Schein oder Sein: Der Körper als Kampfplatz

Molières bitterböse Komödie »Der eingebildete Kranke« feiert in einer Inszenierung von Susanne Lietzow im Großen Haus Premiere

von Katrin Aissen

Figurinen: Jasna Bošnjak

Hier ein Klistierchen und ein sedierender Trank, dort ein aufputschendes Pülverchen und ein fragwürdiges Wundermittelchen – permanent laboriert der selbstmitleidige Argan an der Medikation seiner Zipperlein und der Optimierung seines Körpers. Er will seinen Leib pflegen und stärken, denn für ihn lauert hinter seinen intensiv empfundenen Beschwerden immer schon der Tod. Nervös und mit höchster Empfindsamkeit spürt er jeder Regung seines Verdauungsapparates und seiner übrigen Körperfunktionen nach und schikaniert mit seinen – eingebildeten – Krankheiten an Herz, Galle, Niere, Leber und Lunge nicht nur lustvoll seine Umgebung, sondern finanziert so auch seinen Arzt und seinen Apotheker. Um die Kosten zu senken und immer einen Arzt an seiner Seite zu haben, verfällt er auf die abgefeimte Idee, seine Tochter Angélique mit dem angehenden Arzt Thomas Diafoirus zu verheiraten.

Doch dieser ist weder ansehnlich noch charmant und nicht gerade ein heller Kopf. Außerdem ist Angélique in glühender Liebe zum schönen und klugen Cléante entbrannt, der auch sie innig liebt. Argans zweite Frau Béline dagegen hat es nur auf dessen Geld abgesehen und wartet sehnsüchtig auf sein Ableben. Schmeichlerisch geht sie auf dessen vermeintliche Leiden ein und versucht potenzielle »Erbkonkurrenz« zu beseitigen, indem sie darauf dringt, dass Argan seine Tochter in ein Kloster steckt. In seiner selbstbezogenen Verblendung fällt dieser auf ihre Umgarnung herein, durchschaut nicht ihr wahres Ich und bricht mit seiner Tochter, als diese sich weigert, den vom Vater vorgesehenen Mann zu heiraten. Allein in der gewitzten Dienerin Toinette hat Angélique eine Verbündete. Mit losem Mundwerk und Raffinesse bietet sie Argan Paroli und treibt ihn zur Weißglut. Unterstützt wird sie dabei von dessen Bruder Béralde, der durch seine Kritik an der Scharlatanerie der Ärzte beim Hausherrn in Ungnade fällt. Um Argan von seinen fixen Ideen zu befreien und ihm die wahren Loyalitäten der Familienmitglieder vor Augen zu führen, fädelt Toinette einen klugen Plan ein und verschreibt ihm damit eine Kur der besonderen Art. Als Arzt verkleidet öffnet sie Argan die Augen und entlarvt Schein und Sein – Täuschung und Wahrheit …

Mit seiner bissigen Charakterkomödie über einen von seinen fiktiven Krankheiten besessenen Mann hat Molière herrlich absurde Charaktere auf die Bühne gebracht, die sich mit Wortwitz und pointierten Dialogen gegenseitig an den Kragen gehen. Sein pfiffiges Spiel um Körperkult und Selbstoptimierung thematisiert gleichzeitig auf groteske Weise die Sehnsucht nach Unsterblichkeit. »Der eingebildete Kranke« war nicht nur Molières letztes Werk, sondern makabererweise auch im wahrsten Sinne des Wortes sein letzter Auftritt. Bei der vierten Vorstellung des Stückes, bei der Molière selbst als Argan auf der Bühne stand, erlitt er auf offener Bühne einen Blutsturz, an dem er einige Stunden später – noch im Kostüm seines Titelhelden – verstarb.

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Über Macht und Gewalt im Namen der Sicherheit

Nachwuchsregisseurin Luisa Köpper gibt mit »Nach dem Ende« ihr Regiedebüt in der BOXX

von Dr. Mirjam Meuser

Foto: Verena Bauer

Louise und Mark, die Protagonisten in Dennis Kellys apokalyptischem Thriller »Nach dem Ende«, sind Kollegen, arbeiten im selben Büro. Louise ist eine geschätzte und allseits beliebte junge Bürokraft. Mark, ihr Kollege aus der Reprografie-Abteilung, wohl eher das, was man heute einen »Nerd« nennt, ein eher zurückhaltender und verschrobener junger Mann, der offenbar schon seit einiger Zeit in Louise verliebt ist. Da er sich bei der jungen Frau allerdings wenig Chancen ausrechnet, hat er ihr diese Tatsache nie verraten. Vielmehr hängt er sich emotional an jeden kleinen Moment, in dem sie ihm – in Ermangelung besserer Gesellschaft – ein wenig Aufmerksamkeit schenkt und ergeht sich in Fantasien über ihre vermeintliche Seelenverwandtschaft.

