»Galilei ist einfach kein Taktiker«

Flammarion

»Ich habe meinen Beruf verraten«, bekennt Galileo Galilei. »Ein Mensch, der das tut, was ich getan habe, kann in den Reihen der Wissenschaft nicht geduldet werden.« Die bittere Selbstanklage, mit der Bertolt Brecht sein »Leben des Galilei« (fast) enden lässt, steht in schroffem Kontrast zum leidenschaftlichen Glauben an Vernunft und Wahrheit, mit dem er das Stück beginnt. Seit den frühen 1930er Jahren hatte er sich mit der Figur des 1564 in Pisa geborenen Wissenschaftlers auseinander gesetzt, der seine bahnbrechenden Erkenntnisse auf Druck der Inquisition 1633 widerrief. Das »Leben des Galilei« wurde für Brecht zu einer Art Lebensprojekt: Bis zu seinem Tod im Jahr 1956 überarbeitete und veränderte er den Text – und die Konzeption der Titelfigur. Die gesellschaftlich-politischen Brüche und Verwerfungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wirkten ebenso auf seine Arbeit ein wie die damals aktuellen Entwicklungen in Forschung und Wissenschaft, von der Spaltung des Atoms durch deutsche Physiker bis zu den amerikanischen Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki. Kein Wunder, dass »sein« Galilei, der den historischen Galilei in der öffentlichen Wahrnehmung längst verdrängt hat, sich durch die drei überlieferten Fassungen Brechts vom klugen, widerständigen Aufklärer zur zwiespältigen und durchaus schuldbehafteten Figur wandelt.

Das Verhältnis von Wissenschaft und gesellschaftlicher Verantwortung, zwischen Wissenschaftler und Obrigkeit ist der komplexe Kern dieses »Meisterstückes«. »Wie weit dürfen Wissenschaft und Forschung gehen? Muss/Kann Wissenschaft der Politik – oder der Gesellschaft – dienen? Das sind wichtige und moderne Fragestellungen auch für unsere Gesellschaft«, bestätigt die Regisseurin Esther Hattenbach, die nach zeitgenössischen Stücken wie »Unschuld«, »Der Stein« oder »Verbrennungen« nun einen großen Klassiker auf die Bühne des Großen Hauses bringt. Wie ist ihr Zugriff auf die Titelfigur? »Galilei ist ein Wissenschaftler, der getrieben ist von seiner Neugier und der Leidenschaft nach Aneignung der Welt. Wissenschaft ist für ihn die Auseinandersetzung mit der ganzen Welt. Galilei ist einfach kein Taktiker.  Politische Dimensionen verkennend, verstrickt er sich im Ränkespiel mit der Obrigkeit, in diesem Fall die katholische Kirche und der Adel.« Die Berliner Regisseurin stellt das Diskursive des Stückes in den Mittelpunkt ihrer Inszenierung: »Es wäre zu einfach, Gut und Böse zu verteilen. Alle Figuren haben aus ihrer Sicht heraus Recht. Aber sie scheitern darin, einen gemeinsamen Standpunkt auszuhandeln. Am Ende stehen nicht neu verhandelte Demokratie, sondern Konflikt und Spaltung. Eine Situation, wie wir sie ja auch gerade in Europa erleben.«

Für ihr Konzept haben Hattenbach und ihre Bühnenbildnerin Ulrike Melnik einen »Diskurs-Raum« entwickelt, auf dessen »Teppich der Macht« und zwischen allen Stühlen Galilei, seine Schüler und Unterstützer und seine Kontrahenten aufeinander treffen. Der Heidelberger Komponist und Musiker Johannes Bartmes wird dazu Hanns Eislers Lieder zu »Leben des Galilei« für eine live auf der Bühne spielende, dreiköpfige Combo (inklusive einer »Human Beatbox«) arrangieren.

