Würde man es heute noch einmal genauso machen?

Auftaktveranstaltung der Reihe »Erinnerung ist Liebe zur Zukunft« zieht eine Bilanz von 29 Jahren Deutscher Einheit

Es war eine emotionsgeladene, hochspannende und anregende Diskussion, mit der die Veranstaltungsreihe »Erinnerung ist Liebe zur Zukunft« in der sehr gut besuchten BOXX des Theaters Heilbronn eröffnet wurde. »29 Deutsche Einheit – eine Bilanz«, so lautete der schlichte Titel. Über die Situation in Deutschland, das seit 29 Jahren wiedervereint, aber von einer wirklichen Einheit weit entfernt ist, diskutierten: Dr. Adriana Lettrari, Organisationsberaterin, Publizistin und Mitbegründerin des Netzwerks „3te Generation Ostdeutschland“; Dr. Hans-Joachim Maaz, der Vorsitzende des Instituts für Tiefenpsychologie und psychosoziale Prävention e. V. und Gründer der Hans-Joachim Maaz – Stiftung Beziehungskultur und Heilbronns Intendant Axel Vornam, der durch seine deutsch-deutsche Biographie und seine Arbeit als politisch wirkender Künstler die Umbrüche der deutschen Geschichte aus einer besonderen Perspektive betrachtet. Zwischen Moderation und Diskussion switchte Prof.Dr. Martin Sabrow munter und souverän hin und her, er ist Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam und Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Endlich kommt die Debatte im Westen an

Endlich, sagt Dr. Adriana Lettrari, kommt die Debatte über die Erfolge und Misserfolge des Deutschen Einheitsprozesses auch in Westdeutschland an. Vor fünf Jahren, zum 25. Jahrestag des Mauerfalls, fanden diese Gesprächsrunden fast ausschließlich im Osten statt, der Westen hat sich nicht dafür interessiert. Auch Prof. Dr. Martin Sabrow freut sich, dass das Theater in einer westdeutschen Stadt mit der Reihe »Erinnerung ist Liebe zur Zukunft« auf die Bilanz der letzten 30 Jahre schaut. Und er fragt, warum wir mehr die Einheit, als die Freiheit feiern. Dr. Hans-Joachim Maaz, der von Sabrow als »Experte für ostdeutsche Befindlichkeiten« vorgestellt wurde, nannte den Mauerfall das größte Ereignis seines Lebens. Aber mit der Einheit, mit der sei er nicht zufrieden. Er unterscheidet zwischen der »äußeren Freiheit« der offenen Grenzen und der Reisemöglichkeiten, die ganz klar errungen wurde, und der »inneren Freiheit«, von der man weit entfernt sei. Innere Freiheit bedeute für ihn, dass sich das »Selbst« frei entfalten kann, dass mantun kann, was man will, oder sich aus Einsicht zurückhält. »Wie kann es sein, dass die Meinungsfreiheit vom Mainstream wieder derartig eingeengt wird«, fragt er. Und außerdem: Sich darstellen und immer verkaufen zu müssen, damit kämen viele Menschen aus dem Osten nicht klar.

Nach dem heißen Herbst 89 kam die Ernüchterung

Axel Vornam beschreibt die Zeit zwischen September und November 1989, den heißen Herbst 89, als spannendste Zeit. Er selbst moderierte an seiner damaligen Wirkungsstätte, dem Theater Rudolstadt den »Dialog 89«, in dem die Menschen diskutierten, wie man die DDR zu einem freiheitlichen, demokratischen Staat formen kann. »Zwischen ›Wir sind d a s Volk‹ und ›Wir sind e i n Volk‹ lagen gerade mal sechs Wochen«. Danach sei es mit den demokratischen Reformen auf dem Gebiet der DDR vorbei gewesen. Es sei nur noch um die Einheit gegangen, die dann eher ein Anschluss der DDR wurde, erinnert er sich. Viele Künstler und Intellektuelle hätten sich von dem Augenblick an aus der gesellschaftlichen Debatte zurückgezogen. Prof. Sabrow konstatiert die Enttäuschung, die 1990 auf die Euphorie der friedlichen Revolution folgte, merkt aber auch an, dass die DDR nicht einfach von der alten Bundesrepublik übernommen worden sei, sondern dass ein Großteil der Bürger die D-Mark wollte und nach den gleichen Lebensverhältnissen wie im Westen strebte. Diesem Druck konnten auch die vorsichtigen Politiker aus dem Westen, die den Prozess eher langsam vorantreiben wollten, nichts entgegensetzen.
»Das, was 1989 passiert ist, ist so unendlich überraschend gewesen, niemand hatte ein Szenario dafür«, beschreibt Adriana Lettrari.