Kellys Stück beginnt nun mit einer beängstigenden Situation. Am Morgen nach ihrer Abschiedsparty im Kreise von Kollegen – Louise ist gerade dabei, eine neue Stelle in einem anderen Unternehmen anzutreten – erwacht sie in dem Atombunker im Garten von Marks Eigentumswohnung. Den Bunker, der noch aus der apokalyptischen Atmosphäre der 1980er-Jahre stammt, hatte der Sonderling Mark nach dem Immobilienkauf nicht zerstört, sondern stattdessen mit dem Nötigsten für den Ernstfall ausgestattet – eine Tatsache, die offenbar im Kollegenkreis immer wieder Anlass für Hänseleien und Amüsement war. Doch als wäre diese klaustrophobische Ausgangssituation nicht genug, erzählt Mark Louise darüber hinaus, dass es am gestrigen Abend einen Atomschlag gegeben habe und es ihm gerade noch gelungen sei, Louise und sich in den Bunker zu retten. Draußen herrsche Chaos, der Großteil der Menschen sei wohl umgekommen. Sie seien nun aufeinander angewiesen und müssten bis auf Weiteres im Bunker ausharren. Louise reagiert zunächst geschockt, doch bald stellen sich bei ihr Zweifel über Marks Version der Geschichte ein. Subtil versucht sie herauszufinden, was sich am vergangenen Abend tatsächlich ereignet hat – ohne je die Möglichkeit aus den Augen zu verlieren, dass er doch die Wahrheit sagen könnte. Im Dialog zwischen Mark und Louise fächert sich nun nicht nur langsam ihre gemeinsame Geschichte auf, darüber hinaus entwickelt sich zwischen den beiden ein gnadenloses Machtspiel, das sich zuspitzt, je mehr Mark unter Druck steht, Louise mit der atomaren Drohung von außen weiter in Schach zu halten. Das Vorenthalten von Nahrung wird zu Marks entscheidendem Druckmittel, um seinen Willen durchzusetzen, und lässt die Situation zwischen den beiden bald eskalieren.

»Nach dem Ende« ist das dritte veröffentlichte Stück des preisgekrönten britischen Star-Autors Dennis Kelly (»Mathilda«, »Utopia«) und stammt aus dem Jahr 2005, als die Terrorangst im Zusammenhang mit dem »War on Terror« nach dem 11. September 2001 in Europa um sich griff. Es setzt sich mit der Entstehung von Machtstrukturen in intimsten Beziehungen auseinander wie auch mit unserem Bedürfnis, uns sicher zu fühlen, und damit, wie dieses Bedürfnis von Einzelpersonen und Regierungen manipuliert werden kann. Zudem beschäftigt sich das Stück mit männlicher Gewalt – ein Thema, das viele von Kellys Stücken durchzieht. Es fragt nach den subtilen Verbindungen von Männlichkeit und Gewalt, die Kelly grundlegend beschäftigen. Zugleich erinnert es uns in einer extrem gefährdeten Zeit wie der unseren daran, wie sich menschliche Charaktere und Beziehungen in Extremsituationen verändern können. Und es lässt die apokalyptische Atmosphäre der 1980er-Jahre wieder aufleben, als sich die Atommächte bis an die Zähne bewaffnet gegenüberstanden. So besitzt Kellys Stück für uns eine erschreckende Aktualität, der die Nachwuchsregisseurin Luisa Köpper, die mit »Nach dem Ende« ihr Regiedebüt am Theater Heilbronn gibt, in ihrer Inszenierung nachgehen will.

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»Die Unsichtbaren« werden zu neuem Leben erweckt

Hamburger Ballettchef John Neumeier setzt in der Nazizeit verfolgten Tänzern ein Denkmal

von Silke Zschäckel

Foto: Kiran West

Es war für John Neumeier, Intendant des Hamburg Ballett und ebenso des Bundesjugendballetts (BJB), ein Herzensprojekt: Er wollte Tanzschaffenden, die in der Nazizeit verfolgt wurden, ein Denkmal setzen. Viele von ihnen gehörten zur Avantgarde des Tanzes in den 1920er-Jahren. Als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen, blieb jedoch von der Pionierarbeit vieler Tänzerinnen und Tänzer nicht viel übrig. In seinem Ballett »Die Unsichtbaren«, das John Neumeier zusammen mit dem Bundesjugendballett erarbeitet hat und für das er mit dem Rudolf-Mares-Preis ausgezeichnet wurde, setzt er ihnen ein Denkmal.

Anhand der Biografien von Mary Wigman, Rudolf von Laban, Gret Palucca, Harald Kreuberg und Alexander von Swaine verdeutlichen die zehn jungen Tänzerinnen und Tänzer der Compagnie mit Unterstützung von Schauspielern, wie die Nazis die Kunst politisch steuerten und nationalistisch instrumentalisierten, wie jüdische Tanzschüler und Künstler ausgegrenzt und verfolgt wurden – ebenso Angehörige von Minderheiten wie Sinti und Roma und homosexuelle Künstler. Der Hamburger Ballettchef hat, unterstützt vom Tanzhistoriker Ralf Stabel, eingehende Recherche betrieben, um die »Unsichtbaren«, jene Tänzerinnen und Tänzer, Choreographen und Tanzjournalisten wieder sichtbar zu machen, die während des Nationalsozialismus ausgegrenzt, vertrieben, deportiert oder umgebracht wurden. Mit einem Mosaik aus insgesamt 16 kurzen Szenenfolgen werden sie in ihren jeweiligen Besonderheiten, aber auch in ihrer Einsamkeit, Verzweiflung und Not gezeigt. Die Grundlage bilden historische Texte und
Dokumente. Spiel- und Tanzszenen wechseln sich ab, durchdringen und ergänzen einander.

Foto: Kiran West

Das Stück gibt keine Antworten. Stattdessen stellt es Fragen an die Künstlerinnen und Künstler jener Zeit und an die Nachgeborenen. Es ist diese Begegnung von Tanzhistorie und jungen Leuten von heute, die John Neumeiers Tanz-Collage so berührend und spannend macht. Mit diesem Abend holt das Bundesjugendballett ans Licht, was im Schatten lag, um es für unsere Gegenwart und Zukunft sichtbar zu machen. Das Stück ist nicht nur Vergangenheitsbewältigung, Erinnern und Gedenken, sondern mahnt eindringlich vor der Wiederholung dessen, was sich nie mehr wiederholen darf.

