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THEATERKASSE
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Sie weiß bis heute nicht warum, aber Johanna Sembritzki hat schon als kleines Kind behauptet, dass sie einmal Schauspielerin wird.
»Da kann ich alles mal ausprobieren und muss mich nicht für einen Beruf entscheiden, war damals meine Begründung«, erinnert sich die dunkelblondgelockte Frau mit dem Schalk in den Augen. So richtig Feuer fing sie bei einem Theaterbesuch in ihrer Heimatstadt Bochum. Da sah sie im Theater »Dantons Tod« in der Inszenierung von Leander Haußmann und dachte: Das will ich auch. Die Lucile aus Büchners Revolutionsdrama, die ihrem Mann letztlich bis in den Tod folgt, hat sie tief beeindruckt. Ohnehin war sie bereits als Jugendliche in der Welt der Dramen zu Hause. Noch lieber als Romane las sie Goethe, Schiller, Büchner und Shakespeare, aber auch moderne englische Dramatik wie z.B. Sarah Kane, deren Stücke sie bis ins Mark trafen. In jedem dieser Texte hatte sie eine Figur, die sie besonders liebte und mit der sie sich identifizierte. »Das Gretchen war es komischerweise nie«, sagt sie. Eher so starke und radikale, aber auch gleichermaßen brüchige Charaktere wie Maria Stuart oder Lucile. Den Wunsch, Schauspielerin zu werden, setzte sie dann aber eher zögerlich um. Der Grund: Ihr Bruder Henning war gerade an der Schauspielschule angenommen worden. »Ich kann doch nicht das gleiche machen wie mein Bruder«, dachte sie.
Die Heilbronner werden sich noch an Henning Sembritzki erinnern, denn er gehörte einige Jahre zum Schauspielensemble des Heilbronner Theaters. Johanna studierte zunächst Polonistik und Afrikanistik in Berlin und bewarb sich schließlich doch heimlich an Schauspielschulen. Wieder war es Büchners Lucile, die sie bei den Vorsprechen begleitete. Von 2001 bis 2005 studierte sie dann in München an der Bayerischen Theaterakademie »August Everding« und stand schon ab dem ersten Studienjahr im Residenztheater München auf der Bühne in Inszenierungen von Dieter Dorn und Thomas Langhoff. Während dieser Zeit spielte sie auch in Doris Dörries Film »Der Fischer und seine Frau« mit. »Es war eine total aufwendige Szene im strömenden Regen auf einem Müllplatz mit einem Baby, die dann aber herausgeschnitten wurde, weil das Kind ununterbrochen schrie.« Heute kann sie darüber lachen.
Nach dem Studium führte ihr erstes Festengagement sie wieder in ihre Heimatstadt ans Schauspielhaus Bochum. Ein Traum, auf der Bühne stehen zu dürfen, auf der sie früher die Darsteller bewundert hat. Als Tochter der Stadt wurde sie besonders vom Publikum und auch von vielen Kollegen ins Herz geschlossen. »Bis heute kennen mich die Leute, wenn ich dort zu Besuch bin und meine Mutter wird oft nach mir gefragt«, sagt sie. Die nächsten Jahre führten sie nach Lübeck, wo sie drei Jahre lang mit ihrem Bruder Henning zusammen auf der Bühne stand. »Wenn wir zusammen spielen, verbindet uns ein Urvertrauen, das nicht vieler Verabredungen bedarf«, sagt sie. In die Lübecker Jahre fiel auch die Geburt ihrer beiden Kinder – Johanna Sembritzki hat einen Sohn und eine Tochter. Fortan musste sie ihren Beruf mit dem Familienalltag unter einen Hut bringen. »Das geht mit viel Selbstdisziplin, einem straffen Tagesplan und einer guten Infrastruktur an Leuten, die einem helfen.« So sehr sie ihren Beruf auch liebt, die Kinder sind ihr größtes Glück. »Sie erden mich und machen mir immer wieder klar, dass es neben den Brettern, die die Welt bedeuten, noch viele andere wichtige Dinge gibt. « Ihr nächstes Engagement führte sie nach Neuss, wo sie die jungen weiblichen Hauptrollen hoch- und runterspielte. »Klar ist es schön, wenn man so jung besetzt wird«, sagt sie. Aber jetzt werde es Zeit für einen Fachwechsel, schließlich hat sie die Mitte 30 schon überschritten – auch wenn man es ihr überhaupt nicht ansieht. Nun also Heilbronn. »Ich liebe diese Bühne«, schwärmt sie. Eine ähnlich schöne Bühne hat sie zuletzt in Bochum erlebt. Sie mag die schiere Größe, aber auch das Gefühl, dass alle, die auf der Bühne und hinter den Kulissen arbeiten, unbedingt wollen, dass es gelingt.
