Kulturbetrieb? Kultur-Betriebsamkeit!

Exkursion des Studiengangs Kulturmanagement aus Ludwigsburg ins Theater Heilbronn

Exkursion Ludwigsburg, Foto: Christiane Dätsch

Eine Gruppe von etwa 40 Studierenden und Dozenten des Masterstudiengangs „Kulturwissenschaft & Kulturmanagement“ der PH Ludwigsburg war am Mittwoch den 8. Februar auf Exkursion im Theater. Ziel war es, den „Apparat Theater“ – ein Gebilde aus verschiedensten Tätigkeiten und Arbeitsfeldern, die wie Zahnräder ineinandergreifen – erlebbar zu machen. Das Heilbronner Theater gilt als Theater der kurzen Wege, das bedeutet aber nicht, dass das Gewirr aus Verbindungsgängen und Treppenhäusern eine leichte Orientierung bietet. Erstaunen machte also die Runde, als man sich plötzlich hinter der Bühne des Komödienhauses im K3 wiederfand.

Der Rundgang führte vor allem durch die Werkstätten: Schreinerei, Dekoabteilung und der Malersaal wurden begutachtet, die einzelnen Arbeitsgebiete erläutert und laufende Projekte gezeigt. Wer trifft welche Entscheidungen? Welche Materialien werden verwendet? Wie „zaubert“ man aus möglichst leichten Holzzuschnitten ein edles dunkles Parkett? Und wie stellt man eine täuschend echte Schweinehälfte her, um die diversen Vegetarier im Publikum zu erschrecken?

Anschließend stellten sich Chefdramaturg Andreas Frane, Silke Zschäckel (Presse) und Johannes Pfeffer (Werbung/Öffentlichkeitsarbeit) vor und erläuterten ihren jeweiligen beruflichen Weg, der sie – ob unabsichtlich oder geplant – ans Theater brachte. In einer lockeren Diskussions- und Fragerunde ging es vor allem um die Rahmenbedingungen des Theaterbetriebs in Bezug auf Spielplangestaltung, Zusammenstellung des Schauspielensembles und die Beschaffung von Fördermitteln für soziale Projekte. Mit diesem neu gewonnenen „Insiderwissen“ wurde abends die Komödie Der Vorname besucht, hoffentlich nicht ausschließlich aus einem „kulturmanagerialen“ Blickwinkel.

Patricia Heiss

AB Ins Theater!

Und dass es Glück war, wird man erst aus der Distanz sehen.

KONICA MINOLTA DIGITAL CAMERA
KONICA MINOLTA DIGITAL CAMERA

Dieses Zitat aus Peter Stamms Roman Agnes beschreibt ziemlich treffend, was ich fühle, wenn ich an mein Abitur zurückdenke. Ohne Frage, eine nervenaufreibende und stressige Zeit. Und doch empfinde ich sie im Nachhinein als eine intensive Phase voller schöner Momente, geprägt von Zusammenhalt und Tatendrang. Mein Abi ist mittlerweile drei Jahre her, die Sternchenthemen für das Deutsch-Abitur sind aber immer noch dieselben wie damals. Homo Faber und Agnes –  diese zwei Werke gehören unter anderem zu der Pflichtlektüre für die Allgemeinbildenden Gymnasien. Im Rahmen meines Praktikums werde ich nun noch einmal mit dem Stoff konfrontiert, sitze zwischen Deutschkursen in der Vorstellung und dieses beflügelnde Abi-Feeling kommt tatsächlich noch einmal auf.

Los geht’s mit Homo Faber in der Pocketversion. 2013 habe ich dieses Stück im Großen Haus gesehen, mittlerweile gibt es die komprimierte Fassung in der BOXX. Kammerspielartig und auf das Wesentliche reduziert – eine perfekte Vorbereitung für die Schüler und eine perfekte Möglichkeit für mich, die Handlung, die Figuren und die Motive ins Gedächtnis zurückzurufen. Am gleichen Tag besuche ich zudem die Autorenlesung von Peter Stamm. Er sitzt – im behaglichen Bühnenbild des Komödienhauses von Der Vorname integriert – auf einem alten Plüschsessel und wird mit Fragen gelöchert. Dies ist die einmalige Gelegenheit, um das ein oder andere Geheimnis zu Agnes von ihrem Schöpfer höchstpersönlich lüften zu lassen.

Zusätzlich zu den „Frontaldarbietungen“ im Theater gibt es speziell für die Abiturienten kostenlose Theaterworkshops. So zum Beispiel  der Workshop zu Homo Faber in der Theaterwerkstatt im Wollhaus. Theaterpädagogin Katrin Singer verteilt laminierte Kärtchen, lässt die Schüler in die Rollen der Hauptfiguren schlüpfen und gibt Kontexte vor, in denen die Figuren nun miteinander interagieren sollen. Die zentralen Motive werden sowohl situativ als auch in Diskussionen interpretiert und das Hineinversetzen in den Stoff wird zum Gruppenerlebnis. Bei den Standbildern freuen sich sowohl die Darstellenden als auch die Zuschauer über die oft sehr originelle Umsetzung.
Nach diesen ganzen konstruktiven Vorbereitungsmaßnahmen bleibt nur noch, viel Erfolg für die im April anstehenden Prüfungen zu wünschen! Und falls so langsam Panik und Schrecken aufsteigen sollte, denkt daran, was Max Frisch einmal gesagt hat:
Die Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.