Seit 1973 leitet der gebürtige Amerikaner John Neumeier das Hamburg Ballett und brachte es mit seiner einzigartigen Handschrift zwischen visionärem Tanz und klassischer Ballett-Tradition zu Weltruhm. Mit nur 30 Jahren war er bereits jüngster Ballettchef Deutschlands, damals noch in Frankfurt am Main. Heute ist er der dienstälteste Ballettdirektor der Welt. Zum Ende der Spielzeit 2023/2024 hört er als Intendant des Hamburg Ballett auf.

Foto: Kiran West

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»Rituale« vereint Arbeiten von zwei Ausnahmechoreografen

Ballettabend von Ohad Naharin und Marco Goecke als Gastspiel des Saarländischen Staatstheaters

von Silke Zschäckel

Ohad Naharin: George & Zalman | Yael Fischer, Sidney Ramsey | Foto: Bettina Stöß

Dieser Ballettabend verbindet zwei der herausragendsten Choreografen unserer Zeit. Beide sind Schöpfer neuer Bewegungsstile im Tanz: Ohad Naharin, einer der bekanntesten Choreografen Israels, und künstlerischer Leiter der Batsheva Dance Company, und Marco Goecke, der zu den führenden Choreografen Deutschlands zählt. Die beiden haben einige ihrer großartigen älteren Stücke mit der Compagnie des Saarländischen Staatstheaters neu erarbeitet. Ohad Naharins »George & Zalman« wurde 2006 in Jerusalem vom Batsheva Ensemble uraufgeführt. »Black Milk« stammt aus dem Jahr 1985 und wurde für die Kibbutz Dance Company kreiert. Beide Stücke gleichen zwei sich steigernden Ritualen: das erste für ein Frauen-, das zweite für ein Männerensemble. Marco Goeckes »Whiteout« aus dem Jahr 2008 wurde ursprünglich mit dem Ballets de Monte-Carlo entwickelt und in Monaco uraufgeführt. Es zeigt uns eine Gruppe von drei Frauen und sechs Männern, deren Flatter- und Schüttelbewegungen immer wieder in ekstatischer Entrückung kulminieren.

Ohad Naharin trägt den ehrenvollen Namen »Mr. Gaga«, denn er begann mit seiner einzigartigen Bewegungssprache einen neuen Weg des zeitgenössischen Tanzes zu beschreiten. In der Gaga-Technik stehen gelebte innere Bilder über Äußerlichkeiten, weswegen beim Training auch ohne Spiegel, aber mit Metaphern gearbeitet wird. Kontaktaufnahme und Überwindung der Vereinzelung stehen in seinem Bewegungskonzept im Vordergrund.

Ohad Naharin: Black Milk | Shawn Throop, Noah Oost, Hyo Shimizu, Flavio Quisisana | Foto: Bettina Stöß

In Tel Aviv, wo Ohad Naharin seit 1990 die renommierte »Batsheva Dance Company« künstlerisch prägt, geht man mittlerweile zum Gaga-Kurs wie zum Pilates, ins Fitnessstudio oder Yogaloft. Die Profitänzer benutzen die Tanzsprache, um für ihre Choreografien ein anderes Körpergefühl zu entwickeln, gleichzeitig ist beim Gaga-Kurs jeder Laie willkommen. Der Sohn einer Feldenkrais-Lehrerin und eines Psychologen steht für eine Bewegungssprache, die universell und doch persönlich ist. Er kontrastiert körperliche Explosivität mit Stille, interessiert sich für Gegensätze, Kanten und Extreme, und vertritt die Philosophie, dass jeder tanzen sollte.

Marco Goeckes Tanzsprache ist absolut anders als alles, was es bisher auf den Bühnen dieser Welt zu sehen gab. Tanz in Hochspannung, Bewegungen wie Zittern, Zucken, Flattern und Schlagen sowie rasante Tempi sind typische Kennzeichen für Goeckes Körpersprache.

Diese innovative künstlerische Qualität wurde im Oktober 2022 mit der Verleihung des Deutschen Tanzpreises gewürdigt. Goecke hat etwa neunzig Werke für die renommiertesten Ensembles vor allem in Europa kreiert, unter ihnen das Ballett der Pariser Oper, das Stuttgarter und das Züricher Ballett sowie das Bayerische Staatsballett.

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Ein Wolkenkratzer aus Papier als Zufluchtsort

Stefanie Roschek inszeniert »Wolkenrotz« von Vera Schindler für Kinder ab 8 Jahren in der BOXX

von Nicole Buhr

Foto: Verena Bauer

Die drei Kinder Kenny, Bente und Layla wohnen in einem riesigen Hochhaus aus Papier, das fast schon in den Himmel ragt. Es wird immer höher und höher gebaut aus Briefen voller ungelesener Rechnungen und Mahnungen, die die Briefkästen und Flure des Hauses verstopfen, sodass den Menschen dort kein Platz zum Atmen mehr bleibt. Weil die Bewohner die Rechnungen nicht bezahlen können, haben die Kinder beschlossen: »Entweder die Briefe müssen raus, oder wir!« Sie beginnen, das Haus aus den Briefen immer höher zu bauen, Stockwerk um Stockwerk. Wenn es regnet wird das Haus ein bisschen schleimig, aber es knistert gemütlich, wenn das Papier wieder trocknet. Manchmal hört man das Murmeln der Buchstaben und Zahlen aus den Briefen, den Wind, der durchs Papier pfeift, das leise Knabbern der Tauben, die sich Nester bauen, und das fast geräuschlose Schleichen der Katzen, die überall im Haus herumlaufen, weil ihre Besitzerin vor lauter Sorgen wegen der vielen Briefe aus dem Fenster gesprungen ist. Oder sie ist weggeflogen. Einfach davon. Genau weiß es niemand.

