Fremd bin ich eingezogen …

»Die Winterreise« Musiktheaterabend nach Franz Schubert
In einer neuen Orchestrierung für das Theater Heilbronn von Jens Josef
Premiere 17. Februar 2012

Foto: Christian Marten-Molnár/Nikolaus Porz

 

Erinnern Sie sich noch? Kurz vor Weihnachten? Die Geschäfte sind länger auf und Sie können sich rechtzeitig mit allem versorgen, was zu einem gelungenen Weihnachtsfest gehört. Mit schweren Einkaufstaschen stehen Sie nun abgekämpft im Parkhaus vor dem Parkscheinautomaten. Beruhigt und zufrieden holen Sie aus Ihrem Portemonnaie das notwendige Kleingeld. Da fällt Ihr Blick zufällig auf den alten Mann, der dort in der Ecke auf einem Stück Pappe sitzt. Sein leerer Kaffeebecher, der auf Ihre Almosen wartet, berührt Sie unangenehm. Muss er ausgerechnet dort sitzen und Ihnen die gute Laune verderben?

»Keiner mag ihn hören,
Keiner sieht ihn an,
Und die Hunde knurren
Um den alten Mann.«

Er schaut Sie an, scheint Sie stumm anzusprechen: »Ich sehe Dich schon als Hofrat! Was wird aus mir armem Musikanten? Ich werde wohl im Alter wie Goethes Harfner an die Türen schleichen und um Brot betteln müssen.«

»Barfuß auf dem Eise
wankt er hin und her.
Und sein kleiner Teller
Bleibt ihm immer leer.«

Sie weichen seinem Blick aus, stecken Ihr Kleingeld in den Automaten und gehen zum Auto. Der Mann aber geht Ihnen nicht mehr aus dem Kopf. Wer ist er, warum sitzt er dort, hat er keine Familie? Er scheint Ihnen zu antworten:

»Fremd bin ich eingezogen,
Fremd zieh ich wieder aus.
Ich kann zu meiner Reisen
nicht wählen mit der Zeit:
Muss selbst den Weg mir weisen
In dieser Dunkelheit.«

Und nun fragen Sie sich, was das alles mit der »Winterreise« von Franz Schubert zu tun hat? Mehr, als man auf den ersten Blick vermuten mag. Die Angstvision des Betteln gehen müssens ist die Schuberts gewesen. Er schrieb es zwei Jahre vor seinem Tod an seinen Freund Eduard von Bauernfeld. Sein kurzes Leben war gekennzeichnet von Entbehrung, Hunger, Obdachlosigkeit, das beschämende Gefühl, auf Almosen angewiesen zu sein. Er wollte für die Musik von der Musik leben. Doch die Gesellschaft verweigerte es ihm. In keinem Werk hat Schubert persönlicher über sich und die eigene Hoffnungslosigkeit erzählt, als in seinem Liederzyklus »Die Winterreise«. Und so waren denn auch seine Freunde entsetzt, als er ihnen wenige Wochen vor seinem Tod dieses neueste Werk vorstellte. Dieser tiefe, musikalische Blick in die Seele eines einsamen, ausgestoßenen Menschen wurde zu einem der beliebtesten Liederzyklen der Musikgeschichte. Unzählige Einspielungen zeugen von seiner emotionalen Kraft. Wer kennt nicht den zum Volkslied gewordenen »Lindenbaum«, ist nicht von der komponierten Leere des »Leiermanns« tief berührt worden. Und doch entlässt Schubert trotz allem den Zuhörer nicht ungetröstet in die eigene Wirklichkeit.

Dieser Liederzyklus steht nun im Zentrum der nach »sinn_spuren« und »Verklärte Nacht« dritten Zusammenarbeit von Theater und Württembergischem Kammerorchester (WKO).

Der in Kassel lebende Komponist Jens Josef hat die Aufgabe übernommen, für die Inszenierung am Heilbronner Theater den Klavierpart des Schubert’schen Originals für die Möglichkeiten eines Streichorchesters zu erweitern. Er ist bereits mit zahlreichen eigenen Kompositionen in Konzertsaal und auf Opernbühnen zu hören gewesen und verfügt auch über große Erfahrung in der Kunst des Orchestrierens. Den Gesangspart übernimmt der Heidelberger Bariton Matthias Horn, der bereits eine eigene CD-Einspielung der »Winterreise« vorgelegt hat.

Christian Marten-Molnár, Chefdramaturg

 

Musikalische Leitung
Ruben Gazarian
Regie
Christian Marten-Molnár
Ausstattung
Nikolaus Porz
Mit
Matthias Horn

Alle Spieltermine:
Fr. 17.02.2012 19.30 Uhr
Sa. 18.02.2012 19.30 Uhr
Di. 03.04.2012 19.30 Uhr
Do. 05.04.2012 19.30 Uhr

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert