AB Ins Theater!

Und dass es Glück war, wird man erst aus der Distanz sehen.

KONICA MINOLTA DIGITAL CAMERA
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Dieses Zitat aus Peter Stamms Roman Agnes beschreibt ziemlich treffend, was ich fühle, wenn ich an mein Abitur zurückdenke. Ohne Frage, eine nervenaufreibende und stressige Zeit. Und doch empfinde ich sie im Nachhinein als eine intensive Phase voller schöner Momente, geprägt von Zusammenhalt und Tatendrang. Mein Abi ist mittlerweile drei Jahre her, die Sternchenthemen für das Deutsch-Abitur sind aber immer noch dieselben wie damals. Homo Faber und Agnes –  diese zwei Werke gehören unter anderem zu der Pflichtlektüre für die Allgemeinbildenden Gymnasien. Im Rahmen meines Praktikums werde ich nun noch einmal mit dem Stoff konfrontiert, sitze zwischen Deutschkursen in der Vorstellung und dieses beflügelnde Abi-Feeling kommt tatsächlich noch einmal auf.

Los geht’s mit Homo Faber in der Pocketversion. 2013 habe ich dieses Stück im Großen Haus gesehen, mittlerweile gibt es die komprimierte Fassung in der BOXX. Kammerspielartig und auf das Wesentliche reduziert – eine perfekte Vorbereitung für die Schüler und eine perfekte Möglichkeit für mich, die Handlung, die Figuren und die Motive ins Gedächtnis zurückzurufen. Am gleichen Tag besuche ich zudem die Autorenlesung von Peter Stamm. Er sitzt – im behaglichen Bühnenbild des Komödienhauses von Der Vorname integriert – auf einem alten Plüschsessel und wird mit Fragen gelöchert. Dies ist die einmalige Gelegenheit, um das ein oder andere Geheimnis zu Agnes von ihrem Schöpfer höchstpersönlich lüften zu lassen.

Zusätzlich zu den „Frontaldarbietungen“ im Theater gibt es speziell für die Abiturienten kostenlose Theaterworkshops. So zum Beispiel  der Workshop zu Homo Faber in der Theaterwerkstatt im Wollhaus. Theaterpädagogin Katrin Singer verteilt laminierte Kärtchen, lässt die Schüler in die Rollen der Hauptfiguren schlüpfen und gibt Kontexte vor, in denen die Figuren nun miteinander interagieren sollen. Die zentralen Motive werden sowohl situativ als auch in Diskussionen interpretiert und das Hineinversetzen in den Stoff wird zum Gruppenerlebnis. Bei den Standbildern freuen sich sowohl die Darstellenden als auch die Zuschauer über die oft sehr originelle Umsetzung.
Nach diesen ganzen konstruktiven Vorbereitungsmaßnahmen bleibt nur noch, viel Erfolg für die im April anstehenden Prüfungen zu wünschen! Und falls so langsam Panik und Schrecken aufsteigen sollte, denkt daran, was Max Frisch einmal gesagt hat:
Die Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.

Patricia Heiss ist als Praktikantin für sechs Wochen am Theater Heilbronn und sammelt dort Erfahrungen im Bereich der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Sie studiert an der Universität Mannheim im fünften Semester Kultur & Wirtschaft.

Das Fernsehen im Theater – das Theater im Fernsehen

SWR-Magazin „Kunscht!“ zeigt wenige Tage vor der Premiere von „Ein Lied von Liebe und Tod (Gloomy Sunday)“ erste Einblicke und Hintergründe

SWr Kunschd im Theater HeilbronnInterviews, Szenenausschnitte und der Alltag hinter den Kulissen – das Kamerateam des SWR begleitet an dem Montagnachmittag vor der Premiere die Abläufe um die erste Komplettprobe zu „Ein Lied von Liebe und Tod (Gloomy Sunday)“, das am 21. Januar um 19.30 Uhr im Großen Haus Uraufführung feiern wird.
Dabei legt das fünfköpfige Fernsehteam den Fokus vor allem auf die musikalische Quintessenz des Schauspiels von John von Düffel; das berühmt-berüchtigte Lied vom traurigen Sonntag, welchem eine besondere melancholische Anziehungskraft zugeschrieben wird und um welches sich die Legende der „Hymne der Selbstmörder“ rankt. Was empfinden die Schauspieler, wenn sie die weltbekannte, und doch so simple Melodie hören? Worin besteht für Regisseurin Uta Koschel die Besonderheit des traurig-schönen Liedes? Wie wird in der Inszenierung die Verbindung zwischen Dialogen, Bühnenbild und Musik hergestellt? Das sind nur ein paar der Fragen, die das Team um Redakteurin Ursula Böhm stellen.
Zusätzlich begleitet das Kamerateam das geschäftige Treiben abseits vom Scheinwerferlicht: Impressionen vom Probenalltag der Mitarbeiter, die für Ton, Maske, Licht oder Kostüm zuständig sind, vor der wichtigen Probe final Hand anlegen und letzte Veränderungen vornehmen. So wird gefilmt, wie kurz vor der „Vorstellung“ die Frisuren zurecht gemacht werden, im Gang zur Bühne schnell die Hosenträger befestigt werden und die Schauspieler Bettina Burchard, Nils Brück und Paul-Louis-Schopf allmählich durch die optische Veränderung in ihre Rollen schlüpfen. Eine Theaterinszenierung, die über das Medium Fernsehen zugänglich gemacht wird? Funktioniert wunderbar, vor allem weil so interessante neue Perspektiven geschaffen werden, der zoom-in eine unmittelbare Nähe zu den Darstellern schafft. Und die filmischen Momentaufnahmen zeigen, dass im Theater das reibungslose Zusammenspiel von allen Komponenten vor, neben, unter, über und auf der Bühne Voraussetzung für ein gelungenes Ergebnis ist. Egal, ob Probe oder Premiere.
Ausgestrahlt wird der Beitrag am 19. Januar um 22.45 Uhr im SWR, zudem ist die Sendung „Kunscht!“ natürlich in der SWR-Mediathek rückblickend abrufbar.