So beschreibt der 9-jährige Kenny, der schon sehr lange in diesem Hochhaus wohnt, sein Zuhause. Kenny liebt es zu zeichnen und nutzt all das Papier der Briefe, um sich seine eigene fantastische Welt zu schaffen. Durch die poetischen Beschreibungen und Bilder hindurch blitzt seine Lebensrealität: Er lebt mit seiner Mutter in der Hochhaussiedlung und ist meist allein, weil sie arbeiten muss, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Bente und Layla, die nacheinander dort einziehen, geht es ähnlich. Bentes Mutter verlässt ihr Sofa nie und sein Vater ist selten zu Hause. Aufgrund der vielen Job-Wechsel seines Vaters ist er in seinem Leben schon acht Mal umgezogen und hat deswegen nie Freundschaften schließen können. Laylas Eltern sind wegen ihres kranken kleinen Bruders hergezogen und verbringen die meiste Zeit bei ihm im Krankenhaus. Layla hat sich so sehr ans Alleinsein gewöhnt, dass sie zunächst gar keine Freunde mehr haben will.

Was die drei Kinder neben dem Alleinsein eint, sind ihre Kreativität und Fantasie: Wo Kenny sich seine Welt zeichnet, bannt Bente seine Ängste in Geschichten und erfindet poetische Wortspielereien, während Layla fantastische Objekte aus Papier faltet. Nach und nach kommen sich die drei Kinder im Papierhaus näher und werden zu Freunden. Gemeinsam stellen sie sich den verschiedenen Ausgrenzungen und Abwertungen, die ihnen in der Schule begegnen, weil sie als »Kinder aus dem Papierhaus« in vielem nicht so sind wie die »Kinder aus den Steinhäusern«. Gemeinsam erhalten sie Trost und essen Schlumpfeis bei Kennys Vertrauter Fatima am Kiosk. Und als ein Sturm aufzieht und das Papierhaus bedroht, finden sie nicht nur die Katzenfrau wieder, sondern gemeinsam auch eine Lösung, die sie selbst und alle Bewohner des Papierhauses rettet.

Vera Schindler, aufgewachsen in der »documenta-Stadt« Kassel, hat selbst in ihrer Kindheit und Jugend (Bildende) Kunst für sich als Zufluchtsort entdeckt. Diese Erfahrung nutzt sie für ihr erstes Kindertheaterstück, das sowohl den Förderpreis beim Berliner Kinderstückepreis 2021 als auch den Förderpreis des Jugendtheaterpreises Baden-Württemberg 2022 erhalten hat. Eingebettet in eine ebenso spielerisch-leichte wie poetisch-künstlerische Sprach- und Bildwelt, nimmt sich Vera Schindler aus der Perspektive von drei Kindern so existentieller Themen wie Kinderarmut, sozialer Armut, Ausgrenzung und Vereinsamung an. In einem Interview sagt sie dazu: »Ich finde, dass grade die poetische Literatur Zwischenräume öffnen kann, die die individuelle Erfahrung mit dem Kollektiven verbindet. Das ermöglicht es, zwischen den Dimensionen zu wechseln, die Realität aus der Distanz als Miniatur zu betrachten, als Forschungsgröße. Da wird sie plötzlich handlich.« In der Laudatio des Berliner Kinderstückepreises heißt es dazu: »Kunst tröstet – wer hätte gedacht, dass diese hart errungene Lebensweisheit so spielerisch, so kinderleicht erzählbar ist.«

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Jäger mit der Kamera

Jochen Quast ist mit Leib und Seele Theaterfotograf

von Silke Zschäckel

Foto: Verena Bauer

Oft ist ein Inszenierungsfoto das erste, was Menschen außerhalb des Theaters von einem Stück sehen − in einer Zeitung, auf einem Plakat oder im Internet. Das Bild vermittelt einen wichtigen Eindruck und entscheidet nicht selten darüber, ob das Interesse an einer Inszenierung geweckt wird. Jochen Quast, seit 23 Jahren Theaterfotograf, ist sich dieser Verantwortung sehr bewusst, blendet sie aber während der Arbeit aus. Denn in den rund drei Stunden, in denen er die Probe einer neuen Inszenierung fotografiert, taucht er tief in das Geschehen auf der Bühne ein und versucht vorauszuahnen, wann und wo sich ein gutes Fotomotiv ergibt, um im richtigen Moment an der besten Position zu stehen. Es fühlt sich ein bisschen an, wie auf der Jagd zu sein. Er agiert lautlos und macht sich fast unsichtbar, um die Künstler auf der Bühne und am Regiepult nicht zu stören, und drückt im richtigen Moment auf den Auslöser. Die körperliche Anspannung und die Konzentration sind in dieser Zeit auf höchstem Level, erzählt er.