Von Andreas Frane

Axel Vornam inszeniert Philipp Löhles brandaktuelle Gesellschaftssatire im Großen Haus

fotolia»Löhles Kommentar zur Wirklichkeit«: Das war der Titel der Veranstaltungsreihe, die der Dramatiker Philipp Löhle am Berliner Maxim Gorki Theater entwickelt hatte. Und das könnte auch als Motto über seinen Stücken stehen, die sich kritisch, zuspitzend, provozierend und oft mit beißendem Witz mit den aktuellen gesellschaftlichen und politischen Themen und Fragestellungen auseinander setzen. Löhles rasante »Globalisierungsfarce« »Das Ding« hatte das Theater Heilbronn bereits in der Spielzeit 2013/14 auf die Bühne der damaligen Kammerspiele gebracht. Jetzt zeigen wir auf der großen Bühne »Wir sind keine Barbaren!«.

Ganz und gar nicht als Barbaren, nein, als Gutmenschen empfinden sich die beiden jungen, offensichtlich wohlsituierten Pärchen Barbara und Mario und ihre Nachbarn Linda und Paul. Wobei ihnen das Etikett »Gutmenschen« sicher zu spießig wäre, immerhin sind sie als neuerdings vegane Köchin, mobile Fitnesstrainerin – Zumba! Bokwa! Crossfit! – oder als Sound-Entwickler für Elektroautos – wegen der Blinden! – ganz auf der Höhe der Zeit. Und alle Fragen und Entscheidungen des Wohlstands-Lebens könnten sich behaglich auf Prosecco oder Rosé, Klapp-räder oder Flachbildfernseher – mit Ultra HD! – beschränken, würde Barbara nicht ausgerechnet an ihrem Geburtstag einem Flüchtling Tür und Heim öffnen. Bobo – oder heißt er doch Klint? – bringt allein durch seine Anwesenheit den Hausfrieden in Schieflage, Ängste und Vorurteile, Aggression und verdrängtes Begehren brechen unter der Oberfläche scheinbarer Toleranz und Hilfsbereitschaft hervor. Und dann ist plötzlich der Flachbildfernseher zerstört. Und Barbara verschwunden.

Der 37jährige Ravensburger Philipp Löhle schrieb »Wir sind keine Barbaren!« 2014 für das Stadttheater Bern, mitten in einer öffentlichen Debatte um Zuwanderung und »Überfremdung« in der Schweiz. Zwei Tage nach der Uraufführung am 8. Februar wurde in der Eidgenossenschaft über die rechte Volksinitiative »Gegen Masseneinwanderung« abgestimmt. In Anbetracht der Flüchtlingssituation, der PEGIDA-Bewegung und der zunehmend schärfer geführten Diskussionen um Aufnahmequoten, Asylrecht und Fremdenfeindlichkeit erweist sich »Wir sind keine Barbaren!« als brandaktuelles Zeitstück, das mit seinem spitzen Humor den wohl zur Zeit wundesten Punkt der westlichen Demokratie trifft.

Löhles Theatertext setzt dabei zwei besondere dramaturgische Kniffe ein: Der »schwarze« Flüchtling tritt nie auf der Bühne in Erscheinung, wir bekommen ihn nur gefiltert durch die Meinungen der anderen Figuren vermittelt. Und es gibt – neben Barbaras Schwester Anna – noch eine weitere Hauptfigur im Stück: den »Heimatchor«, der immer wieder mit einem kräftig artikulierten WIR-Gefühl die Handlung unterbricht und kommentiert (»Hier sind WIR / WIR sind viele / Kein Platz mehr sonst«). In seinen Texten artikuliert sich eine Mischung aus nachvollziehbaren Ängsten und erschreckender Stammtischrhetorik, die die Abgründe hinter der Fassade so manches wohlsituierten Bürgers aufzeigt. Für diesen Chor, der einmal auch leibhaftig ins Singen kommt, hat sich Regisseur Axel Vornam eine spannende Lösung ausgedacht: Ein gutes Drittel besteht aus Schauspielern des Ensembles und Gästen, die Mehrheit aus Bürgerinnen und Bürgern der Stadt und Region Heilbronn. Passend am 3. Oktober – und als Abschluss der Themenwoche »Krieg« – bringen wir »Wir sind keine Barbaren!« im Großen Haus des Theaters Heilbronn zur Premiere.