Die Holzbildhauerei war auch eine Option. Sarah Finkel ist offenbar eine vielseitig begabte junge Frau. Sie solle ihre tolle Stimme nutzen und diese beruflich einsetzen – zum Beispiel beim Radio, rieten ihr die einen. Auf keinen Fall dürfe sie ihre künstlerisch-kreative Ader verkümmern lassen, meinten die anderen. Also probierte sie erst einmal die bildende Kunst und studierte Holzbildhauerei in dem schönen Ort Oberammergau.
»Es hat Spaß gemacht. Aber irgendwas hat gefehlt«, sagt die junge Frau mit der dunklen Lockenmähne. Während ihrer Schulzeit in Landshut hat sie Theater gespielt. Warum also nicht versuchen, das Kapital aus künstlerischer Ader und interessanter Stimme zusammen zu nutzen. »Ich habe dann beschlossen, es einfach zu probieren und an Schauspielschulen vorsprechen zu gehen«, erzählt Sarah Finkel. Es hat auf Anhieb geklappt an der Athanor Akademie für Darstellende Kunst in Passau, wo sie von 2013-2017 ihre Schauspielausbildung absolvierte. »Da hatte ich meine innere Ruhe und mein Glück gefunden und das Gefühl richtig zu sein«, sagt die junge Frau. Ihre ersten Berufserfahrungen sammelte sie als freie Schauspielerin in Kurzfilmen und in mehreren Stückengagements am Theater Paderborn. Unter anderem entwickelte sie zum Thema 100 Jahre Frauenwahlrecht einen feministischen Schlagerabend über die Entwicklung der Rolle der Frau von 1919 bis 2019. »Wir sind in den 100 Jahren weit gekommen«, sagt sie, »aber wir dürfen uns nicht ausruhen.« Der Gesang ist ihre große Leidenschaft und der Einsatz für die Rechte der Frauen ein wichtiges, persönliches Anliegen.
Zwei Sommer lang spielte sie im Kulturmobil Niederbayern, einer professionellen Schauspieltruppe, die ganz den Ursprüngen des Schauspielerberufes verpflichtet ist: Die Schauspieler ziehen von Ort zu Ort und spielen dort für die Menschen abseits der Theaterzentren. Für den Sommer 2019 hatte sie ihr Engagement für das Kulturmobil bereits unterschrieben, als die Einladung zum Vorsprechen aus dem Theater Heilbronn kam. Sarah Finkel überzeugte die Heilbronner Theaterleitung und saß in der Zwickmühle. Die Proben für ihr erstes Stück im Jungen Theater liefen parallel zu denen für das niederbayerische Volksstück »Unkraut«, mit dem sie auf Tournee gehen wollte. Und während ihre neuen Kollegen des Heilbronner Schauspielensembles Sommerpause hätten, würde sie Abend für Abend in einem anderen Ort auf der Bühne stehen und spielen. Nix mit Erholung. »Aber wenn man seinen Vertrag unterzeichnet hat, dann lässt man die Kollegen nicht im Stich«, beschloss Sarah Finkel und stellte mit dieser Entscheidung schon mal eine der wichtigsten Tugenden eines Schauspielers unter Beweis: absolute Zuverlässigkeit. Mit den Heilbronnern einigte sie sich, dass sie zeitversetzt zu ihren Verpflichtungen beim Kulturmobil proben konnte. Und so spielte sie den ganzen Sommer lang vor einem begeisterten Publikum und brach mit ihrer Truppe vom Kulturmobil alle Zuschauerrekorde. Kaum war der letzte Vorhang für »Unkraut« gefallen, startete sie in ihre erste Spielzeit im Festengagement am Jungen Theater Heilbronn.