Patricia Heiss ist als Praktikantin für sechs Wochen am Theater Heilbronn und sammelt dort Erfahrungen im Bereich der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Sie studiert an der Universität Mannheim im fünften Semester Kultur & Wirtschaft.

Das Fernsehen im Theater – das Theater im Fernsehen

SWR-Magazin „Kunscht!“ zeigt wenige Tage vor der Premiere von „Ein Lied von Liebe und Tod (Gloomy Sunday)“ erste Einblicke und Hintergründe

SWr Kunschd im Theater HeilbronnInterviews, Szenenausschnitte und der Alltag hinter den Kulissen – das Kamerateam des SWR begleitet an dem Montagnachmittag vor der Premiere die Abläufe um die erste Komplettprobe zu „Ein Lied von Liebe und Tod (Gloomy Sunday)“, das am 21. Januar um 19.30 Uhr im Großen Haus Uraufführung feiern wird.
Dabei legt das fünfköpfige Fernsehteam den Fokus vor allem auf die musikalische Quintessenz des Schauspiels von John von Düffel; das berühmt-berüchtigte Lied vom traurigen Sonntag, welchem eine besondere melancholische Anziehungskraft zugeschrieben wird und um welches sich die Legende der „Hymne der Selbstmörder“ rankt. Was empfinden die Schauspieler, wenn sie die weltbekannte, und doch so simple Melodie hören? Worin besteht für Regisseurin Uta Koschel die Besonderheit des traurig-schönen Liedes? Wie wird in der Inszenierung die Verbindung zwischen Dialogen, Bühnenbild und Musik hergestellt? Das sind nur ein paar der Fragen, die das Team um Redakteurin Ursula Böhm stellen.
Zusätzlich begleitet das Kamerateam das geschäftige Treiben abseits vom Scheinwerferlicht: Impressionen vom Probenalltag der Mitarbeiter, die für Ton, Maske, Licht oder Kostüm zuständig sind, vor der wichtigen Probe final Hand anlegen und letzte Veränderungen vornehmen. So wird gefilmt, wie kurz vor der „Vorstellung“ die Frisuren zurecht gemacht werden, im Gang zur Bühne schnell die Hosenträger befestigt werden und die Schauspieler Bettina Burchard, Nils Brück und Paul-Louis-Schopf allmählich durch die optische Veränderung in ihre Rollen schlüpfen. Eine Theaterinszenierung, die über das Medium Fernsehen zugänglich gemacht wird? Funktioniert wunderbar, vor allem weil so interessante neue Perspektiven geschaffen werden, der zoom-in eine unmittelbare Nähe zu den Darstellern schafft. Und die filmischen Momentaufnahmen zeigen, dass im Theater das reibungslose Zusammenspiel von allen Komponenten vor, neben, unter, über und auf der Bühne Voraussetzung für ein gelungenes Ergebnis ist. Egal, ob Probe oder Premiere.
Ausgestrahlt wird der Beitrag am 19. Januar um 22.45 Uhr im SWR, zudem ist die Sendung „Kunscht!“ natürlich in der SWR-Mediathek rückblickend abrufbar.

Patricia Heiss ist als Praktikantin für sechs Wochen am Theater Heilbronn und sammelt dort Erfahrungen im Bereich der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Sie studiert an der Universität Mannheim im fünften Semester Kultur & Wirtschaft

Jeton Nezijrajs »Die Windmühlen« für Kinder ab 10 Jahren rotieren ab 8. Januar 2017 in der BOXX

Kaleidoskop der (Un)Möglichkeiten

WAS TUN, wenn man ein Angebot erhält, das man nicht ablehnen kann?
WAS TUN, wenn ein Mensch, den man liebt, einen Traum hegt, dessen Erfüllung für einen selbst ein großes Opfer bedeutet?
WAS TUN, wenn man an der wohlmeinenden Fürsorge seiner Eltern zu ersticken droht?
WAS TUN, wenn plötzlich Schmetterlinge durch den Magen flattern?
WAS TUN, wenn man feststellt, dass auch Erwachsene nicht immer richtig liegen?
WAS TUN, wenn man sich plötzlich in einer Welt wiederfindet, die alles bisher Gekannte auf den Kopf zu stellen scheint?

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Aus Perspektive der zehnjährigen Gisela schickt das, extra für die Heilbronner BOXX entstandene, Gedankenspiel des kosovarischen Autors Jeton Neziraj Ensemble und Publikum durch eine Welt, die sich ohne den Filter des erwachsenen Vorurteils als weitaus weniger merkwürdig erweist als erwartet.
Ein Jahr und ein paar Monate sollen es sein, die man abseits der deutschen Heimat verbringen wird. Ziel der merkwürdigen Reise, im Zuge derer Vater Müller den Bau einer Windkraftanlage beaufsichtigen soll, ist UNMIKISTAN*.
10 Buchstaben, die innerhalb der Familie Müller völlig unterschiedliche Assoziationen wachrufen.
Während Vater Müller sich durch die hoffentlich erfolgreiche Umsetzung seines Auftrages bereits auf halbem Wege zum Nobelpreis sieht, stehen seiner Frau, der Juristin, beim Gedanken an eine völlig fremde Kultur mit sicherlich barbarischem Rechtsverständnis augenblicklich die Haare zu Berge – Karriere des Gatten hin, notwendige Entwicklungshilfe her.
Tochter Giselas Kopfkino hingegen, ist bei Aussicht auf ein solches Abenteuer kaum mehr zu bremsen. Was wäre, wenn sie das elterliche Verbot heimlich umgehen, die Welt jenseits des Gartenzauns entdecken und auf einen Jungen mit verschiedenfarbigen Augen treffen würde …?

