»Der Besuch der alten Dame« ab 23. September im Großen Haus
Es ist »eine Geschichte, die sich irgendwo in Mitteleuropa ereignet, geschrieben von einem, der sich von diesen Leuten durchaus nicht distanziert und der sich nicht sicher ist, ob er anders handeln würde.« So beschreibt es Friedrich Dürrenmatt in seinen Anmerkungen zu »Der Besuch der alten Dame«. Das Stück spielt in Güllen, einer Kleinstadt, die sich in einer wirtschaftlichen Krise befindet. Es gibt viele Arbeitslose und die Industrie ist zusammengebrochen. Doch es gibt einen Hoffnungsschimmer: Claire Zachanassian, inzwischen die reichste Frau der Welt, hat ihren Besuch angekündigt, und so hoffen die Bewohner, dass die alte Dame, die selbst aus Güllen stammt, ihnen mit einer großzügigen Geldspende aus der Not helfen wird. Sie ist tatsächlich gekommen, um ihrer Heimatstadt zu helfen, aber sie verlangt im Gegenzug Gerechtigkeit. Claire, die damals noch Klara Wäscher hieß, musste Güllen vor vielen Jahren gedemütigt verlassen, nachdem sie von ihrem früheren Liebhaber Alfred Ill erst geschwängert und dann sitzengelassen wurde. Um der Vaterschaftsklage zu entgehen, hat er im Prozess Zeugen bestochen, die angaben, auch mit Klara geschlafen zu haben. Klara musste dadurch einerseits schmerzhaft erfahren, dass Liebe kein verlässlicher Wert ist und andererseits, dass man alles kaufen kann, Waren wie Menschen. Durch das Gerichtsurteil wurde sie zur Hure, zum Sinnbild der käuflichen Liebe. Und so ist es nicht die Wohltätigkeit, die sie treibt, sondern vielmehr der Wunsch nach Rache. Und sie kann es sich leisten. Denn mittlerweile hat sich das Blatt gewendet. Sie kommt zu Stückbeginn mit ihrem siebten Ehemann und einer Schar merkwürdiger Bediensteter angereist. Nun stellt sie die Bedingungen, denn sie hat die Finanzkraft. Und so verspricht sie eine Milliarde für Güllen – 500 Millionen für die Stadt, 500 Millionen verteilt auf alle Bürger – wenn jemand das Unrecht, das ihr angetan wurde, wiedergutmacht. Eine Milliarde, wenn jemand Alfred Ill tötet. Natürlich lehnt die Bevölkerung das Angebot zunächst aus moralischen Gründen ab. Doch schon bald beginnen die Menschen zu konsumieren, auf Kredit zu kaufen und sich immer mehr in den Maschen der Ökonomie zu verfangen.
Für Regisseurin Uta Koschel steht in diesem Stück jedoch nicht das menschliche Fehlverhalten des Einzelnen im Zentrum. Ihr Interesse gilt vielmehr der Zwangsläufigkeit der Geschichte. Durch das Angebot der alten Dame wird etwas in Gang gesetzt, das nicht mehr aufzuhalten ist. Natürlich will niemand Ill töten. Doch die Verlockungen des Konsums sind in der Not zu groß und so offenbart sich die Leichtfertigkeit, mit der die Menschen auf Kredit kaufen, die Augen vor den Konsequenzen verschließend. In »Der Besuch der alten Dame« bestätigt sich die marxistische Grundaussage, nach der das Sein das Bewusstsein bestimmt. Anders ausgedrückt heißt das, dass die materiellen Lebensumstände das Denken prägen. Dürrenmatt versteht sich nicht als Therapeut, sondern als Diagnostiker und skeptischer Opponent, dessen Literatur das Publikum zu Irritation und kritischer Reflexion bewegen soll. Und in der Tat stellt sich die Frage bei jedem von uns: Was würden wir anstelle der Güllener tun? Ist die Aussicht auf schnellen Reichtum wirklich so einfach zu verwerfen, wie es in moralischem Sinne sein sollte? Lebt uns der Kapitalismus nicht genau das vor? Kapital schafft Macht über all jene, die weniger besitzen. Im privaten wie globalen Kontext. Auf politischer Ebene wird unsere Finanzkraft genutzt, um anderen Staaten zu helfen, ihnen gleichzeitig aber auch die Bedingungen für diese Hilfe vorzuschreiben. Und »sie sind gezwungen unsere Auflagen zu erfüllen, denn ohne uns werden sie da nicht mehr herauskommen« (IWF-Chefin Christine Lagarde).
Was wir brauchen, ist ein gesellschaftliches Gewissen. Der kategorische Imperativ, den Kant 1785 entwickelte, muss zu einer gesellschaftlichen, allgemeinen Aufgabe werden. »Doch unser heutiges Gewissen ist pervertiert. Es lautet nicht: Ich bin gut. Es lautet: Die anderen sind ja auch schlecht.« Das stellte Dürrenmatt schon 1961 fest. Und bis heute hat sich daran nichts verändert. Wir ziehen uns mit dieser Ansicht schlichtweg aus der Verantwortung. Der mit dem Besuch der alten Dame rapide einsetzende Verfall der, von den Güllenern zu Beginn des Stücks noch hoch gepriesenen, »christlich-humanistischen Werte« zeigt in erschütternder Weise, dass solche Traditionen einer zunehmenden Ökonomisierung aller Lebensumstände kaum etwas entgegenzusetzen haben.
Doch was können wir tun? Protestieren. Vielleicht. Besser wäre es aber unsere Haltungen und Handlungen zu reflektieren. Denn unsere Entscheidungen haben Einfluss auf eine Zukunft, die noch gestaltet werden kann. Dürrenmatt kommt 1969 in seinem »Monstervertrag über Gerechtigkeit und Recht« zu dem Ergebnis: »Nicht der Einzelne verändert die Wirklichkeit, die Wirklichkeit wird von allen verändert. Die Wirklichkeit sind wir alle, und wir sind immer nur Einzelne.«