Von Andreas Frane

Wo Männer noch Männer sind …

maennerhort»Shoppingscheiße«, stoßseufzt Eroll (gesprochen: Ehroll, gespielt von Gabriel Kemmether), Programmierer bei der HUK-Coburg und Ehemann von Connie. Wie jeden Samstag hat er den Einkaufs-Parcours im Happy Center nur mit Mühe überstanden. Und wie jeden Samstag ist ihm nach fünf Stunden die Flucht gelungen – in den »Männerhort« im Heizungskeller, den der ebenso shopping-gestresste Pilot Helmut (gespielt von Raik Singer), Ehemann von Alexis, als Fluchtpunkt, Insel und Oase eingerichtet hat. Als Ort, wo Männer das tun können / dürfen, was Männer so tun, wenn sie sich unbeobachtet fühlen: Fußball gucken, Bier trinken, über Frauen lästern. Dritter im Bunde ist die »Führungskraft« Lars (gespielt von Nils Brück), Ehemann von Anne, der einen penetranten Hang zum Besser-Schneller-Höher hat. Alles könnte so schön sein, wenn, ja wenn nicht eines Samstags der Brandschutzbeauftragte Mario Breger (gespielt von Tobias D. Weber) das Geheimversteck entdeckt hätte. Nicht nur, dass er die anderen drei Herren damit in der Hand hat und jederzeit aufliegen lassen kann, nein, er muss auch das prekäre Einkaufs-Freizeit-Verhältnis und die Männerfreundschaft des Trios ins Kippen bringen …

Als der ausgebildete Kirchenmusiker und inzwischen für seinen Roman »Das war ich nicht« mehrfach preisgekrönte Kristof Magnusson 2003 sein Stück »Männerhort« schrieb, konnte er nicht ahnen, dass er (nicht nur) dem uraufführenden Schauspiel Bonn einen Kulthit bescheren würde. Selbst gestrenge Kritiker von großen deutschen Tageszeitungen bejubelten die Komödie gleich als »ein Geschenk des Himmels – auch für Schauspieler«, der Erfolg hat nun schon mehr als zehn Jahre gehalten und im letzten Jahr sogar zu einer starbesetzten Kinoversion geführt. Das Männerbild, das »Männerhort« dabei genüsslich ausbreitet und geradezu verständnisvoll demontiert, ist offensichtlich dasselbe geblieben: Hinter den vermeintlichen Machos verbergen sich meist Memmen, das männliche Revier will markiert sein, das Kind im Manne schlägt gerne durch und zu, und selbstverständlich will kein Mann der Loser sein. Sowohl die Typen als auch der Humor des Stückes scheinen auch noch international zu sein. Erfolgreiche fremdsprachige Übersetzungen ins Englische und Französische, ins Polnische, Bulgarische und Türkische, in Marathi und sogar in Platt belegen, dass männliches Verhalten und männliche Befindlichkeiten überall gleich sind. Ein erschreckender Gedanke?

Keine Sorge: Die vier Herren in Lothar Maningers Inszenierung, die den Premierenreigen im Komödienhaus eröffnet, sind – trotz ihrer ganzen Fehler und Schwächen – eigentlich ganz sympathische Kerle und im Grunde alle arme Würstchen. Und vielleicht werden sie am Ende ja ziemlich beste Freunde.

Von Andreas Frane

Wie ein Spielplan entsteht …

v.l. Alejandro Quintana, Andreas Frane, Axel Vornam, Stefanie Symmank, Stefan Schletter

