Spektakuläre Szenen mit einfachen Mitteln: Das Diorama

In »Der Fall der Götter« war das Team sehr einfallsreich, um Massenszenen in Zeiten des Abstandsgebots zu inszenieren

Hier wieder mal ein Beitrag in unserer Rubrik: Wie machen die das? Mit einem Blick hinter die Kulissen, der zeigt, wie das Universum Theater entsteht und wie viel Arbeit hinter manchen, scheinbar kleinen Details steckt.

Für Staunen und Begeisterung beim Publikum sorgen einige spektakuläre Szenen in der Inszenierung »Der Fall der Götter«, die Regisseur Marc von Henning nach Luchino Viscontis meisterhaftem Film »Die Verdammten« auf die Bühne des Großen Hauses gebracht hat. Nicht nur die Geschichte um Aufstieg und Fall der Stahldynastie von Essenbeck, die sich mit den Nationalsozialisten eingelassen hat, begeistert, sondern auch die Komposition aus Schauspiel und Leinwandszenen, mit der sie auf der Bühne erzählt wird. Der Einsatz einer Livekamera und vorproduzierter Szenen gehörte schon von vornherein zum Inszenierungskonzept und wurde nicht erst durch die Corona-bedingt strikten Abstandsgebote für die Darsteller zum ästhetischen Prinzip des Abends. Im Nachhinein erwies sich das aber als genialer Schachzug, denn so können Berührungen (ob nun liebevolle oder gewalttätige) auch da verdeutlicht werden, wo sie körperlich derzeit nicht stattfinden dürfen. Außerdem kann man durch die überlebensgroße Projektion den Schauspielern als Zuschauer so nahe kommen, dass man jede noch so kleine Regung in der Mimik verfolgen kann.

»Der Fall der Götter«, Foto: Jochen Quast

Ein Höhepunkt der Inszenierung ist die Darstellung der Ermordung des SA-Manns Konstatin von Essenbeck (gespielt von Hannes Rittig), des stellvertretenden Generaldirektors der Essenbecker Stahlwerke, während eines wilden Saufgelages in einem Bayerischen Idyll am See – eine Anspielung auf die Verhaftung und spätere Erschießung Ernst Röhms und seiner SA-Führer in der Pension Hanselbauer in Bad Wiessee am Tegernsee 1934. Es ist eine orgiastische Massenszene, in der getanzt, gegrölt, getorkelt und es bunt miteinander getrieben wird. Auf dem Höhepunkt des Ganzen fällt ein Schuss …
Wie soll man das darstellen, wenn Massen nicht auf der Bühne stehen und die Schauspieler anderthalb Meter Abstand voneinander halten müssen? Regisseur Marc von Henning und Carmen Riehl, die Chefin der Abteilung Requisite, besannen sich auf eine alte Kunstform – das Diorama. Im 19. Jahrhundert wurden Dioramen von dem französischen Maler und Wegbereiter der Fotografie, Louis Daguerre, als eine kleine Schaubühne konzipiert, die Szenen mit plastischen Modellfiguren und halbkreisförmig dahinter angeordneter gemalter Landschaft nachstellt. Dioramen können ganze Geschichten erzählen und beeindrucken durch ihren überwältigenden Detailreichtum.

Carmen Riehl, Foto: privat

Carmen Riehl hatte ihre beruflichen Anfänge am Theater als Modellbauerin von Bühnenbildmodellen. Diese dienen noch heute dem ersten Durchspielen einer Inszenierung mit allen Details im Miniformat, bevor die Kulissen und Möbel für die Bühne in Originalgröße angefertigt werden. Carmen Riehl hatte also Erfahrung im Bauen von detailverliebten, maßstabsgerechten Miniaturszenarien. Diese Kenntnisse waren nun in erweitertem Maße gefragt, um einen Schaukasten im Maßstab 1:20 zu bauen, der im Kleinen die ganze Geschichte der Ermordung Konstantin von Essenbecks darstellt. Schauplatz ist ein idyllisches Hotel an einem bayerischen See, im Hintergrund sieht man die Alpen, Wälder und den Marktplatz eines bezaubernden Dorfes am Seeufer. Das wichtigste aber war die detailgetreue Darstellung der Figuren, die dieses Szenarium bevölkern: Konstantin von Essenbeck selbst und seine SA-Männer, die sich in wilden Spielen mit Prostituierten vergnügen, saufen und auf den Tischen tanzen – bis am Ende der Mörder auftaucht.
Um die menschlichen Miniaturen originalgetreu und lebensecht in das Diorama einzubauen, hat Carmen Riehl drei Schauspieler und Schauspielerinnen gemeinsam mit Kostümbildnerin Gunna Meyer in unterschiedliche Originalkostüme gesteckt, sie verschiedene Situationen der Szene spielen lassen und sie dabei fotografiert: tanzend, grölend, torkelnd, schlafend, beim Sex oder beim Sterben. Im Anschluss hat sie Kollegen aus anderen Theater-Abteilungen gefragt, ob sie bereit wären, ihr Gesicht für eine der Figuren herzugeben. Diese hat sie dann über ein hochwertiges Bildbearbeitungsprogramm an die Stelle der Schauspielerköpfe gesetzt, und so entstand ein bunt gemischtes Figurenensemble. Auch der Regisseur selbst ist unter den Akteuren bei diesem Gelage. Dann wurden die Figuren im Bildbearbeitungsprogramm gedoppelt, gespiegelt, in den Maßstab 1:20 verkleinert und  ausgedruckt. Das Requisiteurinnen-Team klebte die Ausdrucke anschließend auf eine weiche Modellpappe und befestigte sie nach dem Ausschneiden an ihrem Platz im Diorama.

Die prächtige Landschaft im Hintergrund und das Hotel ist eine Montage. Um das farbenreiche Panorama auszudrucken, kann das Theater auf einen Plotter zurückgreifen, der Dateien bis zu einer Länge von 3,5 Metern bewältigt. »Den Ort, wie wir ihn auf der Bühne zeigen, gibt es so nicht«, sagt Carmen Riehl.

»Der Fall der Götter«, Foto: Jochen Quast

Richtig lebendig werden die Szenen des Dioramas während der Vorstellung über den Einsatz der Steadicam, die während der Inszenierung von Gabriel Kemmether bedient wird. Zentimeter für Zentimeter fährt er die Szenerie ab, die Bilder werden auf die riesige Leinwand im Bühnenhintergrund übertragen. Gleichzeitig beschreiben seine Kolleginnen Winnie Ricarda Bistram, Romy Klötzel und Judith Lilly Raab als Erzählerinnen die Ereignisse und die Protagonisten Hannes Rittig und Nils Brück spielen ihren jeweiligen Part auf der Bühne. So sieht man Konstantin von Essenbeck im Bild und zeitgleich auf der Bühne »sterben«.

Wenn der Moment nicht so dramatisch wäre, hätte man an der Stelle Lust zu klatschen – einfach weil es so gut gemacht ist, sagte ein Zuschauer nach der Premiere. Aber die Begeisterung kann man sich ja für den Schlussapplaus aufheben.

Hier findet ihr alle Spieltermine von »Der Fall der Götter«.

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