Die beiden Koreas lernen von den Fehlern der Deutschen

Die beiden Koreas lernen aus den Fehlern des deutsch-deutschen Zusammenwachsens. Adriana Lettrari ist genauso wie Hans-Joachim Maaz von Mitarbeitern eines Wiedervereinigungsministeriums in Südkorea befragt worden, die den deutschen Einheitsprozess genauestens analysieren und einen Plan für die Zusammenführung der beiden Koreas entwickeln.

Wo liegen die Fehler?

Aus Sicht von Hans-Joachim Maaz besteht der Grundfehler der Deutschen Einheit darin, dass die Ostdeutschen nach der friedlichen Revolution nicht die Macht in ihrem eigenen Land übernommen hätten. »Wir sind übergelaufen.« Es gab keinen Einigungsprozess, keine neue, gemeinsam entwickelte Verfassung. Die Menschen im Osten hätten das vermeintlich bessere Leben des Westens gewählt. Keine der beiden Seiten habe danach gefragt, was vielleicht aus der DDR bewahrenswert gewesen wäre oder was vielleicht am westdeutschen Leben falsch war.

Axel Vornam spricht von einer mehrfachen Enteignung der Ostdeutschen. Sie hätten die Freiheit gewählt und einen Verlust ihrer Arbeitsplätze, eine Aberkennung ihrer Lebensleistung und einen Elitenaustausch erfahren, der bis heute nachwirkt. »Die Frustrationen im Osten ist kein Ergebnis der DDR, sondern sie resultieren aus den zum Teil bitteren Erfahrungen danach.«

»Wie kann es sein, dass nur 1,7 Prozent der Führungspositionen in Deutschland mit Ostdeutschen besetzt sind«, fragt Lettrari. Jetzt sei es an der Zeit, dass ihre Generation der Nachwendekinder mit den Erfahrungen beider Systeme an die Reihe komme, in Führungspositionen aufzusteigen, um wieder ein gesellschaftliches Gleichgewicht herzustellen. Und sie ergänzt: Mit den Erfahrungen von heute: Würde man das heute noch einmal genauso machen? Gibt es vielleicht auch so etwas wie eine Scham der Westdeutschen über die Versäumnisse des Einigungsprozesses?

»Scham? Nein!«, sagt Sabrow. »Sorgen? Sehr wohl!« Er kritisiert das sich Einrichten in den deutsch-deutschen Befindlichkeiten, vermisst die Einordnung der Ereignisse von 1989/90 in die globalen Zusammenhänge. Er ist sehr stolz auf das Institut, das er leitet und beschreibt: »Wir haben uns sehr lange unsere Biografien erzählt. Viele meiner Mitarbeiter sind ost-westdeutsche Hybridwesen.«

Auf dem Podium in der BOXX: Axel Vornam, Dr. Adriana Lettrari, Prof. Dr. Martin Sabrow. Dr. Hans-Joachim Maaz (vl.nr.)

Den Osten nicht in die rechte Ecke stellen

»Aber sind all diese Versäumnisse ein Grund, dass man rechtsradikal wählt?«, zeigt Sabrow sein Unverständnis für die Stärke der AfD in Ostdeutschland.
Maaz betont, dass viele AfD-Wähler einzig und allein, um den größtmöglichen Protest zu äußern und den etablierten Parteien den schmerzhaftesten Denkzettel zu erteilen, so und nicht anders abstimmten. Die wenigsten von ihnen hätten eine rechtsradikale Gesinnung. Er sieht eine große Gefahr darin, den Osten in die braune Ecke zu stellen. Stattdessen solle man lieber nachfragen, wo die Ursachen für dieses Verhalten lägen. Aber damit müsse man die gesamte deutsche Entwicklung der letzten 30 Jahre hinterfragen – in Ost- wie in Westdeutschland.
Adriana Lettrari konstatiert die massenhafte Abwanderung der gut ausgebildeten Nachwendekinder, die ein politisches Gegengewicht bilden könnten, in den Westen. Im Übrigen hätten von den 34 000 AfD-Mitgliedern 27 000 Frauen und Männer und 90 Prozent des Führungspersonals eine westdeutsche Biografie.
Vornam glaubt, dass die Hoffnungen, die der Osten gegenüber der Demokratie und den Versprechungen der Politik gehegt habe, nicht aufgegangen seien. »Diese Hoffnung war in gewisser Weise naiv.« 

Stimmen aus dem Publikum

Richtig heiß her ging es, als das Publikum in die Diskussion einbezogen wurde – hier einige Stimmen:

Sind die Menschen im Osten und zunehmend auch die im Westen vielleicht irritiert von den Auswüchsen des Kapitalismus?