Patricia Heiss ist als Praktikantin für sechs Wochen am Theater Heilbronn und sammelt dort Erfahrungen im Bereich der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Sie studiert an der Universität Mannheim im fünften Semester Kultur & Wirtschaft

»Ein Lied von Liebe und Tod (Gloomy Sunday)« kommt als Uraufführung ins Große Haus

»Ein Lied von Liebe und Tod (Gloomy Sunday)« kommt als Uraufführung ins Große Haus

Foto: Christian Richter
Foto: Christian Richter

Es ist die Geschichte einer Frau zwischen drei Männern, eines Liedes mit einem gefährlichen Zauber und einer Liebe in einer mörderischen Zeit: Die hinreißend schöne Ilona führt gemeinsam mit ihrem Geliebten László Szabó ein erfolgreiches Restaurant in Budapest, Ende der 30er Jahre. Auch der deutsche Unternehmer Hans Wieck und der Hauspianist András können sich ihrem Zauber nicht entziehen. Während sich András mit dem eigens für Ilona komponierten »Lied vom traurigen Sonntag« Zugang zu ihrem Herzen verschafft, versucht sich Wieck nach seinem aussichtslosen Werben, das Leben zu nehmen. László kann Wieck noch in letzter Sekunde retten. Und während András und Ilona sich ihrer Leidenschaft hingeben, freunden sich László und Wieck an. Als Wieck nach Deutschland zurückgeht, richten sich die übrigen drei in einer gut funktionierenden Dreierbeziehung ein. Mit der Besetzung Ungarns durch die Nazis kehrt aber auch Wieck nach Budapest zurück: Langsam, aber unabwendbar bricht eine Tragödie über die beschauliche Romanze herein.
Entscheidender Bestandteil der Bühnenfassung ist das Lied. John von Düffel schafft einen interessanten Zugang, eine Geschichte über zwei Zeitebenen, verbunden durch eine Melodie, die die Zeit überdauert. Seine Geschichte spielt in der Erinnerung, in Ilonas Erinnerung. »Sie ist die gegenwärtige Besitzerin von Szabós Restaurant. Die erinnerte, ferne Zeit sind die Jahre der Nazi-Besatzung in Budapest und kurz davor. Schauplatz ist das Restaurant, das einmal Szabós Restaurant war. Es ist der Raum der Erinnerung. Medium der Erinnerung ist die Musik. Mit ihr gehen wir durch die Zeiten, Stimmungen, Momente. Durch sie begegnen wir Figuren, Szenen und Konflikten. Im Mittelpunkt des Restaurants steht daher ein Flügel. Wenn er erklingt, dreht die Zeit, dreht sich das Karussell der Erinnerungen.«, beschreibt John von Düffel seine Konzeption. Zu Stückbeginn ist das Restaurant geschlossen. Man sieht einen Raum, der nicht mehr oder noch nicht lebt. Erst das Spiel der Musik und der Erinnerung wird ihn zum Leben erwecken. Es beschwört die Toten herauf und lässt das Vergangene gegenwärtig werden.
Im Zentrum der Geschichte der drei Hauptpersonen steht die Kraft der Liebe, die den Tod überdauert und über Verrat und Vergessen triumphiert. Der historische Bogen von der Vorkriegszeit bis zur Gegenwart wird spannend geschlagen, es geht nicht nur um menschliche Regungen wie Liebe, Treue und Eifersucht, sondern auch um die Utopie von Glück und um das Aufrechterhalten von Würde in einer würdelosen Epoche.

Jeton Nezijrajs »Die Windmühlen« für Kinder ab 10 Jahren rotieren ab 8. Januar 2017 in der BOXX

Kaleidoskop der (Un)Möglichkeiten

WAS TUN, wenn man ein Angebot erhält, das man nicht ablehnen kann?
WAS TUN, wenn ein Mensch, den man liebt, einen Traum hegt, dessen Erfüllung für einen selbst ein großes Opfer bedeutet?
WAS TUN, wenn man an der wohlmeinenden Fürsorge seiner Eltern zu ersticken droht?
WAS TUN, wenn plötzlich Schmetterlinge durch den Magen flattern?
WAS TUN, wenn man feststellt, dass auch Erwachsene nicht immer richtig liegen?
WAS TUN, wenn man sich plötzlich in einer Welt wiederfindet, die alles bisher Gekannte auf den Kopf zu stellen scheint?

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Aus Perspektive der zehnjährigen Gisela schickt das, extra für die Heilbronner BOXX entstandene, Gedankenspiel des kosovarischen Autors Jeton Neziraj Ensemble und Publikum durch eine Welt, die sich ohne den Filter des erwachsenen Vorurteils als weitaus weniger merkwürdig erweist als erwartet.
Ein Jahr und ein paar Monate sollen es sein, die man abseits der deutschen Heimat verbringen wird. Ziel der merkwürdigen Reise, im Zuge derer Vater Müller den Bau einer Windkraftanlage beaufsichtigen soll, ist UNMIKISTAN*.
10 Buchstaben, die innerhalb der Familie Müller völlig unterschiedliche Assoziationen wachrufen.
Während Vater Müller sich durch die hoffentlich erfolgreiche Umsetzung seines Auftrages bereits auf halbem Wege zum Nobelpreis sieht, stehen seiner Frau, der Juristin, beim Gedanken an eine völlig fremde Kultur mit sicherlich barbarischem Rechtsverständnis augenblicklich die Haare zu Berge – Karriere des Gatten hin, notwendige Entwicklungshilfe her.
Tochter Giselas Kopfkino hingegen, ist bei Aussicht auf ein solches Abenteuer kaum mehr zu bremsen. Was wäre, wenn sie das elterliche Verbot heimlich umgehen, die Welt jenseits des Gartenzauns entdecken und auf einen Jungen mit verschiedenfarbigen Augen treffen würde …?

*Hinter dem Ziel der merkwürdigen Reise der Familie Müller verbirgt sich nichts anderes als der Kosovo. Die sarkastische Bezeichnung UNMIKISTAN spielt auf den Umstand an, dass die Region seit 1999 unter Aufsicht einer Interims-Zivilregierung, der UNMIK (United Nations Interim Administration Mission in Kosovo) steht, deren Mitarbeitenden von kosovarischer Seite häufig Unregelmäßigkeiten, politische Willkür und sonstige Fehlverhalten vorgeworfen werden.

