Von fliegenden Zähnen und Parallelwelten

Roland Schimmelpfennig schrieb mit »Der Goldene Drache« das »Stück des Jahres 2010«

Der Zahn tut weh. Höllisch weh. Aber weil der kleine Chinese (oder ist es ein Vietnamese oder Thailänder?), der mit vier anderen in der winzigen Küche des Schnellrestaurants »Der Goldene Drache« arbeitet, kein Geld und keine Papiere hat, kann er nicht zum Zahnarzt gehen. Außerdem lenken die lauten Schmerzensschreie vielleicht unerwünschte Aufmerksamkeit auf ihn und seine ebenfalls illegalen Kollegen. Und dann kommt jemand auf die Idee mit der Rohrzange …

Das ist eine von vielen Geschichten, die der Dramatiker Roland Schimmelpfennig in seinem Erfolgsstück »Der Goldene Drache« erzählt bzw. erzählen lässt. Mit fantastischer Fabulierlust führt er uns in und durch die Parallelwelten eines Hauses in einer Großstadt, vom Schnellrestaurant »Der goldene Drache« im Erdgeschoss bis zur Wohnung des jungen Paares unter dem Dach. Tür an Tür, Stock über Stock, Wand an Wand finden sich in 48 kurzen Szenen die Figuren und Handlungsfäden, die sich allein für die Zuschauer zu einem fast schicksalhaften Netz an Beziehungen aufspannen. Da will eine junge Frau ihrem Großvater von ihrer Schwangerschaft erzählen, ein Mann im gestreiften Hemd wird von seiner Frau verlassen, und ein Lebensmittelhändler verbirgt im Hinterzimmer ein böses Geheimnis. Die Verknüpfungen zwischen den Geschichten bilden die Bestellungen der Gerichte im »Goldenen Drachen« und der löcherige Zahn, der überraschend zum Fliegen kommt.

Roland Schimmelpfennig, aktuell der meist gespielte Gegenwartsdramatiker im deutschsprachigen Raum, nimmt sich ein Format, das man von »Lindenstraße« & Co. kennt, und spinnt es lustvoll zu einem manchmal grotesken, manchmal tragischen Theaterstück mit vielen doppelten Böden weiter. Dabei stellt er Schauspieler und Regisseure vor fast artistische Aufgaben: Die zahlreichen Rollen seines Stücks werden von nur fünf Darstellern übernommen, die spielen, kommentieren und (nach-)erzählen, was das Zeug hält und dafür sorgen, dass in der kleinen alltäglichen Welt der Figuren die globalisierte große aufscheint.

Bei der Kritikerumfrage der Theaterzeitschrift »Theater heute« wurde »Der Goldene Drache« zum Stück des Jahres 2010 gewählt, im selben Jahr hat Schimmelpfennig dafür auch den Mülheimer Dramatikerpreis erhalten. In Heilbronn wird das rasant zwischen den Ebenen, Spielweisen und Geschichten springende Stück von Johanna Schall auf die Bühne des Großen Hauses gebracht, die als Enkelin von Bertolt Brecht aus einer großen Theaterdynastie stammt. Willkommen im »Goldenen Drachen«! (Andreas F.)

Premiere am 14.01.12, 19.30 Uhr, Großes Haus

Regie
Johanna Schall
Bühne
Horst Vogelgesang
Kostüme
Jenny Schall
Dramaturgie
Andreas Frane
Mit
Stefan Eichberg
Susan Ihlenfeld
Till Schmidt
Sabine Unger
Sebastian Weiss

Fünf im Zahn: Im Schauspiel »Der Goldene Drache« schafft ein löcheriger Zahn verblüffende Verbindungen zwischen den Bewohnern eines Hauses.

Frauchen und Hund

Es wurde „Stück des Jahres“  2010: „Der Goldene Drache“ von Roland Schimmelpfennig. Jetzt hat es in der Inszenierung von  Johanna Schall am 14. Januar 2012 Premiere am Theater Heilbronn. Zum ersten Theaterfrühstück des Jahres 2012 genossen die vielen Besucherinnen und Besucher nicht nur frische Brötchen und duftenden Kaffee, sondern sie ließen sich auch Appetit auf die Inszenierung machen. Sie erfuhren, dass der „Goldene Drache“ ein asiatisches Schnellrestaurant im Erdgeschoss eines großen Hauses und Dreh- und Angelpunkt der zwischenmenschlichen Geschichten ist, die in diesem Haus stattfinden.

Spannend an dem Stück sind nicht nur die vielen Geschichten, die wie in einer Soap miteinander verwoben werden. Aufregend für Schauspieler und Regie ist die ganz spezielle Spielweise, die dieses Stück verlangt. Fünf Darsteller schlüpfen in rund 20 Rollen, Frauen spielen Männer, Junge spielen Alte und umgekehrt. Die Verwandlungen passieren mit Ansage vor den Augen des Publikums. Das macht sehr viel Spaß, beschreibt Schauspielerin Sabine Unger, ist aber auch nicht einfach. Regisseurin Johanna Schall erinnert dies an die Ursprünge des szenischen Spielens, wie Kinder es ganz zwanglos in ihrem Alltag betreiben. Ihre kleine Nichte beispielsweise spiele momentan am liebsten mit ihr „Frauchen und Hund“, wobei die Kleine ganz klar die Rolle des Hundes übernimmt und ihre Tante mit „Regieanweisungen“ wie „jetzt musst du mir etwas zu fressen geben“ oder „du musst mit mir zum Tierarzt“ auf Trab hält.