Ein Gespräch zwischen Christian Marten-Molnár und Ian Wilson, Regisseur und Komponist von „Minsk“
Es ist ein trüber Dezembermittag mit Schneeregen, einer der Tage, an denen die nasse Kälte unter die Mäntel der Fußgänger kriecht und sich die meisten Menschen lieber in gut geheizte Innenräume zurückziehen. Das Theater Heilbronn betritt heute ein Gast, der einen weiten Weg hinter sich hat. Ian Wilson, Komponist der Oper „Minsk“, die am 3. März im großen Haus uraufgeführt werden wird. Nur für einen Tag kommt der Komponist aus dem irischen Cork nach Deutschland. Heilbronn ist eine seiner Stationen in einer Reihe von Arbeitsgesprächen. Christian Marten-Molnár, Regisseur von Minsk, und Wilson wollen die Gelegenheit nutzen, um über das Werk und die Produktion zu sprechen. Die beiden sitzen an einem der dunklen Holztische der Theaterkantine. Das Gespräch meandert erst einmal um „Minsk“ herum. Organisatorische Fragen – Proben der Sänger und des Orchesters – Fragen zur Fassung, die Wilson für Heilbronn geschrieben hat, wechseln ab mit Erinnerungen an Arbeiten anderer Komponisten und Regisseure, die die beiden kennen. Und mehrmals kommt das Gespräch auf „Hamelin“, Wilsons erste Oper. Marten-Molnár war der Regisseur der deutschsprachigen Erstauffürung von „Hamelin“. Der Humor der Inszenierung ist Wilson noch gut in Erinnerung. Normalerweise kommunizieren die beiden über Emails, tauschen Informationen aus. Sie kennen und schätzen einander, doch im Raum der Kantine schwebt heute auch etwas vom Abtasten des Gegenübers. Wilson hat einen Vorteil auf seiner Seite, das Gespräch läuft auf Englisch – seine Muttersprache. Von ihm geht etwas Unterstützendes, Ermutigendes aus. Unaufgeregt, ganz bei der Sache wirkt Wilson, dabei freundlich und zugewandt. In Wilsons Oper „Minsk“, zu der die englische Lyrikerin Lavinia Greenlaw das Libretto dichtete, sehen wir Anna, eine Frau um die Vierzig, die in London lebt. Als junge Frau verließ Anna ihre Heimatstadt Minsk. Im Traum begegnet die Vierzigjährige Anna der jungen Anna (Anoushka), die kurz davor steht, Minsk zu verlassen, und Fyodor, Anoushkas Freund, der in Minsk zurückbleiben wird. Librettistin Lavinia Greenlaw beschreibt, was es mit den Begegnungen im Traum auf sich hat: „Wir werden von Orten verfolgt, die wir in dem Glauben verlassen haben, ein Stück von uns selbst dort verabschiedet zu haben. Wir können zu diesen Orten nicht zurückkehren, denn auch wenn sie noch existieren, so liegt unser Bild von ihnen doch in der Vergangenheit. Wenn wir auf der Suche nach uns selbst sind, machen wir uns auf den Weg dahin. […]“ Kraftvolle Bilder und sprachliche Spiele setzt Greenlaw in ihrem Libretto ein, das eine menschliche Grunderfahrung beschreibt: Ein Stoff für die große Bühne, da sind sich Wilson und Marten-Molnár einig. „Warum ist Fyodor ein Countertenor“, will Marten-Molnár von dem Komponisten wissen. „Was bedeutet das für dich?“ Wilson sucht zuerst nach der Erklärung. Ihm sei es darum gegangen, die Figur zu charakterisieren und letzten Endes um eine Differenz, um die Fremdheit, die dieses Stimmregister auch immer habe. Fyodor sei nicht erwachsen geworden, nicht gereift. Dann geht es um die Fassung der Partitur. Voraussetzung für die Uraufführung von „Minsk“ mit dem Württembergischen Kammerorchester war eine Fassung für Streichorchester und Schlagzeug. Die ursprüngliche Partitur war für eine andere Besetzung gedacht. Jedes Instrument hat unterschiedliche akustische Eigenschaften. Klänge sind plastische, dreidimensionale Gebilde. Eine andere Besetzung bedeutet, dass sich das gesamte Klangebilde verschiebt. Wilson und Marten-Molnár kommen auf die Partitur zu sprechen und sind sich einig, dass eine Bearbeitung vorliegt, mit der man „happy“ sein kann. Es geht auf 14.30 Uhr zu. Der nächste Termin rückt näher. Ruben Gazarian, Chefdirigent des Württembergischen Kammerorchesters erwartet Wilson und Marten-Molnár. Danach geht es für Wilson weiter nach Karlsruhe, wo er eine Freundin trifft, die er seit fünf Jahren nicht gesehen hat, und von dort zum Flughafen. Es ist ein Dienstag. Kein Zufall, dass Wilson heute nach Heilbronn kam. Dienstags gibt es einen Flug, mit dem er noch spät abends nach Cork zurückkommt. In weniger als sieben Stunden wird Wilson wieder zu Hause bei seiner Familie sein.
(Johannes Frohnsdorf, Dramaturg)