Matthieu Delaportes und Alexandre de la Patellières Bühnenerfolg »Der Vorname« im Komödienhaus

Brillant-böses Desaster-Dinner

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen gemütlich mit Verwandten und alten Freunden beim gemeinsamen Abendessen zu Hause. Man kennt sich in- und auswendig – denkt man. Die Gastgeberin hat mit viel Aufwand ein exotisches Buffet vorbereitet, die Gäste haben den Wein mitgebracht. Jemand am Tisch ist schwanger, und natürlich fragt jemand: Wie soll das Kind denn heißen? Antwort: Adolf!

Soll das ein Scherz sein? Sprengt so etwas die Grenzen des guten Geschmacks, der politischen Korrektheit und der Toleranz? Wie viel Provokation vertragen Familien- und Freundschaftsbande wirklich? Und ist das komisch?

Die Antwort gibt der gigantische Erfolg, den »Der Vorname«, das Debütstück der beiden Franzosen Matthieu Delaporte und Alexandre de la Patellière, nicht nur im französischen und deutschen Sprachraum, sondern inzwischen auch international hat. Seit der Uraufführung 2010 in Paris begeistert die pointierte Konversationskomödie ihr Publikum, heimste den Preis SACD 2011 der Académie française und sechs Nominierungen für den wichtigsten französischen Theaterpreis, den Prix Molière, ein und wurde mit den Schauspiel-Stars Patrick Bruel und Charles Berling erfolgreich von den beiden Autoren auch auf die Kinoleinwand gebracht. Nicht verwunderlich, denn »eigentlich« arbeiten Delaporte und de la Patellière für Film und Fernsehen: Kennengelernt haben sich die beiden, als sie 1995 zufällig im selben Gebäude die Endfassung ihrer Filme schnitten. Gemeinsam waren sie bei der Produktionsfirma Onyx Films, schrieben Drehbücher und schufen die hoch gelobten Zeichentrickfilme »Renaissance« fürs Kino und »Skyland« fürs Fernsehen. Seit dem Überraschungserfolg von »Der Vorname« haben sie mit »Das Abschiedsdinner« und »Alles was Sie wollen« zwei weitere Theaterstücke herausgebracht.

»Der Vorname« spielt an einem Abend in der Pariser Wohnung des Literaturprofessors Pierre (bei uns gespielt von Stefan Eichberg) und seiner Frau Elisabeth (Judith Lilly Raab). Eingeladen sind Elisabeths jüngerer Bruder Vincent (Oliver Firit) und seine schwangere Partnerin Anna (Stella Goritzki), sowie der Posaunist Claude (Raik Singer), ein langjähriger Freund der Gastgeber. Was als netter Abend unter Freunden beginnt, entwickelt sich zwischen  schmackhaften Briouats und Zaalouk zu einem wahren Desaster-Dinner, bei dem sich hinter der Fassade des linksliberalen Bildungsbürgertums gar finstere (und urkomische) Abgründe auftun. Und dann serviert ausgerechnet die »Pflaume« Claude zum Dessert noch ein pikantes Familiengeheimnis.

Für Regisseur Jens Kerbel und Ausstatterin Carla Friedrich, die in der letzten Spielzeit »Rita will‘s wissen« auf die Bühne des Komödienhauses brachten, besteht der Reiz und die Herausforderung bei »Der Vorname« darin, wie »brillant und böse« durch den hinterhältig gelegten Sprengsatz einer Provokation sehr schnell gesellschaftliche Konventionen, aufgeklärte Wertvorstellungen und bequem eingerichtete Lebensentwürfe in die Luft gewirbelt werden. Aus der kontroversen Diskussion um den »Vornamen« wird ein rasantes verbales Gefecht, bei dem jede/r der Anwesenden mehr als genügend Angriffsfläche bietet. Sind die Grenzen erst einmal überschritten, gibt es kein Halten mehr – und nicht nur der Wohnzimmertisch geht zu Bruch. Viel Vergnügen!

Schuldig oder nicht schuldig – wie werden Sie entscheiden?

Schuldig oder nicht schuldig – wie werden Sie entscheiden?

Gerechtigkeitsgttin

»Das Stück der Saison ist eigentlich kein Stück, Sondern ein Ereignis«, jubelte ein Kritiker. Und in »Der Spiegel« gestand der Filmemacher und promovierte Jurist Alexander Kluge: »Ich gehe nicht oft ins Theater. Aber ich wünschte mir mehr solcher Stücke.« Geschrieben wird hier über »Terror«, den derzeit meist gespielten deutschsprachigen Theatertext, der an 47 Bühnen, von Berlin bis Wien, von Kopenhagen bis Venezuela zu sehen ist.
»Terror« ist der Bühnenerstling von Ferdinand von Schirach, einem der auch international erfolgreichsten deutschen Schriftsteller und einem der prominentesten deutschen Strafverteidiger. 2009 debütierte er mit 45 Jahren mit dem Erzählband »Verbrechen« als Autor, inzwischen sind ein weiterer Band mit Erzählungen (»Schuld«), zwei Romane (»Der Fall Collini« und »Tabu«) und eine Reihe von Essays erschienen – und nun ein Theaterstück, das seit der Doppeluraufführung am 3. Oktober 2015 in Berlin und Frankfurt Publikum und Presse begeistert.
Von Schirach nutzt in »Terror« die inhärente Theatralität unseres Rechtssystems: Auf der Bühne läuft eine Gerichtsverhandlung ab, mit einem Vorsitzenden, einem Angeklagten, einem Verteidiger, einer Staatsanwältin und Zeugen. Ein – leider gar nicht mehr so unwahrscheinlicher – Fall wird verhandelt: Am 26. Mai 2013 entführte ein Terrorist einen Airbus der Lufthansa. Er drohte, das Flugzeug mitten in ein voll besetztes Fußballstadion, die Allianz-Arena in München, stürzen zu lassen und so 70 000 Menschen zu töten. Der Bundeswehr-Major Lars Koch hat das Flugzeug kurz vor der Katastrophe aber abgeschossen und dadurch 164 Menschen an Bord getötet. Nun soll vor der Großen Strafkammer des Schwurgerichts entschieden werden, ob er dafür schuldig oder unschuldig gesprochen wird. Und die Entscheidung trifft – das Publikum, das als Schöffinnen und Schöffen am Prozess beteiligt ist.
Mit diesem klugen »Kniff« kommt das Geschehen auf der Bühne tatsächlich »über die Rampe« und bezieht die Zuschauerinnen und Zuschauer unmittelbar mit ein. Nicht nur in den Prozessverlauf, sondern auch in den spannenden Diskurs über Recht und Gerechtigkeit, Schuld und Verantwortung, Moral und Ethik, den von Schirach hier anstößt.
Über die konkrete (Spiel-)Handlung hinaus veranstaltet er ein Gedankenexperiment, das zu einer eigenen Haltung herausfordert und drängende Fragen unserer Zeit zuspitzt: Darf Leben gegen Leben aufgewogen werden? Rechtfertigt der Zweck die Mittel? Sind die Werte unseres Grundgesetzes und der Kampf gegen den Terror, das Bedürfnis nach Sicherheit und der Drang nach Freiheit miteinander vereinbar? Nach welchen ethischen Koordinaten richten wir unser Leben und Handeln aus? Wie werden wir entscheiden? Was tun?
Am Theater Heilbronn inszeniert Intendant Axel Vornam dieses »Stück der Stunde« in einem stilisierten Gerichtssaal. Für die Rolle des Angeklagten, Major Lars Koch, kommt Ferdinand Seebacher als Gast noch einmal zurück ins Ensemble.

