»Gott wartet an der Haltestelle« – ein Interview mit Maya Arad Yasur

Interview und Übersetzung von Dr. Mirjam Meuser
Tel Aviv, 08. Januar 2024

Foto © Candy Welz

Wann ist »Gott wartet an der Haltestelle« entstanden?

Ich habe »Gott wartet an der Haltestelle« 2013/14 geschrieben, direkt nach meiner Rückkehr aus den Niederlanden, wo ich sieben Jahre gelebt hatte. Die Premiere der Uraufführung fand 2014 am Habima Theater Tel Aviv statt, dem israelischen Nationaltheater – direkt nach dem Gaza-Krieg von 2014.

Hast Du das Stück mit einer bestimmten Intention geschrieben?

Es war ein Auftragswerk. Das Habima Theater war damals Mitglied der Union des Théâtres de l’Europe (UTE), die ein Projekt zum Thema »Terrorisms« initiiert hatte, an dem sich alle sechs Mitgliedstheater weltweit beteiligten: das Habima in Tel Aviv, ein Theater aus Reims in Frankreich, das National Theatre in Oslo, ein Theater aus Belgrad. Zu Beginn war sogar ein Theater aus Palästina Teil des Projekts, doch nach Druck aus dem BDS-Umfeld zog sich der Autor dort von dem Projekt zurück. Die Ausschreibung war offen und wir waren sehr frei in unserer Herangehensweise. So beschloss ich, über die zweite Intifada (2000–2005) zu schreiben, die 2002 einen Höhepunkt erreichte. Ich war damals Studentin in Jerusalem, wo etwa dreimal wöchentlich Bomben in Bussen und Restaurants explodierten. Ich lebte im Stadtzentrum und hörte all die Detonationen der großen Anschläge und die Sirenen der Krankenwagen. Glücklicherweise war ich selbst nie betroffen, aber die Angst davor war sehr groß. Ich nahm niemals den Bus, stattdessen fuhren wir im Taxi zur Universität. Wir waren in unseren Zwanzigern, und natürlich gingen wir in Cafés und Bars – allerdings immer verbunden mit dem Risiko, nicht mehr nach Hause zu kommen. Als ich also den Auftrag bekam, über »Terrorismus« zu schreiben, wusste ich, dass ich mich mit dieser Zeit befassen wollte, da ich aus persönlicher Erfahrung genau weiß, was Terrorismus bedeutet. Ich denke, dass nicht nur die direkten Opfer, die bei einem Anschlag ums Leben kommen, oder deren Familien Opfer des Terrorismus sind, sondern dass es eine Art kollektives Opfertum gibt, weil es der Sinn des Terrorismus ist, dass die Menschen in Furcht davor leben, was passieren könnte. Das ist zwar nicht das Hauptthema des Stücks, aber es ist das, wofür der Chor in »Gott wartet an der Haltestelle« steht.

Gab es ein bestimmtes Ereignis, das Dich auf Thema und Struktur des Textes gebracht hat?

Es gab 2003 in Haifa einen ganz bestimmten terroristischen Anschlag in einem Restaurant mit Namen »Maxim«, auf den ich mich beziehe, auch wenn ich kein Dokumentartheaterstück über dieses Ereignis geschrieben habe. Ich habe mich stark auf dieses Attentat gestützt, obwohl ich auch zusätzliches Material von anderen Terroranschlägen verwendet habe, um einen nuancierten Blick auf alle Aspekte des Themas zu erhalten. Das Attentat in Haifa war aber der zentrale Ausgangspunkt.

Warum hast Du diese spezifische Form für den Text gewählt?

Wahrscheinlich beziehst Du Dich mit der Frage auf die Tatsache, dass wir von der ersten Szene an um die Explosion der Bombe wissen und dann in der Zeit zurückwandern, um herauszufinden, wie wir an diesen Punkt gelangt sind. Auf diese Weise wollte ich den Mechanismus von Hass, Rache and Gewalt in seine Einzelteile zerlegen. Ich wollte herausfinden, wie man diesen fatalen Kreislauf neutralisieren kann. Dafür brauchte ich zunächst die Annahme, dass die Tat geschehen ist, um danach sorgfältig alle Schichten abtragen und an jeder Abzweigung untersuchen zu können, was die Rädchen in dem Mechanismus antreibt. Wie könnte man ihn aufhalten, wer hätte eine andere Entscheidung treffen können?

Wie wurde das Stück in Israel aufgenommen?