Von seinem Wohnort, einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide, reist Jochen Quast durch die ganze Bundesrepublik an die unterschiedlichsten Theater zwischen Lübeck und München. Viele Staatstheater und große Opernhäuser gehören zu seinen Auftraggebern und seit 2018 auch regelmäßig das Theater Heilbronn. Zum Theater kam der gelernte Werbefotograf 2001 eher durch Zufall. Am Festspielhaus Bayreuth war ein Hausfotograf ausgefallen und die zweite Fotografin im Haus, die er aus seinem Werbestudio in Hamburg kannte, sprach ihn an, ob er sie unterstützen würde. Die Bayreuther Festspiele! Wie reizvoll! Aber auch: Wie respekteinflößend! Erst recht, wenn man nicht aus dem Metier kommt. Jochen Quast hat sich Peter Emmerich, dem damaligen langjährigen Kommunikationschef der Festspiele, vorgestellt und gar nicht erst versucht, ihm etwas vorzugaukeln. »Ich bin kein Theaterfotograf«, bekannte er offen. Peter Emmerich habe schallend gelacht und geantwortet: »Gott sei Dank!« Damit bekam Jochen Quast seine Chance.

Am Anfang habe er erst einmal alle Fehler gemacht, die möglich waren, erinnert er sich. Die ersten Fotos zeigten überbelichtete Gesichter auf dunkelschwarzer Bühne, beschreibt er lachend. Aber da man als Hausfotograf nicht nur eine Chance hat, sondern in mehreren Proben dabei sein darf, konnte er korrigieren und lernen. Natürlich hatte er auch einen Heidenrespekt vor den namhaften Sängerinnen und Sängern und den anderen bedeutenden Künstlern, die dort arbeiteten, auch vor den riesigen Ausmaßen der Bühne. Sechs Wochen war er 2001 dort beschäftigt und fotografierte auf der Bühne und hinter den Kulissen. Von da an verbrachte er sieben Jahre lang einige Sommerwochen bei den Bayreuther Festspielen. »Ich habe mich selber in die Lehre genommen und mir alles beigebracht, was für die Theaterfotografie wichtig ist.« Von Bayreuth aus ging es weiter von Theater zu Theater, denn eine Empfehlung folgte der nächsten.

Der große Unterschied zu seinem vorherigen Metier, der Werbefotografie, besteht darin, dass er die Szenen nicht selbst arrangiert und ablichtet, sondern dass er am Theater als Beobachter agiert und das dokumentiert, was sich auf der Bühne abspielt. »Die Kunst besteht darin, im richtigen Moment parat zu sein, denn man kann bei einer Probe die Situation nicht wiederholen.« Inzwischen hat er gefühlt 1000 Inszenierungen fotografiert und kann sich gut auf seine Intuition verlassen.

Nach den rund drei Stunden Fotoprobe ist übrigens erst die Hälfte der Arbeit getan. Danach wählt Jochen Quast aus den bis zu 1500 Bildern die besten 200 aus und bearbeitet sie. Das sind noch einmal drei bis vier Stunden Arbeit – meistens mitten in der Nacht, da die Proben fast immer abends stattfinden. Er schickt dann zwei Ordner an die Theater, einen mit den besten Fotos aus allen Szenen und einen mit seinen ganz persönlichen Favoriten. »Für mich ist es immer interessant, welche Bilder dann von den Theatern für die Presse, Plakate oder die Homepage ausgesucht werden.« Die Schlafenszeit nach so einer Fotonacht ist kurz, denn häufig geht er schon am nächsten Morgen auf Reisen ins nächste Theater.

Jochen Quast fotografiert Schauspiel, Tanz und Oper. Jede Form der darstellenden Kunst hat ihre speziellen Herausforderungen. Aber eine seiner liebsten Tätigkeiten am Theater ist die fotografische Gestaltung der Spielzeitbücher und die Erstellung der Schauspielerporträts, auch hier ist er schon seit einigen Jahren für das Theater Heilbronn aktiv. Als eine seiner besten Kampagnen empfindet er übrigens die im aktuellen Spielzeitbuch des Theaters Heilbronn, die er zusammen mit Ausstatter Toto realisiert hat. Die expressiven schwarz-weißen Schauspielerporträts auf gelbem Grund, die auch überall in der Stadt auf Plakatwänden präsent waren, haben sehr viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Kann man mit Fotos mehr erreichen?

Von der Suche nach einem Rezept für Reichtum und Glück

Kai Tietje und Thomas Winter haben die legendäre Kabarett-Revue »Wie werde ich reich und glücklich?« aus dem Jahr 1930 für Heilbronn wiederentdeckt

von Sophie Püschel

Lennart Olafsson, Eve Rades; Foto: Rebekka Gogl

Wer wäre nicht gern reich und glücklich? Das denkt sich auch der mittellose Kibis, der im Zentrum von Felix Joachimsons und Mischa Spolianskys Kabarett-Revue »Wie werde ich reich und glücklich?« steht, die 1930 zum Publikumsschlager avancierte und ein Jahr später fürs Kino verfilmt wurde. Denn neben einer turbulent-heiteren Geschichte mit allerhand unerwarteten Wendungen und einem Reigen an liebenswert-skurrilen Figuren, bietet die Revue auch Lieder mit Ohrwurmgarantie, die der musikalische Leiter Kai Tietje eigens für die Heilbronner Inszenierung arrangiert hat. Neben dem siebenköpfigen Ensemble werden insgesamt 13 Musikerinnen und Musiker das Publikum in die (musikalische) Welt der späten 20er-Jahre entführen. Für das optische Flair sorgt der Bühnen- und Kostümbildner Toto mit aufwendigen Kostümen im Stil der Zeit sowie einer verblüffenden Bühnenlösung, die den Blick freigibt auf das schwindelerregende Berliner Großstadt-Labyrinth.