Eigentlich hat man im Osten ja gelernt, wie der Kapitalismus funktioniert. Aber das haben die Menschen so schnell vergessen. Antikapitalismus und Antifaschismus – beides wurde sehr schnell über Bord geworfen.

Es gibt nicht d e n Osten und d e n Westen. Die Biografien in beiden Teilen Deutschlands sind sehr unterschiedlich!

Ich habe hier aus dem Westen mit großer Spannung auf die Ereignisse in Ostdeutschland geschaut und gehofft, dass man sich dort einen eigenen, freien Staat schafft.

Und so weiter und so fort …

Moderator Prof. Dr. Martin Sabrow konnte nur konstatieren: »Wir merken angesichts der heftigen Diskussionen: Es geht um was! Das Thema lässt niemanden kalt.« 
Aber wo sonst als im Theater gibt es die Möglichkeit, sich mit Gründlichkeit dieser Thematik anzunehmen und in den Dialog zu treten, der so überfällig ist.

Geredet wurde auch im Anschluss an die Podiumsdiskussion lange und ausführlich. Die nächste Gelegenheit zur Fortführung des Dialogs gibt es am 4. November im Kinostar Arthaus-Kino. Hier läuft der Grimme-Preis-gekrönte Film: »Novembertage – Stimmen und Wege« von Marcel Ophüls. Im Anschluss findet ein Publikumsgespräch mit dem Filmpublizisten Ralph Eue statt.

Countdown für ein neues Festival

Was und wie erzählt Theater über Wissenschaft? Wie nutzt Wissenschaft die Mittel des Theaters zur Wissensvermittlung? In einem neuartigen Festival erforschen die experimenta und das Theater Heilbronn ihre gemeinsamen Schnittstellen und präsentieren sechs ungewöhnliche, abwechslungsreiche, spannende Gastspiele und Projekte, die sich mit Wissenschaftsgeschichte ebenso beschäftigen wie mit den drängenden Zukunftsfragen. Publikumsgespräche, Talk-Runden mit Experten und – als besonderes Highlight – ein im Rahmen des Festivals ausgeschriebener internationaler Science-Dramenwettbewerb ergänzen das Programm.

Aus 27 eingeschickten internationalen Theaterstücken hat eine fünfköpfige Jury die drei besten ausgewählt, die nun am letzten Festivaltag in szenischen Lesungen vorgestellt werden. Ob nun Christina Ketterings gar nicht so ferne Zukunftsvision »Schwarze Schwäne« (D), Stef Smiths Thriller »Girl in the Machine« (GB) oder Charles Ways philosophisches Spiel »Endstation Leben« (GB) in der nächsten Spielzeit im Science Dome inszeniert werden wird, entscheidet auch das Publikum am 9. November ab 15 Uhr mit.

»Kafka in Wonderland« (Foto: Krischan Ahlborn)

Den Auftakt im spektakulären Science Dome der experimenta macht aber schon am Mittwoch, 6. November, um 20 Uhr, das deutsch israelische Künstlerduo half past selber schuld, alias Ilanit Magarshak-Riegg und Sir ladybug beetle. Mit Musik und Tanz, Animationsfilm und Figurentheater schaffen sie überbordende »Bühnencomics« und nehmen in »Kafka in Wonderland« die Zukunft ins Visier: Dort wirbt die Firma Wonderland inc. für endloses Leben und bietet den Upload des Bewusstseins in die Wonderland-Cloud an – vollauflösend und in bester Qualität. Doch der verheißene Fortschritt birgt einige tiefe Abgründe … Eine zweite Vorstellung im Science Dome findet am 7. November um 20 Uhr statt.