»Wir sind schon längst im freien Fall«

»Kriegerin« ab dem 24. September in der BOXX

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Für Marisa ist klar: »Wir sind keine Nazis. Wir sind rechts, das stimmt. Wir mögen Deutschland, das stimmt auch. Wir mögen Deutschland gerne deutsch.« Eben noch pöbelte sie mit ihren Leuten – allen voran Marisas Freund Sandro – gegen die in ihrer Stadt untergebrachten Geflüchteten und fährt in einem Anflug exzessiver Gewalt die afghanischen Brüder Rasul und Jamil mutwillig mit dem Auto an. Die darauf folgenden Ereignisse holen sie unvermittelt ein. Denn Rasul steht plötzlich im Supermarkt vor ihr und lässt sich nicht abschütteln. Zur selben Zeit steigt Svenja, fasziniert von den archaischen Ritualen und Parolen, immer tiefer in die rechte Szene ein. So stehen sich nicht nur Marisa und Rasul gegenüber, plötzlich sieht sich Marisa auch mit Svenjas Radikalisierung konfrontiert, die der ihren ähnlich und damit ein Spiegel ihrer bisherigen Einstellung ist. »Wir rasen nicht einmal mehr auf den Abgrund zu. Wir sind schon längst im freien Fall«, weiß Marisa.
»Auch wer lange in der rechten Szene drinsteckt, hat nicht jede Menschlichkeit verloren. Da darf man auch niemanden aufgeben.« David Wnendt, Regisseur des ausgezeichneten Kinofilms »Kriegerin«, ließ es nicht bei dieser Überlegung bewenden. Noch im Erscheinungsjahr des Films 2012 bezog Wnendt Stellung zur Frage, ob die Demokratiefeindlichkeit in der breiten Bevölkerung zunehmend auf fruchtbaren Boden falle: »Es gibt Umfragen, die besagen, dass mittlerweile über die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland der Demokratie skeptisch gegenüber steht. Das sind alarmierende Zahlen. Das parlamentarische System verliert zunehmend an Rückhalt. Die Rechtsextremen sind nicht vollkommen isoliert. Ihre Kritik am System findet auch Anklang bei normalen Bevölkerungsschichten.« Belege dafür liefern nicht zuletzt die seit 2014 anhaltenden Aufmärsche von Pegida und die Montagsmahnwachen, die sich als sogenannte »Volksbewegungen« präsentieren. Die Demonstrierenden bringen dort ihre gefühlte Bedrohung durch Flüchtlinge,  den Islam oder auch eine jüdisch-amerikanische Weltverschwörung zum Ausdruck. Auch wenn die Zahlen der Demonstranten derzeit rückläufig sind, die propagierten Inhalte bleiben öffentlichkeitswirksam. So ergab die aktuelle Mitte-Studie der Universität Leipzig von 2016, dass jeder und jede zweite Deutsche in diesem Jahr angab, sich »wie ein Fremder im eigenen Land« zu fühlen und das nachweislich über 40% der Befragten Muslimen und Muslimas die Zuwanderung nach Deutschland untersagen wollen. Immer noch werden diese Ergebnisse vielerorts als vermeintlich unerwarteter »Rechtsrucks in Deutschland« beschrieben; etwa, dass 21,9% der Aussage beipflichten, dass Deutschland jetzt eine einzige starke Partei brauche, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpere, 32,1% die Ansicht teilen, die Ausländer kämen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen und noch immer 12% der Befragten der Aussage voll zustimmen, dass die Deutschen anderen Völkern von Natur aus eigentlich überlegen seien. Tatsächlich aber werden dadurch die faktischen Entwicklungen der mindestens letzten 25 Jahre innerhalb Deutschlands und Europas verschleiert.
Ohne kategorische Antworten zu liefern, zeigt »Kriegerin« die tiefsitzenden Ängste vor dem vermeintlich Anderen. Einerseits lässt sich das Verführungspotenzial rassistischer Gesinnungen durch die theatrale Bearbeitung einmal mehr zur Diskussion stellen, andererseits aber auch die oft unterstellte Unmöglichkeit, eine Veränderung der Wahrnehmung und eine Empathie für den Anderen hier als eine Möglichkeit erfahren.
Nach »Krieg – Stell dir vor, er wäre hier« eröffnet Adewale Teodros Adebisi die Spielzeit 2016/2017 in der BOXX mit seiner Inszenierung von »Kriegerin«. Die Ausstattung übernimmt Gesine Kuhn, die bereits für »Krieg – Stell dir vor, er wäre hier« und »Die Werkstatt der Schmetterlinge« Bühne und Kostüme entworfen hat.