Berlin 1930: Der arbeitslose Kibis (Lennart Olafsson) lebt auf Pump und schlägt sich mehr schlecht als recht durchs Leben. Gerade als ihm sein Vermieter wegen Zahlungsversäumnissen mit der fristlosen Kündigung droht, erreicht ihn der Ratgeber von Dr. C. M. Pausback mit dem verheißungsvollen Titel »Wie werde ich reich und glücklich?«, der die Lösung all seiner Probleme in nur wenigen Schritten verspricht. Auch im Briefkasten der wohlhabenden Marie (Eve Rades) landet der besagte Ratgeber, den sie aufmerksam studiert. Während sich Kibis nichts dringlicher wünscht, als mit Hilfe der Pausback’schen Leitsätze dem sozialen Elend zu entfliehen und endlich frei von finanziellen Sorgen zu sein, sehnt sich die vom Luxus gelangweilte Marie nach dem Glück. Im unbekümmerten Leben der jungen Frau dreht sich alles um Mode, Beauty und Lifestyle. Doch sie spürt, da muss es noch mehr geben! Die akribische Befolgung der Leitsätze führt Kibis und Marie schließlich zusammen. Beide erkennen, dass sie einander für den erfolgreichen Abschluss des Ratgeber-Kurses benötigen, weshalb sie Hals über Kopf heiraten. Kibis ist reich und Marie ist glücklich, oder? Anders als man erwarten könnte, endet die Handlung an dieser Stelle nicht, sondern nimmt erst richtig an Fahrt auf. Oder um ein Lied der Revue beim Wort zu nehmen: »Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt … «
Denn Maries Vater, der pragmatische Automobil-Warenhaus-Besitzer Regen (Stefan Eichberg), hat in dieser Geschichte ebenso ein Wörtchen mitzureden wie auch Kibis’ patente Jugendfreundin Lis (Sarah Finkel) und Regens dauergestresster Branchenfreund F. D. Lohrenz (Arlen Konietz). Durch die turbulentüberraschende Handlung führen in der Inszenierung von Thomas Winter die beiden Conférenciers Oliver Firit und Juliane Schwabe, die an diesem Abend in insgesamt 14 Rollen
schlüpfen werden.

Mitten in der Weltwirtschaftskrise, die die Weimarer Republik im Mark erschütterte, treiben Felix Joachimson und Mischa Spoliansky mit ihrer Kabarett-Revue das Credo, dass jeder selbst seines Glückes Schmied und sozialer Aufstieg für jeden möglich ist, satirisch auf die Spitze. Ihr augenzwinkerndes Rezept für Reichtum und Glück ist ganz im Sinne der modernen Konsumgesellschaft nicht in der Bibel, sondern in einer Reklamebroschüre zu finden. Gerade in Zeiten wirtschaftlicher und politischer Krisen erfreut sich die Ratgeber-Literatur, die einfache Antworten auf komplexe Fragen bietet, besonderer Beliebtheit – damals wie heute.

Ob die Leitsätze von Dr. Pausback tatsächlich zu Reichtum und Glück verhelfen, erfahren Sie ab dem 9. März 2024 im Großen Haus.

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Suche nach Liebe und Erkenntnis

»Die Zauberflöte« kommt als Inszenierung des Pfalztheaters Kaiserslautern ins Große Haus

von Silke Zschäckel

Foto: Andreas J. Etter

»Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« Dieser Leitsatz von Immanuel Kant ist dem Programmheft zur Oper »Die Zauberflöte« vorangestellt, mit der das Pfalztheater Kaiserslautern ab dem 16. März 2024 für acht Vorstellungen im Theater Heilbronn gastiert. Denn nichts anderes als den Weg zur eigenen Erkenntnis durch das Überwinden jeglicher ideologischer Beeinflussung beschreitet
Prinz Tamino, um am Ende seine Pamina für sich zu gewinnen.

Tamino erhält von der Königin der Nacht den Auftrag, ihre Tochter Pamina aus dem Reich ihres Widersachers Sarastro zu befreien. Als Tamino das Bildnis der Prinzessin sieht, verliebt er sich augenblicklich in sie und willigt in den Auftrag ein. Er wird von dem vorwitzigen Vogelhändler Papageno begleitet und bekommt zum Schutz vor Gefahren eine Zauberflöte. Den beiden gelingt es, in den Tempel der Eingeweihten einzudringen. Hier begreift Tamino allerdings, dass Sarastro keineswegs der Bösewicht ist, als den die Königin der Nacht ihn beschrieben hat. Und so stellt er sich vielen Prüfungen und Gefahren, um die Hand Paminas zu gewinnen. Die italienische Regisseurin Pamela Recinella sieht die Suche nach Wissen und neuen Erkenntnissen als endlose Lebensaufgabe und die Fähigkeit »eines jeden Tamino und einer jeden Pamina unserer Gesellschaft, die Unwahrheit zu entlarven« als große Herausforderung.

Mozarts wunderschöne Musik macht »Die Zauberflöte« immer wieder zu einem Bühnenereignis. Die Charakterisierung der Figuren wird mehr durch die Musik als durch ihre Worte erreicht. Mozart komponierte volkstümliche Lieder für Papageno, barocke Arien für die Königin der Nacht, klangvolle Chöre für die Priester Sarastros, eine schlichte und klare Melodik für Sarastro selbst und beseelte Arien für Tamino und Pamina. So ist und bleibt »Die Zauberflöte« die Lieblingsoper der Deutschen mit einen unangefochtenen Spitzenplatz in den Aufführungsstatistiken.

