Aus Eisen erwächst ein Baum

Harper Regan ist das Psychogramm einer Frau, die ausbricht um zurückzukehren, so beschreibt Claudia Ihlefeld von der Heilbronner Stimme das Drama von Simon Stephens. Es ist die Geschichte einer durchschnittlichen Frau, Anfang 40, die als Hauptverdienerin ihre Familie ernährt. Harper hat gelernt, zu funktionieren und allen Anforderungen in Job und Familie gerecht zu werden. Dabei hat sie ihre eigenen Bedürfnisse aus dem Blick verloren. Aus dieser Welt entflieht Harper für zwei Tage.

Auch das Bühnenbild der Inszenierung spiegelt die Tristesse von Harper Regans Leben wider. Bis zur Schlussszene wird die Bühne von einem grauen Betonkubus bestimmt, vor den sich die Stationen dieser zwei Tage schieben: die Küche der Regans, der Flur des Krankenhauses, in dem Harpers Vater starb oder das Hotelzimmer, in dem sie einen ihr völlig Fremden datet. Die Bühne erschafft ein Abbild von Harpers Einsamkeit und den Verkrustungen ihrer Seele.

Die Küche der Regans.


Erst als Harper von ihrer »Flucht« heimkehrt, ändert sich dieses Bild. Der Kubus öffnet sich für die Schlussszene. In seinem Inneren kommt ein unwirklich wirkendes Vorort-Paradies zum Vorschein. Es ist ein kitschiges Gartenidyll, das von einem riesigen, hyperrealistisch erscheinenden Apfelbaum dominiert wird, unter ihm der gedeckte Frühstückstisch der Regans, die Vögel zwitschern, das Sonnenlicht bricht durch die Blätter. Die Idylle, in die Harper heimkehrt, ist zu perfekt.

Die Vorstadtidylle trügt.

Für Ausstatter Tom Musch und Regisseurin Uta Koschel war früh klar, dass es kein beliebiger Garten sein konnte, ein großes Bild musste her. Bei den Überlegungen wie dieser Garten aussehen könnte, kamen bald das Bild des Paradiesgartens auf, und von diesem Punkt an war der Apfelbaum für die Schlussszene gesetzt, wie Tom Musch berichtet.

Doch woher bekommt man einen solchen Baum?

Nun standen die Theaterwerkstätten vor der Aufgabe, einen Apfelbaum zu erschaffen. Schlosserei und Malersaal unterstützt von der Dekorationsabteilung und Schreinerei arbeiteten gemeinsam über Wochen an der Entstehung des Baumes. Es entstanden erste Skizzen im Malersaal wie der Baum aufgebaut sein kann. Die Größe von 6 x 6 Metern wurde festgelegt. Fragen zum Umfang und zur Üppigkeit der Baumkrone, sogar wie viele Äpfel darin hängen sollen, wurden geklärt. Die wichtigsten Punkte der Vorüberlegungen waren: wie bekommt der Baum seine Stabilität und wie lässt er sich im Boden verankern? Mit großem Ehrgeiz arbeiteten die Werkstätten sehr eng zusammen an der Umsetzung der Vorgaben, berichtet Tom Musch begeistert. Aus den Skizzen des Malersaals entstanden in der Schlosserei Ideen und Entwürfe für Konstruktion des Baumes. Ein Stahlskelett bildete das Grundgerüst, den Baumstamm. Verstärkt wurde er durch ein Stahlrohr im Podest, das ihm Stabilität gibt. Aus diesem Stamm erwuchsen über ca. vier Wochen die Äste aus Eisen, die für die weitere Bearbeitung abnehmbar blieben. Von Woche zu Woche wurden die Schweißarbeiten immer filigraner, bis hin zu 4 mm dünnen Drähten an denen später die Blätter befestigt werden solletn. Ein echter Ast auf der Werkbank diente dem Schlosser als Vorbild.

Danach ging es für den Stahlbaum in den Malersaal. Hier wurden die Rinde und Blätter angebracht, dass der Baum ein natürliches Aussehen erhielt. Auf das Stahlgerüst des Baumstamms und die starken Äste wurde zuvor in der Schreinerei Holz aufgebracht, um den Drahtrupfen – ein grober Netzstoff, der sich dank des darin verarbeiteten Drahtes in jede Form bringen lässt – befestigen zu können. Darüber legten die Plastiker eine Stoffkaschur aus Nesselstoff, auf die weitere Kaschiermasse aufgetragen wurde, um dem Baum eine realistische Rindenoberfläche zu geben. Nachdem alle Äste kaschiert waren, wurden sie mit Farbe in eine echt erscheinende Borke verwandelt. Dann fehlten nur noch die Blätter und Äpfel. Diese wurden alle einzeln mit einem Drahtringtacker an den kleinen Ästen befestigt. Am Ende stand ein paradiesisch schöner Apfelbaum, der seinen Weg auf die Bühne fand.

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Dort lässt er jetzt im Schlussbild der Inszenierung die Hoffnung aufscheinen, dass sich die Welt der Familie Regan verändern könnte. Er gibt der Entwicklung des großen Traums von Seth Regan wie eine mögliche Zukunft aussehen könnte, ein Bild, das dem Nullpunkt an dem sich die Figuren in dieser Szene befinden, gegenüber steht.

Dieser enorme, vor Grün und Äpfeln strotzende Baum überspitzt die Vorstadtidylle. Er offenbart die Irrealität des erträumten Happy Ends. Harpers Reise endet wo sie begann, in ihrem Leben vor diesen zwei Tagen, in dem alles gleich scheint und doch nichts mehr ist wie es war. Ob Harpers Ausbruch Veränderung bringt, bleibt offen.

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