*Hinter dem Ziel der merkwürdigen Reise der Familie Müller verbirgt sich nichts anderes als der Kosovo. Die sarkastische Bezeichnung UNMIKISTAN spielt auf den Umstand an, dass die Region seit 1999 unter Aufsicht einer Interims-Zivilregierung, der UNMIK (United Nations Interim Administration Mission in Kosovo) steht, deren Mitarbeitenden von kosovarischer Seite häufig Unregelmäßigkeiten, politische Willkür und sonstige Fehlverhalten vorgeworfen werden.

Keine Angst vor der Zukunft

Junges Theater stiftet Diskurs zwischen Heranwachsenden und gesellschaftlichen Entscheidungsträgern

Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages) und Dr. Wolfgang Hansch (experimenta) im Gespräch
Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages) und Dr. Wolfgang Hansch (experimenta) im Gespräch

„Wie lautet diesmal Ihr Urteil?“, fragt Theaterintendant Axel Vornam den Vorsitzenden Richter am Heilbronner Landgericht Roland Kleinschroth. „Sie werden verurteilt, diese Veranstaltung zu wiederholen und von nun an fest in Ihr Repertoire aufzunehmen“, sagt er Richter mit gespielt ernstem Blick. „Im Ernst“, ergänzt er: „Der Polit- Brunch ist ein tolles Format und ich bin auch beim nächsten Mal gern mit dabei.“

Bianca Sue Henne, der Leiterin des Jungen Theaters, und ihren Kolleginnen von der Theaterpädagogik fällt ein Stein vom Herzen. Zum ersten Mal haben sie das neue Format der future|Boxx ausprobiert,  ein unkonventionelles Begegnungsformat, mit dem zum einen das Junge Theater den Dialog mit seinem Publikum eröffnet und das zum anderen Jugendliche und erwachsene Entscheidungsträger aus der Region an einen Tisch bringt. Heranwachsende und gestandene Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft begegnen sich hier gleichberechtigt auf Augenhöhe und diskutieren über Themen, die die Jugendlichen umtreiben. Das Ganze bei einem leckeren Brunch mit einer reichen Auswahl an herzhaften und süßen Speisen – Gastronom Matthias Hornung hatte sich selbst übertroffen.

Viele wichtige Heilbronner Persönlichkeiten aus den unterschiedlichsten Bereichen fanden die Idee spannend, als sie die Einladung erhielten, und hatten sich spontan bereit erklärt mitzumachen. So kamen, neben Richter Kleinschroth, auch Josip Juratovic, Mitglied des Bundestages für die SPD; Roland Häussermann, Geschäftsführer der Wirtschaftsprüfgesellschaft Ernst & Young in Heilbronn; Uwe Ralf Heer, Chefredakteur der Heilbronner Stimme; Roswitha Keicher, Leiterin der Stabsstelle für Partizipation und Integration der Stadt Heilbronn; Agnes Christner, erste Bürgermeisterin von Heilbronn; Dr. Wolfgang Hansch, Geschäftsführer des Science Centers Experimenta; Dr. Michael Krötz, Facharzt für Radiologie, Susanne Eicher vom Schulamt Heilbronn, Charlotte Mischler, Kulturamtsleiterin; Nadine Ratz von der Stadtbibliothek Heilbronn; Marlene Neumann vom Welcome Center Heilbronn-Franken; Jakob Dongus, stellvertretender Landesvorsitzender der Jusos; sowie Uta Koschel, Chefregisseurin, und Andreas Frane, Chefdramaturg des Theaters Heilbronn.
Bereits am Nachmittag vorher hatten sich die Jugendlichen getroffen, um gemeinsam ihre brennendsten Zukunftsfragen zu diskutieren und herauszuarbeiten, worüber sie am nächsten Tag reden wollten. Sie einigten sich auf Themenfelder wie Leistungsgesellschaft, Krieg, Konsum, Freiheit, Musik und Heilbronn.

Warum verdienen Leute, die unser Geld verwalten, mehr als Menschen, denen wir unsere Kinder und unsere Großeltern anvertrauen? Diese Frage wurde am „Konsum“- Tisch diskutiert. Was kann man tun, um diese Ungerechtigkeit abzuschaffen? Schnell landete die Runde an diesem Tisch bei TTIP und bei der Rolle der USA in der Weltpolitik.
Sehr viel konkreter ging es am Heilbronn-Tisch zu: Wie schaffen wir es, Alkoholikern und Drogensüchtigen zu helfen und sie nicht als Aussätzige der Gesellschaft zu betrachten? Oder warum ist die Radwegesituation in Heilbronn so schwierig?