Am selben Ort reist das Brachland Ensemble am Samstag, 9. November, um 14 und 18 Uhr, in das Innere des Gehirns des informationsüberforderten Brian, wo Brain, eine Art Arbeiter zwischen den Synapsen, Brians Geistesblitz hinterherjagt. »The Curiosity of Brain« mischt lustvoll fantasievolle Hirnforschung, Physical Theatre und Animationsfilm.

»The Curiosity of Brain« (Foto: Brachland Ensemble)

Mit dem Theater an der Parkaue aus Berlin gastiert eines der renommiertesten Kinder- und Jugendtheater Deutschlands in der BOXX. Das preisgekrönte Stück »In dir schläft ein Tier« (ab 9 Jahren) von Oliver Schmaering erzählt vom Kampf der Mediziner Ehrlich und von Behring gegen die Diphterie und hat durch die Diskussion über die Impfpflicht eine zusätzliche Aktualität erhalten. Die beiden Vorstellungen (auch für Schulen geeignet) finden am Donnerstag, 7. November, um 11 und 18 Uhr in der BOXX statt.

»In dir schläft ein Tier« (Foto: Christian Brachwitz)

Das sind nur drei Beispiele aus einem dichten Programm. Das Théâtre Nouvelle Génération aus Lyon fragt in ihrer Installation »Artefact«: Kann es Theater ohne Menschen geben? »Dr. Wahn« erklärt seine all-umfassende Theorie der Welt. Und die Gruppe Meinhardt & Krauss aus Stuttgart erzählt in »ELIZA uncanny love« eine ganz neue Variante der »Pygmalion«-Geschichte – mit Robotik. In Publikumsgesprächen und den Talk-Runden »Geht es auch ohne Helden?« und »Müssen wir Angst vor der Zukunft haben?« gibt es die Möglichkeit, sich mit den Künstlern und namhaften Experten auszutauschen.

Das komplette Festivalprogramm finden Sie auf unserer Homepage.

Vorurteile aufbrechen und Geschichte(n) verstehen

Ein Gespräch mit Dr. Mirjam Meuser über »Erinnerung ist Liebe zur Zukunft«

Aus Anlass des 30. Jahrestages des Mauerfalls widmet sich das Theater Heilbronn in einer ganzen Veranstaltungsreihe dem Thema Deutsche Einheit. Unter dem Titel »Erinnerung ist Liebe zur Zukunft« finden monatliche Lesungen, Gesprächsrunden und Filmabende in Kooperation mit dem Kinostar Arthaus-Kino statt. Inhalt aller Veranstaltungen ist es, gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungen aus ihrem historischen Kontext heraus zu untersuchen. Kuratorin der Reihe ist Dr. Mirjam Meuser, Dramaturgin am Theater Heilbronn. Pressereferentin Silke Zschäckel hat sich mit ihr unterhalten.

Dr. Mirjam Meuser (Foto: Thomas Braun)

S.Z.: »Erinnerung ist Liebe zur Zukunft« – ein sehr schöner, sehr poetischer Titel: Woher kommt er?

M.M.: Eigentlich ist das der Titel eines Heiner-Müller-Interviews, nur leicht abgewandelt. Der Titel heißt ursprünglich »Nekrophilie ist Liebe zur Zukunft«. Die Liebe zu den Toten, das Ausgraben der Toten – das ist die Liebe zur Zukunft. Das ist ein Zentralmotiv im ganzen Müller’schen Werk. Ich habe das umgewandelt in »Erinnerung ist Liebe zur Zukunft«, damit es nicht ganz so morbid klingt. Und zum anderen gibt es in der Geschichtswissenschaft das Teilgebiet der Erinnerungsforschung, und darauf wollte ich mich beziehen.

S.Z.: Woher rührt dein Interesse für dieses Thema – die Beschäftigung mit der deutsch-deutschen, insbesondere auch mit der ostdeutschen Geschichte, obwohl du aus Bayern stammst?