»Nach dem Spielplan ist vor dem Spielplan«: Wenn Mitte April auf der alljährlichen Pressekonferenz Intendant Axel Vornam, Hausregisseur Alejandro Quintana und die Dramaturgen die 25 Premieren der kommenden Spielzeit der Öffentlichkeit vorstellen, dann haben die Vorüberlegungen für die übernächste Saison bereits begonnen. Schon sind Kontakte zu anderen Theatern geknüpft, um Musiktheater- und Tanzgastspiele für die Zukunft anzudenken. Und das permanente Lesen aktueller Stücke, über die die Theaterverlage in regelmäßigen Abständen per E-Mail oder über ihre Broschüren informieren, hört sowieso nie auf.
Das Spielplan-Machen ist ein ständiger, durchaus langwieriger Prozess, für die Dramaturginnen und Dramaturgen der deutschen Theaterlandschaft ist es die Kür zur Pflicht des Tagesgeschäfts. Denn das ist ihr großes Spielfeld: Das Lesen und Auswählen, das Suchen und Finden, das Diskutieren und Abwägen. Andreas Frane und Stefanie Symmank schlagen die Stücke für Großes Haus und Komödienhaus, Stefan Schletter für die BOXX vor, die Entscheidungshoheit hat dabei Intendant Axel Vornam, der die thematische Diskussion anstößt und sich mit eigenen Vorschlägen, manchmal durchaus streitbar, in die Stück- und Stoffsuche einbringt.
Wie zu jedem Spiel, gehören allerdings auch zu diesem Regeln: Die Anzahl und Verteilung der Stücke auf die Spielstätten ist gesetzt, dazu kommen Gastspiele aus Oper, Operette, Ballett, Tanztheater und Boulevard, gerne auch mal auf Schwäbisch. Und dabei macht’s die intelligente Balance: Ein gutes Verhältnis aus Klassischem und Neuem, Unterhaltung und Anspruch, für alle Altersgruppen. Sternchenthemen und Schullektüren wollen dabei ebenso beachtet sein wie entscheidende Fragen wie »Was wird dieses Jahr das Weihnachtsmärchen?« oder »Was spielen wir an den Feiertagen und an Silvester?«. Dazu kommt noch: »Haben bzw. finden wir dafür die richtigen Regisseure?« und »Können wir alles mit unserem Ensemble besetzen?« Und natürlich sollten die Stücke möglichst in den letzten zehn Jahren nicht bereits gelaufen sein, denn nicht nur wir, sondern auch unsere Abonnenten lieben die Abwechslung.
Das klingt kompliziert, fast unlösbar und irgendwie »strategisch«? Keine Sorge, das sind nur die Rahmenbedingungen, denn innerhalb dieses Rahmens wird es spannend: Auf den sogenannten Spielplankonferenzen, zu denen sich Dramaturgie und Intendant im stillen Kämmerlein regelmäßig treffen, sind der Fantasie, dem Findungsreichtum und der Diskussionslust erst einmal keine Grenzen gesetzt. Welches Profil wollen wir dem Haus und den einzelnen Spielstätten geben? Welche Themen bewegen uns und unser Publikum gerade? Wie positioniert sich das Theater zu den gesellschaftspolitischen Fragen und Problemen unserer Zeit? Manchmal gerinnt aus diesen Diskussionen in Verbindung mit Stoffen und Texten bereits ein übergreifendes Thema, manchmal verständigt man sich erst über ein mögliches »Motto« der Spielzeit und macht sich dann auf die Suche nach Stücken dazu.
Doch wie hält sich die Aktualität und Relevanz eines Spielplans? Theater ist im Vergleich zu den modernen Massenmedien ein eher langsames Medium, das heißt, der Weg von der Spielplanplanung bis zur Premiere dauert mindestens ein halbes Jahr. Und was beim Planen auf den Nägeln brennt, könnte sich später als Strohfeuer erwiesen haben. Unsere Stärke allerdings liegt in der Kontinuität, der Vertiefung, der Zuspitzung und der »Nachhaltigkeit«, mit der wir uns mit Fragen und Themen beschäftigen. Und in der Konzentration, die das dem Publikum abverlangt. Wo sonst kommen noch so viele Menschen an einem Ort zusammen, um sich für zwei Stunden oder länger mit einer Inszenierung auseinander zu setzen? Ist der Spielplan komplett, wird es für uns ernst: Werden wir mit unseren Themen, Titeln und Inszenierungen das Publikum treffen – ins Hirn, ins Herz, manchmal auch ins Zwerchfell? Das entscheiden am Ende Sie!