Am Musiktisch ging es unter anderem um illegale Downloads und darum, dass man Musik noch besser ins gesellschaftliche Leben integrieren könnte, um für gute Laune zu sorgen.
Gibt es Freiheit ohne Regeln? Sollte man Menschengruppen mit Regeln oder lieber über Wertevermittlung führen?
Wie kann die Schule besser aufs Leben  und auf die Berufsfindung vorbereiten?

Wie können Medien erreichen, dass sich die Menschen wieder mehr für Fakten als für emotionalisierte und personalisierte Skandale interessieren? Wie kann man den Leuten nahebringen, dass es auch in der Flüchtlingsfrage keine einfachen und schnellen Lösungen gibt? Was ist Wohlstand? Was macht die digitale Revolution mit den Arbeitsplätzen? Wird es irgendwann den stationären Handel noch geben oder geht alles nur noch online? Wie kann man das Tempo im Alltag drosseln?

Nicht die Erwachsenen, die Jugendlichen gaben die Themen vor. An insgesamt sechs Tischen hatten sie gemeinsam in gemischten Gruppen Platz genommen. „Für mich war es überraschend, dass wir wirklich auf Augenhöhe diskutiert haben“, schrieb eine der  Jugendlichen als ihr Fazit an die Pinnwand. Ein anderer resümierte, dass er verblüfft war, wie interessant politische Gespräche sein können.

Agnes Christner (Sozialbürgermeisterin der Stadt Heilbronn) und Chefregisseurin Uta Koschel beim politBrunch
Agnes Christner (Erste Bürgermeisterin der Stadt Heilbronn) und Chefregisseurin Uta Koschel beim politBrunch

Dass die Unterhaltungen sehr angeregt verliefen wurde deutlich, als keiner der future|Boxx-Teilnehmer die Veranstaltung nach dem offiziellen Ende verlassen wollte, sondern dass alle weiter redeten. „Der Ruf der Jugend, sie sei desinteressiert und denke nur an sich, ist nicht gerecht“, findet Josip Juratovic bestätigt. Einige Jugendliche wollen von ihm künftig im wöchentlichen Newsletter über seine Bundestagsarbeit informiert werden – ein Schritt zu einem Punkt, der den Heranwachsenden sehr wichtig ist: Transparenz in der Politik.
Dr. Wolfgang Hansch nimmt für sich als Fazit mit: „Man sollte Jugendlichen mehr zuhören und weniger selbst reden. Denn es ist ihre Zukunft, die wir heute gestalten.“
Auch Themenwünsche für die nächste future|Boxx wurden festgehalten: Globalisierung, gesellschaftliche Partizipation, Heimat, Gleichberechtigung, Sicherheit, soziale Ausgrenzung … Alle Teilnehmer wollen auch beim nächsten Mal wieder dabei sein.

Das Junge Theater sammelt die Gedanken, die an diesem Tag ausgetauscht wurden, und hat schon erste Ideen, wie sich zumindest einige der Themen im Spielplan für die Saison 2017/2018 wiederfinden können.

Eine Woche am Jungen Theater Heilbronn gegen Rechtsextremismus

Robin Brodt von der Landeszentrale für politische Bildung
Robin Brodt von der Landeszentrale für politische Bildung

 

Die Zahlen sprechen für sich. Politisch motivierte Straftaten nehmen zu. Waren es 2013 in Baden-Württemberg 925 stieg die Zahl 2015 auf 1604. Allein 1408 Straftaten in 2015 hatten in Baden-Württemberg einen rechtsextremen Hintergrund. Mit Stand 20. Oktober dieses Jahres wurden die ohnehin schon hohen Zahlen des Vorjahres im Bereich Angriffe auf Asylsuchende übertroffen. Gab es 2015 vier verletzte Asylsuchende in Baden-Württemberg, sind es bis zum 20. Oktober 2016 schon 28. Doch diese Zahlen, die Robin Brodt von der Bundeszentrale für politische Bildung in seinem Eröffnungsreferat über „Die extreme Rechte in Baden-Württemberg“ nannte, sind nur die Spitze des Eisberges. Rechtsextreme sind nicht mehr so einfach zu erkennen und sie agieren nicht mehr am Rand der Gesellschaft. Rechtspopulistische Strömungen verkünden ihre Propaganda auf Demonstrationen und Wahlveranstaltungen – PEGIDA und ihre Ableger in den verschiedenen Regionen Deutschlands und die neue Partei AfD polemisieren laut gegen Flüchtlinge und eine angebliche Überfremdung Deutschlands und sammeln Kräfte aus allen sozialen und intellektuellen Schichten. Die jüngst erschienene Mitte-Studie 2016 der Universität Leipzig unter der Überschrift „Die enthemmte Mitte“ zeigt, wie weit antidemokratisches und rechtsextremes Gedankengut in den Köpfen verbreitet ist: Jeder Zehnte wünscht sich einen Führer, der das Land zum Wohle aller mit starker Hand regiert. Elf Prozent der Bürger glauben, dass Juden zu viel Einfluss haben. Zwölf Prozent sind der Ansicht, Deutsche seien anderen Völkern von Natur aus überlegen.