M.M.: Zunächst mal liegt das an meinem grundsätzlichen Interesse für Geschichte. Und dann ist es eine Geschichte, mit der ich unmittelbar konfrontiert worden bin, weil ich während meines Studiums in Berlin sehr viele Menschen aus Ostdeutschland kennengelernt habe, unter anderem meinen Doktorvater. Der brachte mir Heiner Müller nahe, und damit war es unweigerlich verbunden, dass ich anfing, mich mit der ostdeutschen und der deutsch-deutschen Geschichte zu beschäftigen. Ich lernte einen ganz anderen Blick auf die historische Vergangenheit kennen, als ich ihn in der Schule erlebt habe oder als im Westen Geschichte reflektiert wurde. Da wurde die ganze Historie des Sozialismus ausgespart, die gab es nicht – oder eben erst ab 1989. In bin in meinem Literaturstudium komischerweise immer wieder bei den ostdeutschen Professoren gelandet, ohne dass ich vorher wusste, dass sie aus der ehemaligen DDR kommen. Und bei den Philosophen, die ich aus Ostdeutschland kennengelernt habe, spielte das Lehren von Zusammenhängen eine größere Rolle als beim Studium im Westen, wo das Vertiefen in einzelne Positionen und Autoren wichtig war, weniger das Woher und das Wohin.

S.Z.: Nach welchen Aspekten hast du die Reihe konzipiert? Welche Themen wolltest du unbedingt drin haben?

M.M.: Ich habe die Reihe nicht allein konzipiert. Das war eine Gemeinschaftsarbeit, da sind Ideen vom gesamten Leitungsteam dabei. Wir haben versucht,  verschiedene Themenschwerpunkte zu setzen. Es war klar, dass es eine Auftaktveranstaltung geben soll, in der wir die letzten 30 Jahre noch mal untersuchen. Eine Veranstaltung zum Wirken der Treuhand  war Axel Vornam und Uta Koschel, die auch mitgedacht hat, sehr wichtig. Für mich persönlich ist auch die Geopolitik-Veranstaltung von Belang, weil ich möchte, dass wir das Thema in einen größeren globalen Kontext stellen. Denn mit 1989/90 ist nicht nur die DDR verschwunden, sondern auch die alte BRD. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks hat ein massiver weltweiter Veränderungsprozess begonnen. Das kommt erst jetzt so langsam im gesellschaftlichen Bewusstsein an. Und dann war mir auch wichtig, die Vorgeschichte der friedlichen Revolution anzuschauen. Die kam ja nicht aus dem nichts. Welche Entwicklungen haben eigentlich dazu geführt, dass am Ende die Mauer aufging?

S.Z.: Hast du eine Veranstaltung, auf die du dich ganz besonders freust?

M.M.: Ich freu mich auf die erste, weil ich auf die unterschiedlichen Sichtweisen sehr gespannt bin. Wir haben eine Frau auf dem Podium, Adriana Lettrari, Gründerin des »Netzwerks 3te Generation Ostdeutschland«, die inzwischen in der Wirtschaftsberatung tätig ist, außerdem den Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz und den Theatermann Axel Vornam, die von Martin Sabrow, einem sehr profilierten Historiker befragt werden. Ich glaube, das kann sehr spannend werden. Ich freue mich auch sehr auf die Treuhand-Veranstaltung, ein Thema, bei dem, glaube ich, noch viel Aufarbeitung notwendig ist. Auch da bin ich gespannt auf das Podium. Wir haben den investigativen Journalisten Dirk Laabs eingeladen, außerdem Marcus Böick, einen jungen Historiker, der mit seiner Dissertation die erste historische Aufarbeitung der Geschichte der Treuhand geschrieben hat. Und für die Moderation kommt André Steiner, ein renommierter Wirtschaftshistoriker, der sowohl die Geschichte der DDR als auch der BRD kennt.

S.Z.: War es schwierig, die sehr hochkarätigen Gäste von dem Konzept zu überzeugen oder haben gleich alle gesagt: Wir sind dabei?

M.M.: Ich habe sehr oft die Erfahrung gemacht, dass die Leute das Konzept gut finden und dass sie deshalb auch gerne kommen.

S.Z.: Was erhoffst du dir von dieser Reihe? Sowohl von den einzelnen Abenden als auch als Quintessenz am Ende?

M.M.: Von den Abenden erhoffe ich mir spannende Diskussionen, von denen ich mir wünsche, dass sich das Publikum miteinbeziehen lässt. Ich hoffe auf einen Dialog, einen Austausch – letztlich auch zwischen Ost und West, um die vielen Vorurteile, die es doch noch gibt, aufzubrechen und einander besser verstehen zu lernen. Es wäre schön, wenn es gelingen würde, die subjektiven Sichten und die historischen Zusammenhänge besser miteinander ins Verhältnis zu setzen. Das wäre mir ganz wichtig.