Das Habima Theater in Israel hat das Stück sehr wohlwollend aufgenommen, sowohl das Publikum als auch die Kritiker. Es war damals nicht üblich – und ist es heute noch viel weniger –, dass sich Theaterautoren direkt mit diesem Thema auseinandersetzen. Es war die Zeit, in der die Art von Regierung, die wir heute haben, an die Macht kam. In Israel spielen wir mindestens 30 Aufführungen – das ist bei uns sehr wenig –, und diese Inszenierung wurde sehr schnell vom Spielplan genommen, nach etwa 30 Aufführungen, und das nicht, weil das Publikum nicht gekommen wäre. Das Theater war voll. Erst Jahre später, anlässlich einer Konferenz über Zensur und Theater – denn damals traute ich mich nicht zu fragen –, habe ich herausgefunden, dass das Stück aus politischen Gründen vom Spielplan genommen wurde.

Die Fabel des Stücks erinnert mich immer an eine griechische Tragödie – »Antigone« oder »Elektra« beispielsweise …

Ich bin mir nicht sicher, was Du mit »tragisch« meinst, da man sich damit auf eine ganze Reihe von Dingen beziehen kann. Aber ich würde mich auf Tragödie vielleicht im Sinne Hegels beziehen. Die Hauptfigur versucht etwas Berechtigtes zu tun und verletzt dabei ein anderes berechtigtes Gesetz oder einen Wert. In diesem Sinn, denke ich, dass jeder nationale oder religiöse Konflikt, der mit zwei Gruppen von Identitäten gleich welcher Art zu tun hat, tragisch sein muss. Denn sobald Individuen ihre nationale oder religiöse Funktion ausagieren, müssen sie etwas verletzen, das zu einer darunterliegenden Schicht gehört. Ich glaube, was ich in meinen Stücken immer zu tun versuche, ist, die Schichten der Identität abzutragen, bis ich den Kern des Menschlichen erreiche. In diesem Sinne versuche ich in allen meinen Stücken die Kräfte und Werte der Zugehörigkeit aufzusuchen, die sich gegenseitig widersprechen. Yael in »Gott wartet an der Haltestelle« beispielsweise ist ein Mensch, sie ist eine Frau und sie ist Israelin, sie besitzt also drei Schichten von Gruppenzugehörigkeit. Was sie mit Amal verbindet ist, dass beide Menschen sind und dass beide Frauen sind; was sie trennt, ist, dass Yael eine Israelin ist und Amal eine Palästinenserin. Wenn Yael am Checkpoint steht, muss sie sich also entscheiden, welche Loyalität mit Blick auf die Gruppenzugehörigkeit stärker ist. Sie entscheidet sich für das Mensch-Sein und für das Geschlecht. Dadurch fühlt sie sich mit Amal verbunden. Dann stelle ich diese Entscheidung in Frage, weil sie einen Fehler gemacht hat – und das ist das Tragische daran.

Können wir von der Tragödie heute mit Blick auf politische Konflikte etwas lernen?

Eines der größten Probleme unserer Zeit ist der binäre Diskurs. Man muss sich im Diskurs für eine Seite entscheiden und sobald man sich für eine Seite entschieden hat, hat man sich für eine ganze Reihe weiterer Meinungen mitentschieden, da man nun einer bestimmten ideologischen Gruppe angehört. Das Ergebnis ist ein sehr flacher Diskurs. Und dann passiert, was wir gerade gesehen haben, nämlich dass die Leute einfach »From the River to the Sea« schreien, ohne zu wissen, welchen Fluss und welches Meer sie meinen und welche Konsequenzen ihre Forderung haben würde. Und dass diese Konsequenzen eigentlich ihren humanistischen Werten, den Menschenrechten widersprechen. So wird gegen das eine Töten mit dem Ruf nach einem anderen Töten protestiert, ohne dass sich die Menschen dessen bewusst sind. Es scheint fast, als wären die Menschen nicht mehr im Besitz ihrer eigenen Meinung. Vielleicht sind das nicht die aktuellen politischen Konflikte, nach denen Du gefragt hast, sondern eher die sozialen Herausforderungen, denen wir aktuell gegenüberstehen. Die Oberflächlichkeit des Diskurses ist eine sehr ernste Herausforderung für das Theater und die Kunst im Allgemeinen. Aber besonders das Theater kann diese Minenfelder analysieren und in ihre Einzelteile zerlegen. Es könnte unsere Rolle in der Öffentlichkeit sein, auf die Nuancen, die Ambivalenzen der Konflikte hinzuweisen, und das Erreichen größerer menschlicher Wahrheiten anzustreben.

Wie denkst Du heute über das Stück?