„Wir haben das Gefühl, dass in der Gesellschaft etwas brennt“, sagt Bianca Sue Henne, die Leiterin des Jungen Theaters Heilbronn. „Wir wollen und müssen dazu Stellung beziehen.“ Deshalb steht die Inszenierung „Kriegerin“ nach dem gleichnamigen Film von David Wnendt auf dem Spielplan, die eindringlich zeigt, welches Verführungspotential rechte Ideologien für Jugendliche haben können, wie sie sich radikalisieren, aber auch, was passiert, wenn sie den Ausstieg versuchen. Vom 24.-28. Oktober hat das Junge Theater eine ganze Themenwoche rund um die Inszenierung „Kriegerin“ gestrickt, die weit über das ohnehin schon große theaterpädagogische Programm zum Stück hinausgeht. Die jugendlichen Theaterbesucher absolvieren jeweils vor den Vorstellungen einen Workshop. Im Anschluss an die Vorstellungen gibt es Nachgespräche mit den Darstellern und den Theaterpädagogen. Außerdem finden drei ganztägige Workshops der Landeszentrale für politische Bildung unter der Überschrift „Planspiel Soundcheck“ statt. Hier geht es um die „Einstiegsdroge“ rechtsradikale Musik, die mit eingängigen Rhythmen über Ohr und Emotionen mit ihren Texten den Weg direkt ins Hirn der Jugendlichen findet.
Robin Brodt beschreibt, dass die Schulhof-CDs mit rechtsextremer Musik, immer noch gratis unter Heranwachsenden verteilt werden und sich vordergründig gegen „Pauker und Spießer“ richten um unterschwellig das rechte Gedankengut in die Köpfe zu pflanzen. Rechte nutzen darüber hinaus ihr ehrenamtliches Engagement in Sportverbänden oder engagieren sich in Elternvertretungen.

Rund 1800 Personen gehören in Baden-Württemberg zur organisierten rechtsextremen Szene. Den aktivsten Kreisverband der NPD habe die Region Heilbronn-Franken, erklärt der Referent. Darüber hinaus entwickeln sich weitere Strömungen wie die Identitäre Bewegung, die aus Frankreich kommt. Deren Mitglieder gerieren sich nicht als Nazis, aber als Verteidiger der deutschen bzw. der abendländischen Kultur. Auch unter dem Deckmantel der Verteidigung konservativer Werte sammeln sich viele Gruppierungen mit rassistischen, völkischen und demokratiefeindlichen Ansichten.

Der Referent verwies aber auch auf die vielen Kräfte, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren und Menschen, die aus der Szene austeigen wollen:

Turmhohe Wellen

 »Der fliegende Holländer« von Richard Wagner kommt als Gastspiel aus Heidelberg

»Selten hat man turmhohe Wellen so schäumen gehört«, jubelte der Kritiker des Neuen Merkers Wien über Lydia Steiers Inszenierung der Oper »Der fliegende Holländer«, die im April 2016 in Heidelberg Premiere hatte. Nun kommt die Inszenierung der international renommierten Regisseurin als Gastspiel für 9 Vorstellungen zwischen Oktober 2016 und Februar 2017 nach Heilbronn. Das hiesige Publikum kennt unter anderem Lydia Steiers opulente Inszenierung des Händel-Oratoriums »Saul«, die hier als Gastspiel des Staatstheaters Oldenburg zu sehen und für den Theaterpreis »Faust« nominiert war.
Die frühesten Versionen des Stoffes vom fliegenden Holländer sind aus dem 18. Jahrhundert überliefert. Heinrich Heine, dessen Handlungsverlauf aus den »Memoiren des Herren von Schnabelewopski« Richard Wagner als Grundlage für sein Opernlibretto diente, fasste die Fabel folgendermaßen zusammen: »Es ist die Geschichte von dem verwünschten Schiffe, das nie in den Hafen gelangen kann, und jetzt schon seit undenklicher Zeit auf dem Meere herumfährt. (…) Jenes hölzerne Gespenst, jenes grauenhafte Schiff, führt seinen Namen von seinem Kapitän, einem Holländer, der einst bei allen Teufeln geschworen, dass er irgendein Vorgebirge, dessen Name mir entfallen, trotz des heftigsten Sturms, der eben wehte, umschiffen wolle, und sollte er auch bis zum Jüngsten Tage segeln müssen. Der Teufel hat ihn beim Wort gefasst, er muss bis zum Jüngsten Tage auf dem Meere herumirren, es sei denn, dass er durch die Treue eines Weibes erlöst werde. Der Teufel, dumm wie er ist, glaubt nicht an Weibertreue, und erlaubte daher dem verwünschten Kapitän alle sieben Jahr einmal ans Land zu steigen, und zu heiraten, und bei dieser Gelegenheit seine Erlösung zu betreiben …«
1843 in Dresden uraufgeführt, ist »Der fliegende Holländer« Richard Wagners erste romantische Oper und gilt als Durchbruch zu seinem eigenen Stil. »Aus den Sümpfen des Lebens« sei ihm dieses »mythische Gedicht des Volkes so wiederholt und mit unwiderstehlicher Anziehungskraft« aufgetaucht, schrieb Richard Wagner. Seiner Komposition liegt ein eigenes Erlebnis zugrunde. 1839 gerieten Richard und Minna Wagner auf einem Handelsfrachter in einen Sturm, bei dem sie um ihr Leben fürchteten. Minna habe sich dabei, so heißt es, mit einem Tuch an ihren Mann binden lassen, um notfalls gemeinsam mit ihm zu sterben. Wagner suchte nach einer Möglichkeit, um dieses Erlebnis zu verarbeiten. Ob es dabei um Erlösungsprojektionen geht oder um die Macht der Phantasie, um Fanatismus oder Opfermut – in jedem Fall entwarf Wagner mit Senta das Porträt einer jungen Frau, die sich mit so kraftvoller wie provozierender Unbedingtheit und bis um den Preis des Todes ihrer Überzeugung verschreibt.
Regisseurin Lydia Steier zeichnet in ihrer Inszenierung mit dem Holländer und Senta zwei Außenseiter, die wie im Brennglas verdichtete Symptome einer Gesellschaft sind, die zu Gesicht bringt, was diese produziert und dann verdrängt, erläutert die Regisseurin. Sie sagt: »Das Bild des Holländers, den das jahrhundertelange Ausgesetzthollaender_khp_p_011