In der Katastrophe wird die Wahrheit offenbar

 »Der Besuch der alten Dame« ab 23. September im Großen Haus

besuch-der-alten-dameEs ist »eine Geschichte, die sich irgendwo in Mitteleuropa ereignet, geschrieben von einem, der sich von diesen Leuten durchaus nicht distanziert und der sich nicht sicher ist, ob er anders handeln würde.« So beschreibt es Friedrich Dürrenmatt in seinen Anmerkungen zu »Der Besuch der alten Dame«. Das Stück spielt in Güllen, einer Kleinstadt, die sich in einer wirtschaftlichen Krise befindet. Es gibt viele Arbeitslose und die Industrie ist zusammengebrochen. Doch es gibt einen Hoffnungsschimmer: Claire Zachanassian, inzwischen die reichste Frau der Welt, hat ihren Besuch angekündigt, und so hoffen die Bewohner, dass die alte Dame, die selbst aus Güllen stammt, ihnen mit einer großzügigen Geldspende aus der Not helfen wird. Sie ist tatsächlich gekommen, um ihrer Heimatstadt zu helfen, aber sie verlangt im Gegenzug Gerechtigkeit. Claire, die damals noch Klara Wäscher hieß, musste Güllen vor vielen Jahren gedemütigt verlassen, nachdem sie von ihrem früheren Liebhaber Alfred Ill erst geschwängert und dann sitzengelassen wurde. Um der Vaterschaftsklage zu entgehen, hat er im Prozess Zeugen bestochen, die angaben, auch mit Klara geschlafen zu haben. Klara musste dadurch einerseits schmerzhaft erfahren, dass Liebe kein verlässlicher Wert ist und andererseits, dass man alles kaufen kann, Waren wie Menschen. Durch das Gerichtsurteil wurde sie zur Hure, zum Sinnbild der käuflichen Liebe. Und so ist es nicht die Wohltätigkeit, die sie treibt, sondern vielmehr der Wunsch nach Rache. Und sie kann es sich leisten. Denn mittlerweile hat sich das Blatt gewendet. Sie kommt zu Stückbeginn mit ihrem siebten Ehemann und einer Schar merkwürdiger Bediensteter angereist. Nun stellt sie die Bedingungen, denn sie hat die Finanzkraft. Und so verspricht sie eine Milliarde für Güllen – 500 Millionen für die Stadt, 500 Millionen verteilt auf alle Bürger – wenn jemand das Unrecht, das ihr angetan wurde, wiedergutmacht. Eine Milliarde, wenn jemand Alfred Ill tötet. Natürlich lehnt die Bevölkerung das Angebot zunächst aus moralischen Gründen ab. Doch schon bald beginnen die Menschen zu konsumieren, auf Kredit zu kaufen und sich immer mehr in den Maschen der Ökonomie zu verfangen.
Für Regisseurin Uta Koschel steht in diesem Stück jedoch nicht das menschliche Fehlverhalten des Einzelnen im Zentrum. Ihr Interesse gilt vielmehr der Zwangsläufigkeit der Geschichte. Durch das Angebot der alten Dame wird etwas in Gang gesetzt, das nicht mehr aufzuhalten ist. Natürlich will niemand Ill töten. Doch die Verlockungen des Konsums sind in der Not zu groß und so offenbart sich die Leichtfertigkeit, mit der die Menschen auf Kredit kaufen, die Augen vor den Konsequenzen verschließend. In »Der Besuch der alten Dame« bestätigt sich die marxistische Grundaussage, nach der das Sein das Bewusstsein bestimmt. Anders ausgedrückt heißt das, dass die materiellen Lebensumstände das Denken prägen. Dürrenmatt versteht sich nicht als Therapeut, sondern als Diagnostiker und skeptischer Opponent, dessen Literatur das Publikum zu Irritation und kritischer Reflexion bewegen soll. Und in der Tat stellt sich die Frage bei jedem von uns: Was würden wir anstelle der Güllener tun? Ist die Aussicht auf schnellen Reichtum wirklich so einfach zu verwerfen, wie es in moralischem Sinne sein sollte? Lebt uns der Kapitalismus nicht genau das vor? Kapital schafft Macht über all jene, die weniger besitzen. Im privaten wie globalen Kontext. Auf politischer Ebene wird unsere Finanzkraft genutzt, um anderen Staaten zu helfen, ihnen gleichzeitig aber auch die Bedingungen für diese Hilfe vorzuschreiben. Und »sie sind gezwungen unsere Auflagen zu erfüllen, denn ohne uns werden sie da nicht mehr herauskommen« (IWF-Chefin Christine Lagarde).
Was wir brauchen, ist ein gesellschaftliches Gewissen. Der kategorische Imperativ, den Kant 1785 entwickelte, muss zu einer gesellschaftlichen, allgemeinen Aufgabe werden. »Doch unser heutiges Gewissen ist pervertiert. Es lautet nicht: Ich bin gut. Es lautet: Die anderen sind ja auch schlecht.« Das stellte Dürrenmatt schon 1961 fest. Und bis heute hat sich daran nichts verändert. Wir ziehen uns mit dieser Ansicht schlichtweg aus der Verantwortung. Der mit dem Besuch der alten Dame rapide einsetzende Verfall der, von den Güllenern zu Beginn des Stücks noch hoch gepriesenen, »christlich-humanistischen Werte« zeigt in erschütternder Weise, dass solche Traditionen einer zunehmenden Ökonomisierung aller Lebensumstände kaum etwas entgegenzusetzen haben.
Doch was können wir tun? Protestieren. Vielleicht. Besser wäre es aber unsere Haltungen und Handlungen zu reflektieren. Denn unsere Entscheidungen haben Einfluss auf eine Zukunft, die noch gestaltet werden kann. Dürrenmatt kommt 1969 in seinem »Monstervertrag über Gerechtigkeit und Recht« zu dem Ergebnis: »Nicht der Einzelne verändert die Wirklichkeit, die Wirklichkeit wird von allen verändert. Die Wirklichkeit sind wir alle, und wir sind immer nur Einzelne.«