Du weißt ja, dass wir in der zweiten Woche nach dem Massaker vom 7. Oktober Kontakt aufgenommen haben und ich sehr traumatisiert war – wie jeder in Israel. Und dass ich damals dachte, dass es nicht möglich sei, das Stück so aufzuführen, wie es ist. Interessanterweise habt Ihr nicht gleich verstanden, warum. Und das zeigt nur, was ein Trauma mit einer Person macht: Innerlich bricht alles zusammen, das Weltbild eingeschlossen. Zunächst einmal dachte ich, dass es ein sehr schwieriger Zeitpunkt ist, das Stück aufzuführen. Zudem wäre es für mich ein großes Problem, wenn Amal vom deutschen Publikum in einen Zusammenhang mit den Terroristen gebracht würde, die das Massaker verübt haben. Ich würde heute kein Stück schreiben, das nach dem Menschlichen in der unmenschlichen Tat vom 7. Oktober sucht. Wenn ich das täte, würde ich lügen. Es ist sehr wichtig für mich, zumindest zu glauben, dass ich nach Wahrheiten suche. In diesem Fall würde es sich wie eine Lüge anfühlen, überhaupt nach einem menschlichen Aspekt bei diesen Leuten zu suchen. Inzwischen ist Zeit vergangen. Und nach dem langen Dialog, den wir geführt haben, bin ich sehr neugierig, wie wir das in der Inszenierung transparent machen können. Im Moment aber ist es für mich noch zu früh, Deine Frage zu beantworten. Dadurch, dass mehr Zeit vergangen ist und auch angesichts der furchtbar vielen Opfer im Gazastreifen – was für eine ungeheure Zahl von Menschen –, wird es drängender für mich, darüber zu sprechen. Und ich realisiere, wie wichtig es ist, wieder über den Kreislauf der Gewalt zu sprechen und darüber, wie wir ihn stoppen können.

Wann hast Du die»17 Schritte« geschrieben? Worum ging es Dir dabei?

Ich habe die »17 Schritte« etwa sieben oder zehn Tage nach dem Anschlag geschrieben – ich weiß nicht ganz genau wann, da mir das Zeitgefühl in den ersten Wochen nach dem 7. Oktober vollkommen verloren gegangen ist. Wir waren sehr an unsere Häuser und an die Kinder gebunden, mussten einige Male am Tag zum Schutzraum rennen. Es gab nicht wirklich Zeit zum Nachdenken. Das ist tatsächlich eine Frage, die mir oft gestellt wird: Wie konnte ich mich dazu bringen, mich hinzusetzen und zu schreiben? Fakt ist ja, dass ich Dir sehr schnell geschrieben habe, um zu fragen, was wir tun, weil »Gott wartet an der Haltestelle« in diesem Moment vielleicht nicht das richtige Stück sein könnte. Ich hatte das gleiche Problem mit meinem Stück »Bomb«, das hier in Israel im Juni Premiere haben sollte. Ich dachte, dass es nicht möglich wäre, im nächsten Juni hier über Bombardements aus der Luft und deren Konsequenzen zu diskutieren, weil für lange Zeit niemand etwas darüber hören wollen würde. Anhand der Tatsache, dass ich gerade nicht mehr hinter meinen alten Stücken stehe, habe ich aber auch gemerkt, dass mit mir etwas passiert ist. Wie kann ein Ereignis eine Weltsicht so dramatisch verändern? So habe ich begriffen, dass das ein Trauma ist. Und um mich meiner selbst zu erinnern, habe ich den Text geschrieben, weil ich weiß, dass meine Stücke genau danach suchen, nach dem Menschlichen, dem Humanistischen, danach, alle Menschen als Menschen zu sehen. Ich habe mich selbst gefragt: »Wie bleibst Du Humanistin nach einem Massaker?«
Meine Stücke sind meine Art mit einem Publikum zu kommunizieren. Und dann ist die Frage, wer ist das Publikum. In diesem Fall war das Publikum in erster Linie ich selbst, an zweiter Stelle die Menschen hier in Israel, die im Moment überhaupt nicht in der Lage sind, über die andere Seite nachzudenken, aber auch das westliche und insbesondere das deutsche Publikum. Zuallererst wollte ich den Menschen zu verstehen geben, dass es nicht trivial ist, dass es ein Kampf ist, dass es sehr, sehr schwer ist, menschlich zu bleiben, wenn Du in diesem Kreislauf der Gewalt steckst, und besonders, wenn du in diesem Ausmaß traumatisiert bist.

Gab es eine literarische Gattung, an die Du beim Schreiben gedacht hast?