Schuldig oder nicht schuldig – wie werden Sie entscheiden?

Schuldig oder nicht schuldig – wie werden Sie entscheiden?

Gerechtigkeitsgttin

»Das Stück der Saison ist eigentlich kein Stück, Sondern ein Ereignis«, jubelte ein Kritiker. Und in »Der Spiegel« gestand der Filmemacher und promovierte Jurist Alexander Kluge: »Ich gehe nicht oft ins Theater. Aber ich wünschte mir mehr solcher Stücke.« Geschrieben wird hier über »Terror«, den derzeit meist gespielten deutschsprachigen Theatertext, der an 47 Bühnen, von Berlin bis Wien, von Kopenhagen bis Venezuela zu sehen ist.
»Terror« ist der Bühnenerstling von Ferdinand von Schirach, einem der auch international erfolgreichsten deutschen Schriftsteller und einem der prominentesten deutschen Strafverteidiger. 2009 debütierte er mit 45 Jahren mit dem Erzählband »Verbrechen« als Autor, inzwischen sind ein weiterer Band mit Erzählungen (»Schuld«), zwei Romane (»Der Fall Collini« und »Tabu«) und eine Reihe von Essays erschienen – und nun ein Theaterstück, das seit der Doppeluraufführung am 3. Oktober 2015 in Berlin und Frankfurt Publikum und Presse begeistert.
Von Schirach nutzt in »Terror« die inhärente Theatralität unseres Rechtssystems: Auf der Bühne läuft eine Gerichtsverhandlung ab, mit einem Vorsitzenden, einem Angeklagten, einem Verteidiger, einer Staatsanwältin und Zeugen. Ein – leider gar nicht mehr so unwahrscheinlicher – Fall wird verhandelt: Am 26. Mai 2013 entführte ein Terrorist einen Airbus der Lufthansa. Er drohte, das Flugzeug mitten in ein voll besetztes Fußballstadion, die Allianz-Arena in München, stürzen zu lassen und so 70 000 Menschen zu töten. Der Bundeswehr-Major Lars Koch hat das Flugzeug kurz vor der Katastrophe aber abgeschossen und dadurch 164 Menschen an Bord getötet. Nun soll vor der Großen Strafkammer des Schwurgerichts entschieden werden, ob er dafür schuldig oder unschuldig gesprochen wird. Und die Entscheidung trifft – das Publikum, das als Schöffinnen und Schöffen am Prozess beteiligt ist.
Mit diesem klugen »Kniff« kommt das Geschehen auf der Bühne tatsächlich »über die Rampe« und bezieht die Zuschauerinnen und Zuschauer unmittelbar mit ein. Nicht nur in den Prozessverlauf, sondern auch in den spannenden Diskurs über Recht und Gerechtigkeit, Schuld und Verantwortung, Moral und Ethik, den von Schirach hier anstößt.
Über die konkrete (Spiel-)Handlung hinaus veranstaltet er ein Gedankenexperiment, das zu einer eigenen Haltung herausfordert und drängende Fragen unserer Zeit zuspitzt: Darf Leben gegen Leben aufgewogen werden? Rechtfertigt der Zweck die Mittel? Sind die Werte unseres Grundgesetzes und der Kampf gegen den Terror, das Bedürfnis nach Sicherheit und der Drang nach Freiheit miteinander vereinbar? Nach welchen ethischen Koordinaten richten wir unser Leben und Handeln aus? Wie werden wir entscheiden? Was tun?
Am Theater Heilbronn inszeniert Intendant Axel Vornam dieses »Stück der Stunde« in einem stilisierten Gerichtssaal. Für die Rolle des Angeklagten, Major Lars Koch, kommt Ferdinand Seebacher als Gast noch einmal zurück ins Ensemble.