Gesellschaft im Zerrspiegel

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»Ich bin geflohen aus dem Süden, wo es heiß ist und die Menschen sterben wie die Fliegen, ohne dass sie sich selber umbringen müssten,« sagt Elisio. »Im Süden, da lachen wir über euch, ich verstehe das alles hier nicht« – Elisio und Fadoul heißen die beiden illegal eingewanderten Flüchtlinge, die wie eine Art roter Faden durch eine kalte Großstadt am Meer und durch die 19 Szenen von Dea Lohers Erfolgsstück »Unschuld« ziehen.
Selbst getrieben von Schuldgefühlen – sie waren in einem entscheidenden Moment zu feige und zu selbstsüchtig, um einem anderen Menschen zu helfen – treffen sie auf eine Gesellschaft von Versehrten und Verzweifelten, Kontakt- und Schicksalssuchenden: Da ist die merkwürdige Frau Habersatt, die die Hinterbliebenen von Gewaltopfern aufsucht und sich als die Mutter der Täter ausgibt. Oder die an Diabetes erkrankte Frau Zucker, die einfach mal die Verantwortung für sich ihrer Tochter Rosa und deren Mann Franz übergibt. Franz wiederum hat seine Berufung in einem Bestattungsinstitut gefunden und kümmert sich mehr um die Leichen und die Urnen als um seine eigene Frau. Oder das blinde Mädchen Absolut, das jede Nacht am Hafen für fremde Männer tanzt und ein Buch verloren hat, das »Die Unzuverlässigkeit der Welt« heißt und das einzige ihrer Werke ist, das die frustrierte Philosophin Ella nicht verbrannt hat.
»Alle diese Figuren«, beschreibt Regisseurin Esther Hattenbach, »haben irgendeine körperliche, aber noch mehr eine seelische Deformation. Aber gerade Letztere entsteht dadurch, dass sie den einen Mangel oder das eine Problem in ihrem Leben ins Unermessliche vergrößern und zum Anlass nehmen, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Es ist, als hätten sie ein positives soziales Miteinander verlernt.« Esther Hattenbach, die sich in Heilbronn mit ihren Inszenierungen von »Der Stein«, »Verbrennungen« und »Groß und klein« als Spezialistin für zeitgenössische Dramatik etabliert hat, sieht in Dea Lohers 2003 geschriebenem Schauspiel »ein absolutes Zeitstück«. Durch den neugierigen und befremdeten Blick von Außen, mit dem die beiden Flüchtlinge unsere absurd scheinende Wohlstandsgesellschaft betrachten, wirkt »Unschuld« heute inmitten der Debatten um Einwanderungspolitik und Asylanten tatsächlich aktueller als bei seiner Uraufführung. »Dieser Wechsel der Perspektive, den Dea Loher hier vornimmt, ist einerseits  entlarvend, hat aber auch eine schöne Ironie und eine große Komik«, meint Hattenbach. »Er zeigt unsere Gesellschaft wie in einem Zerrspiegel.«
Auch die Form, die die vielfach für ihr Werk preisgekrönte Autorin gewählt hat, macht »Unschuld« zu etwas Besonderem: Wie in einer raffinierten Partitur gibt es (sprach-)melodische Bögen, Themen und Variationen, Leitmotive, die sich durch die vielen erzählten und gespielten Geschichten ziehen und sie miteinander verknüpfen. Auch das fasziniert Esther Hattenbach: »Dieses Stück ist ungeheuer musikalisch – und ich bin sehr gespannt darauf, wie wir diese Musikalität mit dem Ensemble – denn das ist ein absolutes Ensemblestück – umsetzen werden.«