Ich hatte gar nichts im Kopf, als ich den Text schrieb. Ich war wirklich noch nie in so einer geistigen Verfassung. Ich hatte große Angst. Wir wussten nicht, wie es weitergehen würde. Zu diesem Zeitpunkt schien es, als ob das Massaker erst der Anfang wäre, dass es wieder geschehen könnte, dass es auch in Tel Aviv wieder geschehen könnte. Meine Aufgabe war es, meine Kinder davor zu bewahren, zu viel zu wissen, und davor, psychischen Schaden von der Situation zu nehmen. Sie gingen natürlich nicht zur Schule und mir mussten viele Male am Tag zum Schutzraum rennen. Und sie waren – auch wenn ich das nicht wollte – einer ganzen Reihe von Informationen ausgesetzt, von denen Kinder nichts wissen sollten. Es war eine sehr angespannte Situation. Wir schliefen auf dem Boden bei unseren Nachbarn, weil wir keinen Schutzraum zu Hause haben. Dazu die kollektive Trauer und die Sorge um die Geiseln … Es ist fast unmöglich, das Ausmaß der Trauer, Angst und Unsicherheit zu beschreiben. In dieser geistigen Verfassung schrieb ich den Text. Ich weiß nicht mal genau, warum ich ihn geschrieben habe. Ich hatte das dringende Gefühl, ihn schreiben zu müssen. Ich habe ihn in ein paar Stunden geschrieben und später kaum überarbeitet. Er ist, was er ist. Ich finde das sehr interessant. Vielleicht ist das meine Rolle als Dramatikerin: Ich habe die Werkzeuge, Zeugnis abzulegen, nicht retrospektiv, sondern hier und jetzt, aus meiner eigenen subjektiven Erfahrung heraus, die sehr kollektiv ist. Die Identität zwischen dem Kollektiven und dem Persönlichen ist extrem. Ich erinnere mich nicht, so etwas schon einmal erlebt zu haben. Natürlich außer den Menschen, die alles direkt erfahren haben, an die ich den Ruf nach Humanität nicht richte. Nicht die Geiseln, nicht die Familien der Geiseln, nicht die Opfer, nicht die Menschen, die unmittelbar irgendetwas von dem Horror erleiden mussten. Aber als eine Nation, als Volk haben wir etwas sehr Intensives erfahren. Und ich konnte Zeugnis ablegen, ich konnte einen historischen Moment einfangen. Ich schrieb den Text – und das ist wichtig – bevor die Bodenoffensive der israelischen Armee im Gaza-Streifen begann. Zu diesem Zeitpunkt war die Zahl der Opfer im Gaza-Streifen noch gering. Doch mir war klar, dass die Reaktion in diesem Fall sehr groß sein würde, dass es keine kurze Sache, keine kleine Aktion sein würde, weil ich das Trauma sah. Ich dachte, dass ich mich selbst erinnern müsste, dass ich eine Erinnerung haben müsste, und andere ebenfalls erinnern müsste. Als ich den Text schrieb, waren die Theater in Israel noch geschlossen, und daher kam er zuerst auf die deutsche Bühne, bevor er auf der israelischen Bühne gespielt wurde. Letztlich war das eine positive Sache, weil die Menschen noch vor einem Monat nicht in der Lage gewesen wären zu hören, was ich zu sagen habe. Ich denke, dass es immer noch eine Minderheit ist und viele Menschen immer noch Schwierigkeiten haben. Aber graduell, je mehr die Distanz zu den Geschehnissen zunimmt, sind die Menschen mehr dazu in der Lage.

Ich möchte mit einem Satz über die Geiseln enden: Ich denke, solange es Geiseln gibt, Kinder, Babys, alte Menschen, junge Männer, Männer im Allgemeinen, solange es unschuldige Zivilisten in den Tunneln der Hamas gibt, werden die Menschen nicht dazu in der Lage sein, über andere Mütter irgendwo nachzudenken. Es ist nicht möglich, zum Alltag überzugehen, wenn Menschen wie Du und ich in einer solchen Situation sind und wir nicht einmal wissen, was sie durchmachen. Wir wissen nur, dass es furchtbar ist. Ich weiß, dass in anderen Ländern oft die Vorstellung herrscht, dass die Tragödie in Israel am 7. Oktober geschehen ist und dass sie nun vorüber ist. Und dass die Palästinenser in Gaza täglich eine Tragödie erleiden. Für die Israelis sind die Geiseln die Tragödie. Jeder Tag, der vergeht, ohne dass die Geiseln befreit sind, ist ein weiterer Tag des Horrors. Auch für die Menschen, die sie nicht kennen. Es ist nicht so, dass nur die Familien leiden, und alle anderen inzwischen mit ihren Leben weitermachen. Israel ist entsetzt über die Tatsache, dass Zivilisten dort sind. Ich denke, das ist sehr wichtig.

Liebe Maya, vielen Dank für unser Gespräch!

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