»Wir sind schon längst im freien Fall«

»Kriegerin« ab dem 24. September in der BOXX

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Für Marisa ist klar: »Wir sind keine Nazis. Wir sind rechts, das stimmt. Wir mögen Deutschland, das stimmt auch. Wir mögen Deutschland gerne deutsch.« Eben noch pöbelte sie mit ihren Leuten – allen voran Marisas Freund Sandro – gegen die in ihrer Stadt untergebrachten Geflüchteten und fährt in einem Anflug exzessiver Gewalt die afghanischen Brüder Rasul und Jamil mutwillig mit dem Auto an. Die darauf folgenden Ereignisse holen sie unvermittelt ein. Denn Rasul steht plötzlich im Supermarkt vor ihr und lässt sich nicht abschütteln. Zur selben Zeit steigt Svenja, fasziniert von den archaischen Ritualen und Parolen, immer tiefer in die rechte Szene ein. So stehen sich nicht nur Marisa und Rasul gegenüber, plötzlich sieht sich Marisa auch mit Svenjas Radikalisierung konfrontiert, die der ihren ähnlich und damit ein Spiegel ihrer bisherigen Einstellung ist. »Wir rasen nicht einmal mehr auf den Abgrund zu. Wir sind schon längst im freien Fall«, weiß Marisa.
»Auch wer lange in der rechten Szene drinsteckt, hat nicht jede Menschlichkeit verloren. Da darf man auch niemanden aufgeben.« David Wnendt, Regisseur des ausgezeichneten Kinofilms »Kriegerin«, ließ es nicht bei dieser Überlegung bewenden. Noch im Erscheinungsjahr des Films 2012 bezog Wnendt Stellung zur Frage, ob die Demokratiefeindlichkeit in der breiten Bevölkerung zunehmend auf fruchtbaren Boden falle: »Es gibt Umfragen, die besagen, dass mittlerweile über die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland der Demokratie skeptisch gegenüber steht. Das sind alarmierende Zahlen. Das parlamentarische System verliert zunehmend an Rückhalt. Die Rechtsextremen sind nicht vollkommen isoliert. Ihre Kritik am System findet auch Anklang bei normalen Bevölkerungsschichten.« Belege dafür liefern nicht zuletzt die seit 2014 anhaltenden Aufmärsche von Pegida und die Montagsmahnwachen, die sich als sogenannte »Volksbewegungen« präsentieren. Die Demonstrierenden bringen dort ihre gefühlte Bedrohung durch Flüchtlinge,  den Islam oder auch eine jüdisch-amerikanische Weltverschwörung zum Ausdruck. Auch wenn die Zahlen der Demonstranten derzeit rückläufig sind, die propagierten Inhalte bleiben öffentlichkeitswirksam. So ergab die aktuelle Mitte-Studie der Universität Leipzig von 2016, dass jeder und jede zweite Deutsche in diesem Jahr angab, sich »wie ein Fremder im eigenen Land« zu fühlen und das nachweislich über 40% der Befragten Muslimen und Muslimas die Zuwanderung nach Deutschland untersagen wollen. Immer noch werden diese Ergebnisse vielerorts als vermeintlich unerwarteter »Rechtsrucks in Deutschland« beschrieben; etwa, dass 21,9% der Aussage beipflichten, dass Deutschland jetzt eine einzige starke Partei brauche, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpere, 32,1% die Ansicht teilen, die Ausländer kämen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen und noch immer 12% der Befragten der Aussage voll zustimmen, dass die Deutschen anderen Völkern von Natur aus eigentlich überlegen seien. Tatsächlich aber werden dadurch die faktischen Entwicklungen der mindestens letzten 25 Jahre innerhalb Deutschlands und Europas verschleiert.
Ohne kategorische Antworten zu liefern, zeigt »Kriegerin« die tiefsitzenden Ängste vor dem vermeintlich Anderen. Einerseits lässt sich das Verführungspotenzial rassistischer Gesinnungen durch die theatrale Bearbeitung einmal mehr zur Diskussion stellen, andererseits aber auch die oft unterstellte Unmöglichkeit, eine Veränderung der Wahrnehmung und eine Empathie für den Anderen hier als eine Möglichkeit erfahren.
Nach »Krieg – Stell dir vor, er wäre hier« eröffnet Adewale Teodros Adebisi die Spielzeit 2016/2017 in der BOXX mit seiner Inszenierung von »Kriegerin«. Die Ausstattung übernimmt Gesine Kuhn, die bereits für »Krieg – Stell dir vor, er wäre hier« und »Die Werkstatt der Schmetterlinge« Bühne und Kostüme entworfen hat.