Auf diesen Erfolg hatte Emanuel Schikaneder, seinerzeit Direktor des Freihaustheaters in Wien, insgeheim gehofft, als er seinen Freund Wolfgang Amadeus Mozart 1791 beauftragte, eine Oper von großer Zugkraft zu komponieren, die ihm sein 1000 Plätze fassendes Haus füllen sollte. Schikaneder selbst lieferte das märchenhafte Libretto dazu.

Das Kalkühl des Theaterdirektors ging voll und ganz auf: Am 30. September 1791 war die Uraufführung, die Mozart selbst vom Klavier aus dirigierte. Emanuel Schikaneder führte Regie und stand in der Rolle des Papageno auf der Bühne.

Allein bis Ende des Jahres 1791 wurden 35 Vorstellungen gespielt, die alle ausverkauft waren. Mozart selbst hatte nicht mehr viel vom Erfolg seiner Oper, er starb sieben Wochen nach der Uraufführung. Für Schikaneder hingegen brach ein goldenes Jahrzehnt an – zumindest finanziell. 1801 baute er von den Einnahmen ein neues Theater, das heute noch existierende Theater an der Wien. Als Librettist sollte er zu Lebzeiten aber kaum Anerkennung erfahren. Sein Name wurde bei vielen weiteren Aufführungen, 1794 wurde »Die Zauberflöte« schon an 27 Theatern gespielt, einfach nicht genannt. Zu profan sei die Geschichte, kritisierten Rezenten. Schikaneder indes hatte nie ein Hehl aus seinen Absichten gemacht: »Ich schreibe fürs Vergnügen des Publikums, gebe mich für keinen Gelehrten aus.« Dass »Die Zauberflöte« aber so viel mehr ist, als ein reines Vergnügen, macht sie unsterblich.

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Warum es sich zu leben lohnt!

Nicole Buhr inszeniert das preisgekrönte Jugendstück »Und alles« von Gwendoline Soublin für Jugendliche ab 12 Jahren

von Katrin Aissen

Foto: Verena Bauer

Eine Welt voller schlechter Nachrichten – der zwölfjährige Ehsan ist News-Junkie. Täglich zieht er sich sämtliche Zeitungs-, Fernseh- und Internetnachrichten rein und langsam hat er es satt: Die Polkappen schmelzen, Kriege überall, Bomben, Attentate, eine zunehmende Vereinsamung großer Bevölkerungsschichten, drohender Klimakollaps und die Superreichen feiern Partys auf ihren Yachten – einfach nur »Trash oder Tragödie«. Und niemand scheint wirklich etwas dagegen unternehmen zu wollen.
Allein mit seinen Gedanken verlässt Ehsan kaum noch sein Zimmer.

Doch eines Tages ist er plötzlich weg. Er hat einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem er schreibt, er wolle nicht in einer hoffnungslosen Welt leben. Seine achtjährige Schwester Chalipa und die 13-jährige Sam, die eigentlich ein bisschen auf die beiden aufpassen soll, solange der Vater verreist ist, sind entsetzt. Ratlos überlegen sie, wohin Ehsan verschwunden sein könnte – bis der kleine Nachbarsjunge Nelson auftaucht und auf die Luke des Bunkers deutet, den Chalipas und Ehsans Vater im Garten angelegt hat. Oh je, wahrscheinlich hat sich Ehsan in den Bunker zurückgezogen! Und der ist, wenn der Eingang zu ist, nur von innen zu öffnen. Was ist zu tun? Ist Ehsan wirklich da unten?

Chalipa versucht anhand von Ehsans Tagebuch zu rekonstruieren, was passiert ist, und Sam ruft ihren Freund Salvador zur Hilfe. »Ihr müsst die Polizei rufen!«, fordert Salvador aufgeregt, doch Sam hat Angst als Babysitterin zur Verantwortung gezogen zu werden. Auch eine Benachrichtigung des Vaters von Chalipa und Ehsan kommt für Sam aus diesem Grund nicht in Frage. Also was nun? Als gebrüllte
Drohungen nichts helfen: »Wenn du nicht rauskommst, dann kommt die Feuerwehr und bohrt deine Panzerwand auf, und dann stehst du blöd da – wie eine Maus, die in ihrem eigenen Loch in der Falle hockt!«, braucht es eine neue Strategie. Alle versuchen, sich in Ehsan hineinzudenken. Was hat ihn
bewogen, zu verschwinden? Sind es wirklich die trüben Zukunftsprognosen, oder hat sich Ehsan vielleicht in den Bunker zurückgezogen, um sein Wissen für eine erfolgreiche YouTube-Karriere zu nutzen? Eher unwahrscheinlich. Dann schon eher der miserable Zustand der Welt … Doch ist die Zukunft wirklich so düster? Und schon sind die vier mitten in einer intensiven Diskussion über ihre Ängste, Wünsche und ihre Sicht auf die Menschheit. Da haben Sam und Salvador plötzlich eine raffinierte Idee, um Ehsan aus dem Bunker zu locken. Sie rufen vor der Eingangsluke kleine positive Nachrichten: »Im Frühjahr kommt das neue Album von Shakira heraus!«, »Morgen werden es 22 Grad!« und entwickeln ganz eigene Zukunftsutopien: »Krebs haben wird sein, wie wenn man jetzt sagt: Ich hab Schnupfen!«, »Irgendwann lassen wir uns Flügel annähen, um aus der Krise herauszukommen und dann machen wir eine Reise auf die Bahamas!« Und jeder erzählt aus seiner persönlichen Sicht, warum es sich zu leben lohnt. Doch Ehsan bleibt verschwunden, denn er hat längst andere Pläne und nimmt das Heft des Handelns selbst in die Hand …

Gwendoline Soublin hat ein wunderbar leichtfüßiges wie existenzielles Stück über die Sicht von Kindern und Jugendlichen auf unsere heutige Welt geschrieben. Konsequent aus der Sicht der jungen Protagonisten verfasst, mit geschliffenen Dialogen und einer gehörigen Portion Optimismus macht das
Stück Mut zum eigenen Engagement – unabhängig von Alter und Lebensumständen.

