Wozu wir hier sind …

Gemeinsames Projekt mit dem Württembergischen Kammerorchester Heilbronn blickt durch Erik Saties Brille auf die heutige Wirklichkeit (Premiere 25. April)

Heute keine Vorstellung! – französisch: »Relâche« – hieß es 1924 bei der Uraufführung des gleichnamigen Balletts von Francis Picabia, zu dem Erik Satie die Musik komponierte. Trotz der offen ausgesprochenen Ausladung kamen die Zuschauer und sahen, was Picabia und Satie auf die Beine gestellt hatten. Da schlenderte zunächst ein Feuerwehrmann unbefangen über die Bühne, und tanzend trat etwa eine Frau aus dem Zuschauerraum auf, um auf der Bühne eine Zigarette zu rauchen. Zuletzt zeigten sich, in einem kleinen Auto eine Runde drehend, Satie und Picabia auf der Bühne, aus den Autofenstern dem Publikum winkend. Das Publikum nahm das Ganze zunächst mit Irritation auf, dann mit Empörung: »Was soll das alles! Wozu sind wir hier!«, war zu hören; Picabias und Saties Coup war aufgegangen. Worauf sie mit »Relâche« gezielt hatten, war die gemeinsame Situation von Akteuren auf der Bühne und Zuschauern im Saal – ein Augenblick, in dem Öffentlichkeit greifbar wird: Menschen, die dieselbe Wirklichkeit teilen. Das »Wozu sind wir hier?« lässt sich also übertragen und wird somit zur politischen Grundfrage, aber auch zur Grundfrage an die Existenz des einzelnen Menschen. 2014 nimmt das gemeinsame Projekt mit dem Württembergischen Kammerorchester die Spur Saties auf, der das Prinzip der weisen Irritation kultiviert hat wie kein anderer Komponist um 1900. Neben »Relâche« führt das WKO unter der Leitung von Chefdirigent Ruben Gazarian das Symphonische Drama »Socrate« auf. Christian Marten-Molnár realisiert beide Werke szenisch. Es handelt sich dabei um den Versuch, Saties Brille aufzusetzen, um die Situation in der heutigen Wirklichkeit zur Kenntlichkeit zu verzerren. Satie verweigerte das, was man seinerzeit von einem ernstzunehmenden Komponisten erwartete. Eine Musik mit dramaturgischen gestalteten Entwicklungen und eingeschriebenem Ausdruck stellte er grundsätzlich infrage. Er entwickelte eine eigene Ästhetik der Unaufdringlichkeit. Wie Möbel sollte seine Musik sein, sich dezent im Hintergrund halten, nicht mit Spannung, Pathos und Farbe den Hörer überwältigen – vielleicht nicht einmal bewusst auffallen. Im Fall von »Relâche« verbindet Marten-Molnár Saties Musik mit Texten von Sibylle Berg und mit einer pantomimischen Spielform für drei Schauspieler (Ingrid Richter-Wendel, Johannes Bahr und Rolf Rudolf Lütgens). Aus dieser Verbindung entsteht ein Kommentar zum heutigen Menschen, der sich im Widerspruch zwischen seinem persönlichen Lebenstraum und den Zwängen der Wirklichkeit wiederfindet. Zeitdruck plagt ihn allenthalben, genauso wie ein Menschenbild, das nie zu verwirklichen ist, nach dem er sich aber stets streckt. »Socrate«, gesungen von Ksenija Lukic, gilt als eine der atmosphärischsten Kompositionen Saties. Marten-Molnár bearbeitete die zugrunde liegenden Platon-Dialoge über die Person des Sokrates selbst. Sie verhandeln die Sehnsucht des modernen Menschen nach einem Zufluchtsort und nach Überwindung der Angst; und die entsteht letztlich immer angesichts des Unbekannten – des Unbeherrschbaren – des Todes.

Vor jeder Vorstellung von »Relâche« führen SchülerInnen der Musikschule Heilbronn das Klavierstück »Vexations« von Erik Satie im Oberen Foyer auf. Saties Anweisung zum Vortrag dieses Werkes legt nahe, es bei der Aufführung 840 Mal in Folge zu spielen, was zum ersten Mal 1963 durch eine Gruppe von Pianisten um John Cage realisiert wurde.

Johannes Frohnsdorf, Dramaturg

 

Erik Satie in seiner Wohnung. Zeichnung: Erik Satie
Erik Satie in seiner Wohnung.
Zeichnung: Erik Satie

 

TIPP: Am 12. April 2014 um 09:30 Uhr gibt es ein Tweetup zur Bühnen-Orchester-Probe „Relâche – Heute keine Vorstellung“. Seid die ersten, die diese Inszenierung miterleben dürfen und twittert live aus dem Theater Heilbronn.
Anmeldungen unter schroeder@theater-hn.de oder über Twitter @theat_heilbronn
Wer auf Twitter dem Hashtag #relup folgt, wird bereits ab dem 17.03.2014 mit Neuigkeiten versorgt, kann am Veranstaltungstag so den Tweetup verfolgen und sich auch aktiv ins Gespräch einbringen. Wer selbst keinen Twitter-Account besitzt, kann die Tweets über die Twitterwall verfolgen: relup.tweetwally.com

Wir heißen natürlich ebenfalls Blogger und Nutzer von Facebook, Instagram sowie anderen Social-Media-Kanälen, welche über dieses Event berichte möchten, herzlich zur Probe willkommen!

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