Rosa und deren Mann Franz übergibt. Franz wiederum hat seine Berufung in einem Bestattungsinstitut gefunden und kümmert sich mehr um die Leichen und die Urnen als um seine eigene Frau. Oder das blinde Mädchen Absolut, das jede Nacht am Hafen für fremde Männer tanzt und ein Buch verloren hat, das »Die Unzuverlässigkeit der Welt« heißt und das einzige ihrer Werke ist, das die frustrierte Philosophin Ella nicht verbrannt hat.
»Alle diese Figuren«, beschreibt Regisseurin Esther Hattenbach, »haben irgendeine körperliche, aber noch mehr eine seelische Deformation. Aber gerade Letztere entsteht dadurch, dass sie den einen Mangel oder das eine Problem in ihrem Leben ins Unermessliche vergrößern und zum Anlass nehmen, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Es ist, als hätten sie ein positives soziales Miteinander verlernt.« Esther Hattenbach, die sich in Heilbronn mit ihren Inszenierungen von »Der Stein«, »Verbrennungen« und »Groß und klein« als Spezialistin für zeitgenössische Dramatik etabliert hat, sieht in Dea Lohers 2003 geschriebenem Schauspiel »ein absolutes Zeitstück«. Durch den neugierigen und befremdeten Blick von Außen, mit dem die beiden Flüchtlinge unsere absurd scheinende Wohlstandsgesellschaft betrachten, wirkt »Unschuld« heute inmitten der Debatten um Einwanderungspolitik und Asylanten tatsächlich aktueller als bei seiner Uraufführung. »Dieser Wechsel der Perspektive, den Dea Loher hier vornimmt, ist einerseits  entlarvend, hat aber auch eine schöne Ironie und eine große Komik«, meint Hattenbach. »Er zeigt unsere Gesellschaft wie in einem Zerrspiegel.«
Auch die Form, die die vielfach für ihr Werk preisgekrönte Autorin gewählt hat, macht »Unschuld« zu etwas Besonderem: Wie in einer raffinierten Partitur gibt es (sprach-)melodische Bögen, Themen und Variationen, Leitmotive, die sich durch die vielen erzählten und gespielten Geschichten ziehen und sie miteinander verknüpfen. Auch das fasziniert Esther Hattenbach: »Dieses Stück ist ungeheuer musikalisch – und ich bin sehr gespannt darauf, wie wir diese Musikalität mit dem Ensemble – denn das ist ein absolutes Ensemblestück – umsetzen werden.«

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