Mit »Don Quijote« verabschiedet sich Alejandro Quintana als Chefregisseur

Alejandro QuintanaAcht Jahre lang hat Alejandro Quintana als Chefregisseur die künstlerische Entwicklung im Schauspiel des Theaters Heilbronn mitgeprägt. Jetzt verabschiedet er sich mit der Inszenierung des »Don Quijote« und geht mit 65 Jahren in den Un-Ruhestand, will heißen: in die freie berufliche Arbeit. »Denn richtige Theaterleute gehen nie in Pension«, sagt er. Der »Don Quijote« nach Cervantes ist ihm eine Herzensangelegenheit. Der Stoff hat in Lateinamerika, Quintana stammt aus Chile, mindestens die Bedeutung wie bei uns Goethes »Faust« und wurde von einer Jury aus 100 bekannten Schriftstellern 2002 zum besten Buch der Welt gekürt. Kein Wunder, meint Alejandro Quintana. Diese Geschichte über den verrückten Ritter ist, wenn man genauer hinschaut, ein zutiefst philosophisches Werk über das Leben in all seinen Facetten. Es geht um die Suche nach Gerechtigkeit, um tiefe Freundschaft, ums Scheitern und Weitermachen, um Träume, Utopien und darum, dass man alles wagen muss, damit sie wahr werden. Don Quijote prägt die Menschen in Lateinamerika von Kindesbeinen an. Er ist dort, wo das Leben viel schwieriger ist als hier in Deutschland, Trost und Ermunterung zum Aufbegehren zugleich. Dieser Held seiner Kindheit und Jugend hat Alejandro Quintana auch in seine zweite Heimat Deutschland begleitet, in der er seit 43 Jahren lebt. »Fast hätte ich den Luxus, in dem wir hier arbeiten können, als Selbstverständlichkeit gesehen«, sagt er. Aber als er 2014 nach über 40 Jahren wieder in Santiago de Chile inszeniert hat, wurde ihm bewusst, auf welcher Insel der Glückseligen wir leben; erst recht in einer wohlhabenden, prosperierenden Stadt wie Heilbronn.
Acht Jahre Heilbronn. Was wird für ihn bleiben? Erinnerungen an eine wunderbare Theaterzeit mit einem unglaublich interessierten Publikum, wie er es in keiner anderen Stadt bisher erlebt hat. Gute Schauspieler, die im Laufe der Jahre noch besser geworden sind und auf jeder Bühne bestehen könnten. Inszenierungen, von denen er sagt, es seien alles seine Kinder. »Das eine hat eine zu lange Nase, das nächste zu große Ohren – aber ich stehe zu ihnen und liebe jedes  auf seine Weise.« Heilbronn wird aber auch ewig mit einem der bittersten Momente seines Lebens verbunden sein: Ein Journalist hat versucht, mit gegen ihn gerichteten Stasi-Vorwürfen den Neuanfang am Theater unter Intendant Axel Vornam zu torpedieren. Und das, indem er diese gezielt zwei Tage vor dem Start der neuen Mannschaft in der Presse lancierte. Durch gründliche Recherchen anderer Medien erwiesen sich die Anschuldigungen schnell als unhaltbar. Mit dieser bedrohlichen Erfahrung ist aber auch eine seiner schönsten eng verbunden, sagt Alejandro Quintana: Die Haltung der Stadt Heilbronn, der Zuschauer und des Intendanten, die besonnen reagiert und ihm die Chance zur Aufklärung gegeben haben. Er ist immer noch berührt, wenn er an seine Eröffnungspremiere von »Nathan der Weise« denkt, als die Zuschauer im ausverkauften Saal minutenlang im Stehen applaudiert haben. »Ich habe die Stadt sehr zu schätzen gelernt«, sagt Alejandro Quintana. Denn schon damals habe sich gezeigt, dass das Zusammenleben in Heilbronn von einer starken funktionierenden Bürgerschaft geprägt sei, die Verantwortung übernimmt. Heilbronn sei ein Musterbeispiel an Integration. »Humanismus und Bürgerlichkeit im besten Sinne gehen hier zusammen«, sagt er und ergänzt: »Den Leuten geht es gut, sie können sich das leisten.«
Zusammen mit seiner Partnerin Sylvia Bretschneider zieht Alejandro Quintana nun ins Mecklenburgische Feldberg, in die Nähe von Familie und Freunden. Den Ort und die Menschen dort kennen die beiden aus vielen Urlauben, da wollen sie leben und, so ist es verabredet, zusammen mit der Gemeinde kulturelle Projekte für Menschen der unterschiedlichsten Altersgruppen entwickeln. Außerdem warten auf Alejandro Quintana Aufgaben als Schauspieldozent und Regieaufträge von verschiedenen Theatern. Zudem wird er mindestens alle 18 Monate in Chile ein Schauspiel realisieren. Seine jüngste Inszenierung »Fausto sudaca« feierte im Dezember Premiere in Santiago de Chile und wurde von der Kritik überschwänglich gefeiert. »Ein mitreißendes und faszinierendes Stück Theater, was vor allem auch der Inszenierung Alejandro Quintanas geschuldet ist. Dem Chefregisseur am Theater Heilbronn gelingt es, seine Ansprüche an das Bühnenspiel glänzend einzulösen: ›Das Theater muss durch Augen und Ohren dringen, auf den Magen schlagen und den Kopf erreichen. Sehen, fühlen, eine Katharsis ermöglichen und das Denken anregen‹«, heißt es in einer Kritik. Typisch Alejandro!
Deshalb ist es schön, dass er Heilbronn auch weiterhin als Regisseur verbunden bleibt. Aber erst einmal freuen wir uns auf seinen »Don Quijote«.

Wenn hinter dem Himmel von morgen der Abgrund des Scheiterns beginnt

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Mit „Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution“ kommt erstmals ein Stück von Heiner Müller auf die Bühne des Theaters Heilbronn. Ein Gespräch mit Intendant und Regisseur Axel Vornam über den Autor, die Verantwortung für den Fortschritt und den Spaß am Weiterdenken.

von Kristin Päckert

Heiner Müller ist für Sie einer der wichtigsten Theaterautoren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie haben ihn auch persönlich kennen gelernt.

