Freitagabend, 19 Uhr an der Theaterkasse. „Wie, in das Stück gehen wir?“ fragt mich mein Freund verwundert, als er die Karte in der Hand hält. „Das Thema ist doch längst ausgelutscht.“ Damit spricht er wohl das aus, was viele denken.
Im Foyer lausche ich Dramaturg Andreas Frane , der eine kurze Einführung in das Stück gibt. Seinen Titel bezieht das Stück von einem Stein, der als „Speicher der Erinnerung“ fungiert. Er ist das verbindende Element einer Handlung, die in 34 kurzen Szenen zwischen 1935 und 1993 spielt. Da die Zeitenabfolge nicht chronologisch ist, zeigt eine Digitalanzeige auf der Bühne das Jahr an, in welchem wir uns befinden. Dabei wird der Zuschauer durch die Geschichte einer Familie geführt, die in einem Haus stattfindet, das sie 1935 von einem jüdischen Paar übernommen hat. Ein heroischer Akt, um das Paar vor den Nazis zu schützen? So behauptet es zumindest die Familiengeschichte. Ob beim Publikum wohl auch Erinnerungen an die eigene Geschichte geweckt werden?
In der Pause merke ich, dass wir mit Ende 20 das Durchschnittalter der Zuschauer senken. Ich erinnere mich an die vielen Jahre Geschichtsunterricht und die vielen Diskussionen mit Lehrern, Eltern, Großeltern. Ist es an der Zeit das Thema aus unseren Köpfen zu verbannen? Das Stück halte den Deutschen einen „Spiegel vors Gesicht“, klärt mich mein französischer Kollege auf. Natürlich würden wir das Thema gerne vergraben. So versucht auch die Familie sich von dem Stein, dem Speicher der Erinnerungen, zu trennen. Doch als Großmutter, Tochter, und Enkeltochter 1993 das Haus wiederbeziehen, taucht plötzlich eine junge Frau aus dem Nichts auf. Sie macht Ansprüche an ihre altes Zuhause geltend. Tochter Hannah möchte nach Amerika zu den Schwarzmanns, denen die Großeltern durch den Hauskauf angeblich zur Flucht verholfen haben. Die Heldengeschichte des nach Kriegsende ermordeten Vaters gerät ins Wanken.
Ich komme ins Gespräch mit Zuschauern im Alter der Nachkriegsgeneration. Der Umgang mit der deutschen Vergangenheit sei realistisch, sagen sie. Vor allem denken sie dabei an die Figur „Heidi“, die von den Geschehnissen während des Krieges nur durch Mutter Roswithas Erzählungen weiß. Gerade den jüngeren Zuschauern empfehlen sie, das Stück zu sehen. Hier werde wichtige Aufklärungsarbeit geleistet.
Nach 90 Minuten erhalten die Schauspieler und Schauspielerinnen langanhaltenden Applaus. Wir beklatschen die gekonnten Rollenswechsel in den schnellen Zeitsprüngen, das imposante Bühnenbild und eine Geschichte, die jedem Zuschauer im Gedächtnis bleiben wird: Ein brauner Stein der Erinnerungen ist eine unzerstörbare Bürde, derer man sich durch Vergraben nicht entledigen kann. Vielmehr zerstört er jenes hübsche Porzellan mit dem man versucht das eigene Leben zu schmücken.
Mein Freund und ich verlassen nachdenklich die Vorstellung. Die anfängliche Skepsis meines Begleiters ist einer Bewunderung für die starke Symbolsprache gewichen. Das Thema ist alles andere als ausgelutscht. Für mich ist das Stück wie eine Aufforderung, den eigenen Blick auf die Geschichte zu hinterfragen.
Melanie Amaya, Praktikantin