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Die Vertreibung aus dem Paradies?

Axel Vornam inszeniert Anton Tschechows letztes Stück »Der Krischgarten« im Großen Haus

von Dr. Mirjam Meuser

Foto: Verena Bauer

Am 17. Januar 1904, vor genau 120 Jahren also, an Anton Pawlowitsch Tschechows 44. Geburtstag, wurde seine Komödie »Der Kirschgarten« am Moskauer Künstlertheater uraufgeführt. Es blieb sein letztes Theaterstück. Am 2. Juli desselben Jahres starb der russische Schriftsteller, schwer von der Tuberkulose gezeichnet, in Badenweiler bei Freiburg. Der Kuraufenthalt im Badischen, bei dem er sich von den Strapazen der vergangenen Jahre erholen wollte, in denen er oft gegen ärztlichen Rat zwischen der Krim und Moskau hin und her gereist war, kam zu für ihn zu spät. »Der Kirschgarten« war die letzte große literarische Anstrengung seines kurzen Lebens – eine hellsichtige Bestandsaufnahme seiner Gegenwart als einer Zeit des Umbruches, die so verzweifelte wie komische Abwehrreaktionen provozierte. Zur Ironie des Schicksals gehört es somit auch, dass am Tag des Ausbruchs der Oktoberrevolution im Moskauer Künstlertheater »Der Kirschgarten« gespielt wurde.

Das Stück zeigt eine Gesellschaft, die sich der neuen Zeit so lange und mit so viel tragikomischem Aufwand verweigert, dass sie letztlich von ihr überrollt wird. Es spielt um 1900 in Russland auf dem Gut von Ljubow Andrejewna Ranjewskaja (Sabine Fürst), die sich vor fünf Jahren nach dem tödlichen Unfall ihres jüngsten Sohnes nach Paris geflüchtet hat. Inzwischen ist das unrentable Anwesen, das derweil von ihrer Adoptivtochter Warja (Juliane Schwabe) verwaltet wurde, hoch verschuldet und soll binnen Kurzem versteigert werden. Daher holt Anja (Romy Klötzel), die jüngere Tochter der Ranjewskaja, ihre Mutter aus Paris zurück, in der Hoffnung, sie könnte das Gut retten. Doch die Mutter hat ihr Vermögen mit ihrem Liebhaber in Paris durchgebracht, sie kann nicht helfen. Statt zu sparen und Geld aufzutreiben, wirft sie auch noch mit den letzten Rubeln um sich, als gäbe es kein Morgen. Den dringenden Rat des Geschäftsmannes Jermolai Alexejewitsch Lopachin (Sven-Marcel Voss), Sohn eines ehemals leibeigenen Bauern, den gerade in voller Blütenpracht stehenden Kirschgarten abzuholzen und gewinnbringend für den Bau von Sommerhäusern zu verpachten, tut sie als geschmacklos ab. Undenkbar, dass der verlässlich in jedem Frühjahr blühende Kirschgarten, für sie ein Symbol von Heimat und Beständigkeit und Kristallisationsort ihrer sentimentalen Erinnerung an eine sorglose Kindheit, einem ›Nützlichkeitsdenken‹ geopfert werden könnte. In einer komischen Mischung aus infantiler Realitätsverweigerung und angstvoller Schicksalsverfallenheit tut sie folglich nichts, um ihren Besitz zu retten. Als schließlich der geschäftstüchtige Lopachin selbst den Kirschgarten ersteigert und die Axt ansetzt, bricht ihre Welt zusammen. Der neue, durchrationalisierte und –kapitalisierte Typus Mensch ist ihr im Innersten fremd – so wie der gesamten untergehenden alten Gesellschaft, die Tschechow uns in all ihren tragikomischen Facetten vorführt. Denn selbst da, wo sie sich mit der neue Zeit auseinandersetzen, gerät diese Beschäftigung zur reinen Schwärmerei.

Tschechows letztes Theaterstück, das zu den meistgespielten Dramen der Weltliteratur gehört, wirkt, von heute aus betrachtet, wie der Seismograph einer Umbruchszeit, nicht unähnlich der unseren. Wo alte Gewissheiten nicht mehr gelten und Unsicherheit zur alltäglichen Erfahrung wird, sind melancholisch-rückwärtsgewandte Realitätsverleugnung, nostalgische Verklärung einer vermeintlich paradiesischen Vergangenheit und schwärmerische Heilserwartungen an die Zukunft wiederkehrende Phänomene. Das verzweifelte Festhalten an der ›alten Welt‹ wirkt letztlich wie ein Katalysator, der die selbstzerstörerischen Prozesse beschleunigt. In seiner Inszenierung für das Große Haus holt Axel Vornam das Tschechow-Universum in die Gegenwart. Er stellt die Figuren in einen zeitlosen Spiel-Raum (Bühne: Tom Musch), in dem sie sich unablässig und selbstverliebt um sich selber drehen – getrieben von der hilflosen Verweigerung, sich der neuen, sich rasant verändernden Welt zu stellen. Das Alte vergeht, so oder so, aber wie soll das Neue Gestalt annehmen?

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