Ja, das ist aber schon lange her. Das war Mitte oder Ende der siebziger Jahre, als ich am Studententheater war. Da begann er gerade berühmt zu werden. Er war der große Geheimtipp unter den Autoren und eine sehr beeindruckende Persönlichkeit. Wenn Heiner Müller gesprochen hat, ging es nie um irgendetwas Banales. Man hatte immer den Eindruck, man hört jemanden beim Nachdenken, Entwickeln und Philosophieren zu. Das fand ich schon sehr spannend. Seine Art zu denken war sehr geschult an Dialektik. Das ist auch sein Verständnis von Geschichte und Vorgängen und das findet sich auch in den Stücken wieder.

„Der Auftrag“ überführt die Konflikte zwischen Ost und West in die postkolonialistischen Konflikte zwischen sogenannter Erster und Dritter Welt und ist eines der derzeit am meisten gespielten Werke Müllers. Warum ist das Stück gerade heute so brisant?

Das hat sicherlich auch mit der Situation zu tun, in denen sich die europäischen Länder befinden, und damit, dass man das Gefühl hat, dass mit jedem Fortschritt auch bestimmte Verluste verbunden sind. Man muss nachfragen, was denn Fortschritt überhaupt heißt, jetzt, Anfang des 21. Jahrhunderts. Wie lässt er sich definieren? Inwieweit kann ich ihn überhaupt gestalten oder wann werde ich Opfer des eigenen Fortschritts, den ich initiiert habe? Wie kann ich Fortschritt als Prozess in eine Permanenz bringen? Es ist die Frage, wie man das austariert, wie man das versteht und ob man diese Verluste hinnehmen muss. Ob es gar nicht anders denkbar, gar nicht anders machbar ist. Das macht auch die Tragik in den Stücken von Heiner Müller aus. Immer wieder diese Differenz zwischen historischen Entwicklungen und dem Verhältnis des Subjektes dazu. Wir befinden uns in einer Art von Status Quo und natürlich kann man sich in dieser Gesellschaft einrichten. Aber es wird insgesamt nicht mehr infrage gestellt, ob diese Gesellschaft, so wie sie sich jetzt konstituiert, wirklich in der Lage ist Zukunftsfragen zu beantworten. Wir erleben permanent, dass sie das nicht ist. Man denke nur an die Klimakonferenzen, die alle scheitern, obwohl jeder weiß, dass es Ende des Jahrhunderts zu spät sein wird. Die Gesellschaft oder die Menschheit ist dabei, sich selbst abzuschaffen. Mit sehendem Auge rennt sie auf den Abgrund zu. Und da ist man natürlich auch im Verständnis von Heiner Müller, der sagt, dass es vielleicht genau diese Katastrophe braucht, um wieder über so etwas wie Fortschritt nachzudenken und ihn in Gang zu bringen. Was die sogenannte Flüchtlingskrise angeht, liegen die Ursachen nicht nur im Krieg in Syrien. Man hat diese ganze Region seit 20 Jahren destabilisiert. Die Amerikaner vorne dran mit Völkerrechtsverletzungen. Aber dazu gehört ebenfalls diese Art von Postkolonialismus, der auch ganz heftig von der EU betrieben wird.

Heiner Müller sagt, sein Interesse an der Wiederkehr des immer Gleichen, sei ein Interesse an der Sprengung des Kontinuums. Gerade jetzt stehen wir wieder in einer politischen Verantwortung. Die westliche Politik reagiert auf den Anschlag von Paris erneut mit militärischen Interventionen. Bisher haben diese militärischen Reaktionen jedoch nie zu einer Stabilisierung, sondern zu noch mehr Gewalt geführt. Sind wir erneut bei einer Wiederkehr des immer Gleichen? Wird man die Geister, die man rief denn eigentlich noch los?

Das weiß ich nicht. Zumindest aber muss man, und das ist auch der verzweifelte Versuch von Heiner Müller, diese Geister immer wieder heraufbeschwören. Er hat mal diesen Satz geprägt: „Das Bekannte ist nicht erkannt.“ Wir haben uns an bestimmte Phänomene schon gewöhnt, aber wir befragen sie nicht mehr. Und das ist einfach der Punkt. Man muss sie immer wieder ausgraben, sie befragen. Sonst hat man gar keine Chance, diese Art von Kontinuum der Wiederkehr des immer Gleichen zu durchbrechen. Das funktioniert nur, wenn man immer wieder auf die Bruchstellen von Geschichte verweist. Das Furchtbare ist aber auch, dass ich in dem Moment, wo ich etwas verändere, auch damit rechnen muss, dass diese Veränderung etwas verändert, was ich vielleicht gar nicht verändert haben möchte. Da ist der Verweis auf die Risiken enthalten. Müller sagte: „Ich glaube an die Ausformulierung von Differenzen. Das ist das Einzige, was Dinge in Bewegung setzen kann.“ Das ist auch Aufgabe des Theaters, genau diese Differenzen aufzumachen und zu beschreiben. Bis zur Unerträglichkeit. Das Theater muss sich dann auch nicht wundern, wenn es nicht immer gemocht wird. Aber es ist wichtig, dass man es tut. Und, was das angeht, ist „Der Auftrag“ ein wichtiges Stück.

Heiner Müller hat sich besonders für das Motiv des Verrats interessiert, auch wegen seiner eigenen Ausreisegenehmigung. Spürbar ist dies in der Figur des Debuisson, der nach dem Siegeszug Napoleons den Auftrag als hinfällig betrachtet und zurück in den Schoß seiner Familie kehrt.

Naja, der Verrat ist aber ein schwer auszuhaltender. Wenn man sich einer gesellschaftlichen Utopie verpflichtet fühlt und diese auch weiter tragen will, ist der Moment, in dem in Frankreich die Konterrevolution zuschlägt, der Versuch dieser gesellschaftlichen Utopie also abgebrochen wird, für jemanden wie Debuisson schwer erträglich. Dann kommt die Frage nach der Sinnhaftigkeit dessen, was man bis dahin getan hat. Das Schlimme ist das Bewusstsein darüber. Das ist das, was die Figuren von Heiner Müller auch auszeichnet. Sie wissen um ihr Handeln, sie reflektieren es. Denen passiert es nicht, dass sie sagen, ich verkaufe mich ans Kapital und werde Manager oder Ingenieur und verdiene 150.000€ im Jahr, kann mir mein Einfamilienhaus kaufen und stütze damit dieses System, obwohl es eigentlich falsch ist. Das ist die Sache, die diese Figuren umtreibt und auch verzweifeln lässt. Als Antoine oder dann am Ende auch Debuisson.