In der Katastrophe wird die Wahrheit offenbar

 »Der Besuch der alten Dame« ab 23. September im Großen Haus

besuch-der-alten-dameEs ist »eine Geschichte, die sich irgendwo in Mitteleuropa ereignet, geschrieben von einem, der sich von diesen Leuten durchaus nicht distanziert und der sich nicht sicher ist, ob er anders handeln würde.« So beschreibt es Friedrich Dürrenmatt in seinen Anmerkungen zu »Der Besuch der alten Dame«. Das Stück spielt in Güllen, einer Kleinstadt, die sich in einer wirtschaftlichen Krise befindet. Es gibt viele Arbeitslose und die Industrie ist zusammengebrochen. Doch es gibt einen Hoffnungsschimmer: Claire Zachanassian, inzwischen die reichste Frau der Welt, hat ihren Besuch angekündigt, und so hoffen die Bewohner, dass die alte Dame, die selbst aus Güllen stammt, ihnen mit einer großzügigen Geldspende aus der Not helfen wird. Sie ist tatsächlich gekommen, um ihrer Heimatstadt zu helfen, aber sie verlangt im Gegenzug Gerechtigkeit. Claire, die damals noch Klara Wäscher hieß, musste Güllen vor vielen Jahren gedemütigt verlassen, nachdem sie von ihrem früheren Liebhaber Alfred Ill erst geschwängert und dann sitzengelassen wurde. Um der Vaterschaftsklage zu entgehen, hat er im Prozess Zeugen bestochen, die angaben, auch mit Klara geschlafen zu haben. Klara musste dadurch einerseits schmerzhaft erfahren, dass Liebe kein verlässlicher Wert ist und andererseits, dass man alles kaufen kann, Waren wie Menschen. Durch das Gerichtsurteil wurde sie zur Hure, zum Sinnbild der käuflichen Liebe. Und so ist es nicht die Wohltätigkeit, die sie treibt, sondern vielmehr der Wunsch nach Rache. Und sie kann es sich leisten. Denn mittlerweile hat sich das Blatt gewendet. Sie kommt zu Stückbeginn mit ihrem siebten Ehemann und einer Schar merkwürdiger Bediensteter angereist. Nun stellt sie die Bedingungen, denn sie hat die Finanzkraft. Und so verspricht sie eine Milliarde für Güllen – 500 Millionen für die Stadt, 500 Millionen verteilt auf alle Bürger – wenn jemand das Unrecht, das ihr angetan wurde, wiedergutmacht. Eine Milliarde, wenn jemand Alfred Ill tötet. Natürlich lehnt die Bevölkerung das Angebot zunächst aus moralischen Gründen ab. Doch schon bald beginnen die Menschen zu konsumieren, auf Kredit zu kaufen und sich immer mehr in den Maschen der Ökonomie zu verfangen.
Für Regisseurin Uta Koschel steht in diesem Stück jedoch nicht das menschliche Fehlverhalten des Einzelnen im Zentrum. Ihr Interesse gilt vielmehr der Zwangsläufigkeit der Geschichte. Durch das Angebot der alten Dame wird etwas in Gang gesetzt, das nicht mehr aufzuhalten ist. Natürlich will niemand Ill töten. Doch die Verlockungen des Konsums sind in der Not zu groß und so offenbart sich die Leichtfertigkeit, mit der die Menschen auf Kredit kaufen, die Augen vor den Konsequenzen verschließend. In »Der Besuch der alten Dame« bestätigt sich die marxistische Grundaussage, nach der das Sein das Bewusstsein bestimmt. Anders ausgedrückt heißt das, dass die materiellen Lebensumstände das Denken prägen. Dürrenmatt versteht sich nicht als Therapeut, sondern als Diagnostiker und skeptischer Opponent, dessen Literatur das Publikum zu Irritation und kritischer Reflexion bewegen soll. Und in der Tat stellt sich die Frage bei jedem von uns: Was würden wir anstelle der Güllener tun? Ist die Aussicht auf schnellen Reichtum wirklich so einfach zu verwerfen, wie es in moralischem Sinne sein sollte? Lebt uns der Kapitalismus nicht genau das vor? Kapital schafft Macht über all jene, die weniger besitzen. Im privaten wie globalen Kontext. Auf politischer Ebene wird unsere Finanzkraft genutzt, um anderen Staaten zu helfen, ihnen gleichzeitig aber auch die Bedingungen für diese Hilfe vorzuschreiben. Und »sie sind gezwungen unsere Auflagen zu erfüllen, denn ohne uns werden sie da nicht mehr herauskommen« (IWF-Chefin Christine Lagarde).
Was wir brauchen, ist ein gesellschaftliches Gewissen. Der kategorische Imperativ, den Kant 1785 entwickelte, muss zu einer gesellschaftlichen, allgemeinen Aufgabe werden. »Doch unser heutiges Gewissen ist pervertiert. Es lautet nicht: Ich bin gut. Es lautet: Die anderen sind ja auch schlecht.« Das stellte Dürrenmatt schon 1961 fest. Und bis heute hat sich daran nichts verändert. Wir ziehen uns mit dieser Ansicht schlichtweg aus der Verantwortung. Der mit dem Besuch der alten Dame rapide einsetzende Verfall der, von den Güllenern zu Beginn des Stücks noch hoch gepriesenen, »christlich-humanistischen Werte« zeigt in erschütternder Weise, dass solche Traditionen einer zunehmenden Ökonomisierung aller Lebensumstände kaum etwas entgegenzusetzen haben.
Doch was können wir tun? Protestieren. Vielleicht. Besser wäre es aber unsere Haltungen und Handlungen zu reflektieren. Denn unsere Entscheidungen haben Einfluss auf eine Zukunft, die noch gestaltet werden kann. Dürrenmatt kommt 1969 in seinem »Monstervertrag über Gerechtigkeit und Recht« zu dem Ergebnis: »Nicht der Einzelne verändert die Wirklichkeit, die Wirklichkeit wird von allen verändert. Die Wirklichkeit sind wir alle, und wir sind immer nur Einzelne.«