Hier geht es zum Programm der Reihe: https://www.theater-heilbronn.de/programm/erinnerung/erinnerung.php

Wie aus Heilbronner Lebensgeschichten Theater wird

»Man braucht gar nicht vor ein Publikum zu treten, wenn man nicht bereit ist, etwas von seiner Lebenserfahrung, seinen Gefühlen, seinen Meinungen und seiner Fantasie Preis zu geben.« Ivan

Eine Szene aus den Proben.

Im Generationenclub treffen Welten aufeinander, jung, alt, Ost, West, verwurzelt, zugezogen, Nord, Süd, nah und fern. Alle Spieler bringen ihre Lebensgeschichten und -erfahrungen mit, aus denen ein eigenes Stück entsteht.

In diesem Jahr ist die Stückentwicklung »Das Gewebe der Gegenwart braucht rote Fäden« entstanden. Orientiert am Spielzeitmotto SINNSUCHER_NoLimits haben sich die Spieler auf die Suche gemacht nach dem, was dem Leben einen Sinn gibt. Geschichten, Erfahrungen, Lebensfäden werden immer wieder verknüpft, beschreibt Andrea die Entstehung des Stückes.

Ob es Geschichten aus ihrer Kindheit in einer anderen fernen Heimat sind, Geschichten vom Ankommen, Geschichten vom Altsein, vom Jungsein. Manche Geschichten erzählen über Krieg, der sich vor über siebzig in das Leben der Menschen einschrieb, als die Erzählenden noch Kinder waren. Jetzt wird er mit den Erfahrungen junger Menschen von heute in Verbindung gebracht. Parallelen zu den Erzählungen Geflüchteter, die heute in Deutschland Schutz suchen, werden offenbar. So laufen hier jeden Mittwoch Geschichten aus vielen Ländern und Kulturen, unterschiedlicher Generationen zusammen und werden im Spiel verwoben. 

Aus den Proben.

Egal ob die Spieler seit der ersten Stunde des Generationenclubs vor sechs Jahren wie Ivan, Bruni, Beate,  Edi, Andrea und Barbara dabei oder erst in den letzten Monaten hinzugekommen sind wie Stefan, Sebastian, Alara und Sam, sie alle finden im wöchentlichen Training zueinander. In der Arbeit – mit Clubleiterin Evelyn Döbler – am eigenen Stück lernen sie alle viel über sich und die anderen und erfahren, wie aus einer willkürlichen Gruppe eine Gemeinschaft wachsen kann. Dank des Clubs, sagt Andrea, habe sie gelernt, zu sehen welches Potential in ihr selbst und auch den anderen schlummert.

Es ist die Freude, die Gemeinschaft, das gemeinsame Nachdenken, das Spielen, das Lachen, die Verbindung mit den anderen, das voneinander Lernen, was die Clubber antreibt, sich jeden Mittwoch zu treffen. Es ist das Zuhören, das Gehörtwerden, das ihnen Kraft, Hoffnung, Stärke gibt einen Platz zu finden, im Club, in der Gruppe, aber auch den eigenen Platz in der Gesellschaft besser auszuloten.  Das alles übertragen sie in ihre Stücke.

Wie Achtsam bin ich gegenüber anderen? Wie gehen wir miteinander um? Wo ist mein Platz in dieser Gesellschaft? Was können wir voneinander lernen? Was verbindet uns? Was trennt uns? Was gibt uns Halt? Wonach suchen wir im Leben? Das sind die Fragen denen sie sich gestellt haben. Jede Woche treten sie miteinander neu in Kontakt. Begegnen sich freundschaftlich mit Vertrauen, Verständnis und ihren Texten, die sie im Spiel zusammenbringen. Beharrlich und mit großem Einfühlungsvermögen für jeden einzelnen treibt Clubleiterin Evelyn Döbler die Gruppe voran. Mit Disziplin, Kraft und Kreativität suchen sie nach dem Verbindenden im Club und in der Gesellschaft. So wird der Club für sie zu einem Ort des Ankommens, der Erdung, der Einbettung im Hier und Jetzt, in Heilbronn. Ihr Stück ist der Wunsch, etwas davon hinauszutragen, von diesem Gefühl der Gemeinschaft und den Geschichten, die in ihr entstehen können.

»Das Gewebe der Gegenwart hat rote Fäden« seht Ihr am 12. Oktober um 18.00 Uhr und am 13. Oktober um 15.00 Uhr in der BOXX.