»GEGEN DEN FORTSCHRITT« in den Kammerspielen
Jedoch der schrecklichste der Schrecken / Das ist der Mensch in seinem Wahn. Das pessimistische Menschenbild, das Friedrich Schiller in seinem »Lied von der Glocke« 1799 bezogen auf die unmenschlichen jakobinischen Exzesse während der französischen Revolution 1789 zeichnet, hat überlebt, ist zu einem unsichtbaren Mitbürger der modernen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts geworden. Der Katalane Esteve Soler (* 1976) beschreibt diesen Zustand überspitzt und tragikomisch in seinem 2008 geschriebenen Stück »Gegen den Fortschritt« so genau, dass es jeden Leser und Zuschauer trifft – mitten ins Herz, mitten dort hinein, wo Empathie und Hybris sitzen.
Mann und Frau haben es sich auf dem Sofa bequem gemacht. Ähnlich wie der geneigte Leser am Abend vor dem Fernseher sitzt und sich ärgert, weil nichts »Anständiges« kommt, zappt Mann hin und her und bleibt wortwörtlich an einem Kind hängen, das plötzlich aus dem Fernseher gekrochen kommt. Doch wie lässt sich das »Ärgernis« abschalten? Ob der Techniker helfen kann? Und wer hat Schuld?
Das Fremde und der Tod sind Themen, um die es sich in den einzelnen Szenen immer wieder dreht. Etwa, wenn ein Mann schwerverletzt am Boden liegt und zwei Passanten nichts besseres zu tun haben, als über weltpolitische Ansichten und persönliche Vorhersehung zu sprechen. Die Frage nach der Macht jedes Einzelnen und deren (Aus-)Nutzen, wenn es darum geht, Entscheidungen über Schicksal, über Leben und Tod zu treffen, stellt die Figuren immer wieder vor die Frage: Wer möchte ich sein? Vielleicht jemand, der eine neue Religion begründet? Oder doch derjenige, der nicht am Bahnhof steht und weint, weil der alte Ehevertrag jeden Moment ausläuft, sondern sich freut, dass jetzt ein Vertrag mit Kind samt 33-jähriger Laufzeit beginnt? Was passiert, wenn Erwachsene ihre Aufsichtspflicht nicht ernst genug nehmen, zeigt eine andere Szene: die Kinder werden vom bösen Wolf gefressen. Aber der Population der Menschheit muss ohnehin Einhalt geboten werden. Deshalb schlagen die Robben im wahrsten Sinne des Wortes zurück. Oder schafft die Menschheit sich doch selbst ab? Also zurück zu den Wurzeln! Vater und Mutter sehen sich in ihrem Esszimmer mit einem Riesenapfel konfrontiert. Wie er da hin kam ist ein Rätsel, doch wofür er steht, ist mehr als deutlich. Für die Söhne Kain und Abel stellt er ein gutes Abendessen dar. Aufgeklärt-boshaft beschreibt Esteve Soler in seinem Stück die Gegenwart. Dabei ironisiert er auf subtile Art und Weise den Begriff »Fortschritt«, fragt nach Ziel und Auswüchsen, nach Sinn und Unsinn, nach Gewinnern und Verlierern und der Verantwortung jedes Einzelnen für den Fortbestand der Gesellschaft und des zivilisierten Umgangs miteinander.
»Sieben burleske Szenen« kündigt der Untertitel des Stückes an. Also weinen oder lachen? Regisseurin Uta Koschel (»Bezahlt wird nicht«, »Aladin und die Wunderlampe«), die sich in vielen Szenen an Loriot erinnert fühlt, sagt: »Beides!«
Stefanie Symmank, Dramaturgin