Als vor 70 Jahren, am 15. April 1945, britische Truppen das Konzentrationslager Bergen-Belsen befreiten, war Anne Frank bereits tot. Sie starb nur einige Wochen zuvor, krank und geschwächt von den unvorstellbar menschenverachtenden Zuständen deutscher Konzentrationslager. Anne wurde 15 Jahre alt. Ihr Tagebuch, das sie von ihrem 13. Geburtstag am 12. Juni 1942 bis zu ihrer Deportation im August 1945 führte, ist weltberühmt und ihr Bild ist eine Ikone wider das Vergessen. »O ja, ich will nicht umsonst gelebt haben wie die meisten Menschen. Ich will den Menschen, die um mich herum leben und mich doch nicht kennen, Freude und Nutzen bringen. Ich will fortleben, auch nach meinem Tod« (Tagebucheintrag, 5. April 1944).
In unserer Erinnerung lebt Anne fort, doch in Wirklichkeit wurde ihr eine Jugend, ein ganzes Leben verwehrt – sie wurde getötet von einem System der Unmenschlichkeit, im Land ihrer Geburt.
Kinder als Opfer unmenschlicher Systeme, so könnte man kurz die Idee von Ad de Bonts Stück »Anne und Zef« zusammenfassen. Denn der holländische Autor belässt es nicht dabei, eine Geschichte über Anne Frank zu erzählen, er stellt ihr kurzerhand einen Freund an die Seite. Beide entstammen anderen Zeiten und anderen Kulturen, gemeinsam haben sie nur, dass sie zu Opfern eines unbarmherzigen Systems wurden. Anne und Zef. Doch wer ist dieser Zef Bunga, der die berühmte Anne trifft – irgendwo im Nirgendwo? Warum durfte auch er nicht älter als 15 Jahre werden?
»Der Kanun ist stärker als wir!« sagt Zefs Mutter im Stück. Was ist dieser geheimnisvolle Kanun, der den fünfzehnjährigen Jungen sein Leben kostet? Es handelt sich dabei um ein mündlich überliefertes archaisches Gewohnheitsrecht, das seit Jahrhunderten das Zusammenleben in entlegenen Bergregionen Nordalbaniens regelt. Grundlage fast jeglichen Handelns sind Ehre und Familie. Als Strafe für Ehrverletzung steht häufig der Tod. Auf Schuld folgt Sühne. Kommt es zu einer groben Ehrverletzung oder gar zu einem Mord, muss dieser auch mit Mord vergolten werden. Ein männliches Mitglied der »Täterfamilie« muss sterben. Ist die Tat vollbracht, wird aus Täter Opfer und ein unheilvoller Kreislauf der Gewalt beginnt, bei dem häufig alle männlichen Nachfahren einer Familie getötet werden. So kommt es, dass es bis heute im nordalbanischen Bergland Familien gibt, deren männliche Nachfahren seit Jahren ihr Haus nicht verlassen, um nicht von einer verfeindeten Familie getötet zu werden. Zef hält es in der Enge des Hauses irgendwann nicht mehr aus, er möchte sein Leben leben und sein Glück in der Ferne suchen. Doch er kommt nicht weit. Sein bester Freund aus der Familie der Markajs erschießt ihn. So beginnt Ad de Bonts Stück.
Trotz aller Grausamkeit gelingt dem niederländischen Autoren ein Stück voller Hoffnung und jugendlicher Zuversicht. Er gibt den beiden 15-jährigen eine fiktive Zukunft. Sie lernen sich kennen, sie erzählen sich ihre Geschichten und sie dürfen sich schließlich verlieben. Eine Liebe, jenseits jeder Möglichkeit, eine Liebesgeschichte als Gegenkraft zur Vernichtung. A