Junge Sänger für junge Liebende

Figurinen: Tom Musch
Figurinen: Tom Musch

40 junge Sängerinnen und Sänger singen hintereinander insgesamt 41 Arien auf der Bühne des Großen Hauses. Sie kommen aus aller Frauen und Herren Länder, von Norwegen bis Südafrika, von Brasilien bis Südkorea, von Pforzheim bis Schwäbisch Hall. Das hat es am Theater Heilbronn so noch nicht gegeben. Am Ende des Castingtages ist nicht nur die aus Stuttgart angereiste Korrepetitorin Kazuko Nakagawa erschöpft, auch dem vielköpfigen Gremium im Zuschauerraum schwirren die Noten durch die Köpfe – und jetzt hat es die Qual der Wahl, jetzt muss entschieden werden.
Den Anfang nahm dieses »Wagnis« bereits im Herbst 2013 bei einer Art »Intendanten-Gipfel« im Büro von Axel Vornam am Berliner Platz. Der Intendant des Theaters Heilbronn und sein Kollege vom Württembergischen Kammerorchester Heilbronn, Dr. Christoph Becher, hatten lange darüber gesprochen, wie man die nun schon sieben Jahre andauernde, erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen beiden Institutionen weiterführen könnte. Warum nach dem Erfolg mit sehr unterschiedlichen Projekten wie »sinn_spuren« oder »Winterreise« und der Uraufführung der Kammeroper »Minsk« nicht eine Repertoire-Oper wagen? Einen »Klassiker« der Opernliteratur, den man mehr als nur vier Vorstellungen lang auf dem Spielplan des Großen Hauses halten kann. »Das machen wir, aber es muss für uns machbar sein«, beschließen beide Intendanten gemeinsam mit Ruben Gazarian, dem Chefdirigenten des Württembergischen Kammerorchesters – und treffen sich in der Diskussion bei dem von allen dreien hoch geschätzten Wolfgang Amadeus Mozart. Schnell fällt die Wahl auf sein »dramma giocoso«: »Così fan tutte«.
Doch woher nun die Sänger nehmen? Da es sich bei Mozarts und Da Pontes Figuren mit einer Ausnahme um junge Menschen handelt, deren noch sehr unreife Vorstellungen von Liebe und Beziehungen an der Realität zerschellen, könnte das kleine, aber feine Ensemble sich doch aus Sängerinnen und Sängern zusammen setzen, die gerade von der Hochschule kommen und am Anfang ihrer Karriere stehen. Christoph Becher hat die richtige Telefonnummer parat: Er nimmt Kontakt zu Prof. Ulrike Sonntag an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart auf, ein Treffen in einem Stuttgarter Café schürt die gemeinsame Begeisterung, ein Vorsingen wird anberaumt. Mit verblüffendem Ergebnis: Ganze Trauben von Studierenden der Hochschule (siehe oben) machen sich am 30. Juni auf den Weg nach Heilbronn, um sich Axel Vornam und Christoph Becher, Dirigent Ruben Gazarian und Dramaturg Andreas Frane vorzustellen.
Am frühen Abend sollen die Entscheidungen fallen: Nicht nur auf schöne Stimmen, auf Artikulation und Timbre kommt es an, auch die »Typen« von Fiordiligi und Dorabella, Ferrando und Guglielmo und der kecken Kammerzofe Despina müssen passen, Präsenz und Spielfreude kommen als Voraussetzungen dazu. Die Beratung im Intendanzbüro im zweiten Stock des Theaters braucht ihre Zeit, denn viele der Studierenden bestachen durch tolle Leistungen: Welche Kandidaten aber passen jeweils als Paare zusammen? Wie unterschiedlich sollen die Damen sein? Die Diskussion über die jungen Sängerinnen und Sänger greift vor allem bei Regisseur Vornam und seinem Dramaturgen schon ins Konzeptionelle. Wie stellen sie sich die Figuren vor und was müssen die Sänger darstellerisch erfüllen?
Die Herrenpartien sind schnell besetzt, für die Damen in der Endrunde bringt aber erst ein weiteres Arbeitstreffen im September auf der Probebühne die Entscheidung: Und jetzt freuen wir uns auf Manuela Viera dos Santos (Fiordiligi), Haruna Yamazaki (Dorabella) und Isabella Froncalla (Despina), Yongkeun Kim (Ferrando) und Jongwook Jeon (Guglielmo). Mit dem Bassisten Frank van Hove stößt für die Rolle des abgeklärten, ironischen Philosophen Don Alfonso ein international bekannter Opern-Profi zum Ensemble dazu. Als Chor unterstützt uns das Heilbronner Vokalensemble Alto e Basso unter der Leitung von Michael Böttcher. Und wer weiß, vielleicht verbirgt sich unter den talentierten Absolventinnen und Absolventen der Hochschule ein großer Gesangsstar von morgen?