Welche Rolle spielt dabei die Französische Revolution?

Sie ist nur das Vehikel. Es ist ja keine kontinuierliche Geschichte, in der die Französische Revolution abgehandelt wird. Büchner hat sich auch nicht für die Französische Revolution an sich interessiert, sondern für die deutschen Verhältnisse 1830. Also die Zeit der finstersten Restaurationen und Kleinstaaterei, und dieser Hoffnungslosigkeit, dass alles, was Französische Revolution war, dieser Funke von Aufbruch oder Fortschritt, mit Soldatenstiefeln niedergetrampelt. Also eine Zeit, in der nicht absehbar war, dass es da überhaupt eine gesellschaftliche Bewegung geben könnte. Und das ist natürlich das, was Heiner Müller auf eine ganz andere Art und Weise auch immer permanent untersucht. Diese Nicht-Bewegung, die wir gegenwärtig verzeichnen. In der man das Gefühl hat, es gibt eigentlich auch keinen gesellschaftlichen Diskurs mehr über so etwas wie Utopie. Es gibt keine gesellschaftliche Vision mehr. Sondern das, was passiert, ist, dass man den Status Quo mehr recht als schlecht verwaltet und auf Ärgernisse oder auf Veränderungen reagiert. Das ist ein Reagieren aber kein Gestalten mehr.

Ist das Stück auch dafür da, den Diskurs noch einmal neu anzuregen?

Na sicher. Das ist eine Sensibilisierung für die Widersprüche dieser Zeit, die zum Teil gar nicht mehr besprochen werden. Auch in den Parlamenten setzt man sich ja nicht wirklich mit den gesellschaftlichen Problemen auseinander. Das sind mehr oder weniger Reparaturkolonnen, die da unterwegs sind. Mehr aber auch nicht. Das, was man jetzt macht, das lässt sich trefflich an einem Beispiel beschreiben. Seit den achtziger Jahren wurde über die Festung Europa gesprochen. Seither sagt man, wenn die Entwicklungen zwischen Erster und Dritter Welt weiter so auseinander laufen – und man kann es jetzt einfach benennen als die Schere zwischen Arm und Reich – dann werden die Leute irgendwann vor Europa stehen und zu recht sagen: „Wir wollen was zu fressen haben“. Und die wird dann auch kein Stacheldrahtzaun zurückhalten, die werden teilhaben wollen. Diese Situation ist lange absehbar gewesen. Man muss auch fragen, ob man überhaupt daran interessiert gewesen ist, da stabile Verhältnisse einkehren zu lassen oder ob man sich nicht verkalkuliert hat. Ob das Irak ist oder der Arabische Frühling, den man so fröhlich beklatscht hat. Jetzt sieht man, dass daraus keine stabilen Verhältnisse und politische Strukturen erwachsen sind, sondern die Konflikte aufbrechen, die über Jahrzehnte erheblich durch diese autoritären Regierungsformen untern Teppich gehalten wurden.

Der Engel der Verzweiflung ist eine allegorische Figur, der auf Walter Benjamins Engel der Geschichte verweist. Wie steht er zum Stück?

Das ist einerseits eine Art Kommentarebene, andererseits in gewisser Weise auch die innere Stimme von Antoine. Das ist auch die Reflektiertheit dieser Figuren, die genau wissen, was sie tun und woran sie verzweifeln. Und das hat schon damit zu tun, wenn er sagt „ich bin der kommende Aufstand“. Aber da ist das Scheitern schon mit formuliert. Und das ist das, was die Figuren auch in den Wahnsinn treibt, das wirklich tragische Moment, wo es dann in gewisser Weise auch die Dimension einer griechischen Tragödie hat. Ich weiß, ich werde etwas wieder und wieder tun und ich weiß in dem Moment, in dem ich die Särge der Toten aufsprenge und der Himmel der Aufstand ist, lauert dahinter schon der Abgrund des Scheiterns. Das ist dieser Moment, in dem die Revolution institutionell wird oder in sich selbst gefriert. Und das ist auch der Moment dieser allegorischen Figur. Das ist auch das Faszinierende in den Texten Müllers, dass in diesen paar Zeilen, die man natürlich nicht bis ins Letzte analysieren kann, immer auch ein gewisser Interpretationsspielraum ist. Das ist die Qualität dieser Sprache, dass sie ganz unterschiedliche Assoziationen bei einem auslöst, die man nicht immer unbedingt in Begriffe fassen kann. Das ist ja auch ein harter Prozess eines permanenten Versuches, sich dem anzunähern, es verstehen zu wollen. Es gibt ja auch Texte, die habe ich durchgelesen und dann habe ich sie verstanden. Das war’s. Aber um die muss ich mich auch nicht weiter bemühen. Und das ist ja das, an dem man dann Spaß daran hat, wenn man es möchte, dass man an diesen Texten gedanklich immer weiter arbeitet, um dahinter zu kommen. Dieser Text ist voll von Brüchen. Prosatexte wechseln sich ab mit Spielszenen und Traumsequenzen, die sich unmittelbar anschließen. Das macht den Reiz dieses Textes aus. Man kann keiner kontinuierlich erzählten Geschichte folgen, sondern ist gezwungen, jede Szene und jeden Moment neu zu bewerten und sich neu anzueignen. Und das ist auch das Vergnügen, zu dem man die Zuschauer einlädt. Der Abend wird keine einfachen Antworten erzeugen, sondern im besten Fall nachwirken. Vielleicht wird man Sätze im Ohr haben, die einen nicht loslassen, weil man versucht sie zu begreifen oder ins Verhältnis zur eigenen Realität zu setzen. Und das ist, glaube ich, das spannende, was so ein Text kann.