Ein schönes Haus und ein guter Spielplan, das ist das erste, was ihr zum Theater Heilbronn einfällt. Alles andere will sie auf sich zukommen lassen und erst einmal spielen, spielen, spielen mit dem schönen Gefühl, ein zweijähriges Festengagement zu haben. »Mir ist klar, dass ich in diesen zwei Jahren im Jungen Theater kaum von der Bühne herunterkommen werde«, sagt Sarah Finkel. Ihren Einstand gibt sie als Nowlen, eine 18-jährige Obdachlose in dem Stück »No und ich« von Delphine de Vigan. Ein großartiges Stück, wie sie findet. Sehr aktuell, ohne moralischen Zeigefinger. Auch wenn sie das Gefühl von Obdachlosigkeit nicht kennt, fühlt sie sich ihrer Figur nahe, denn auch sie weiß, was es heißt, für das persönliche Glück zu kämpfen. Ihr Lebensmotto stammt von Samuel Beckett und lautet: »Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail Better.«
Auftaktveranstaltung der Reihe »Erinnerung ist Liebe zur Zukunft« zieht eine Bilanz von 29 Jahren Deutscher Einheit
Es war
eine emotionsgeladene, hochspannende und anregende Diskussion, mit der die
Veranstaltungsreihe »Erinnerung ist Liebe zur Zukunft« in der sehr gut
besuchten BOXX des Theaters Heilbronn eröffnet wurde. »29 Deutsche Einheit –
eine Bilanz«, so lautete der schlichte Titel. Über die Situation in Deutschland, das seit 29 Jahren
wiedervereint, aber von einer wirklichen Einheit weit entfernt ist, diskutierten: Dr. Adriana Lettrari, Organisationsberaterin,
Publizistin und Mitbegründerin des Netzwerks „3te Generation Ostdeutschland“; Dr. Hans-Joachim Maaz, der Vorsitzende
des Instituts für Tiefenpsychologie und psychosoziale Prävention e. V. und
Gründer der Hans-Joachim Maaz – Stiftung Beziehungskultur und Heilbronns Intendant Axel Vornam, der durch seine
deutsch-deutsche Biographie und seine Arbeit als politisch wirkender Künstler
die Umbrüche der deutschen Geschichte aus einer besonderen Perspektive
betrachtet. Zwischen Moderation und Diskussion switchte Prof.Dr. Martin Sabrow
munter und souverän hin und her, er ist Direktor des Zentrums für
Zeithistorische Forschung in Potsdam und Professor für Neueste Geschichte und
Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Endlich kommt
die Debatte im Westen an
Endlich, sagt Dr. Adriana Lettrari, kommt die
Debatte über die Erfolge und Misserfolge des Deutschen Einheitsprozesses auch
in Westdeutschland an. Vor fünf Jahren, zum 25. Jahrestag des Mauerfalls,
fanden diese Gesprächsrunden fast ausschließlich im Osten statt, der Westen hat
sich nicht dafür interessiert. Auch Prof. Dr. Martin Sabrow freut sich, dass
das Theater in einer westdeutschen Stadt mit der Reihe »Erinnerung ist Liebe
zur Zukunft« auf die Bilanz der letzten 30 Jahre schaut. Und er fragt, warum
wir mehr die Einheit, als die Freiheit feiern. Dr. Hans-Joachim Maaz, der von
Sabrow als »Experte für ostdeutsche Befindlichkeiten« vorgestellt wurde, nannte
den Mauerfall das größte Ereignis seines Lebens. Aber mit der Einheit, mit der
sei er nicht zufrieden. Er unterscheidet zwischen der »äußeren Freiheit« der
offenen Grenzen und der Reisemöglichkeiten, die ganz klar errungen wurde, und der
»inneren Freiheit«, von der man weit entfernt sei. Innere Freiheit bedeute für
ihn, dass sich das »Selbst« frei entfalten kann, dass mantun kann, was man will, oder sich aus
Einsicht zurückhält. »Wie kann es sein, dass die Meinungsfreiheit
vom Mainstream wieder derartig eingeengt wird«, fragt er. Und außerdem: Sich
darstellen und immer verkaufen zu müssen, damit kämen viele Menschen aus dem
Osten nicht klar.
Nach dem
heißen Herbst 89 kam die Ernüchterung
Axel Vornam beschreibt die Zeit zwischen September und November 1989, den heißen Herbst 89, als spannendste Zeit. Er selbst moderierte an seiner damaligen Wirkungsstätte, dem Theater Rudolstadt den »Dialog 89«, in dem die Menschen diskutierten, wie man die DDR zu einem freiheitlichen, demokratischen Staat formen kann. »Zwischen ›Wir sind d a s Volk‹ und ›Wir sind e i n Volk‹ lagen gerade mal sechs Wochen«. Danach sei es mit den demokratischen Reformen auf dem Gebiet der DDR vorbei gewesen. Es sei nur noch um die Einheit gegangen, die dann eher ein Anschluss der DDR wurde, erinnert er sich. Viele Künstler und Intellektuelle hätten sich von dem Augenblick an aus der gesellschaftlichen Debatte zurückgezogen. Prof. Sabrow konstatiert die Enttäuschung, die 1990 auf die Euphorie der friedlichen Revolution folgte, merkt aber auch an, dass die DDR nicht einfach von der alten Bundesrepublik übernommen worden sei, sondern dass ein Großteil der Bürger die D-Mark wollte und nach den gleichen Lebensverhältnissen wie im Westen strebte. Diesem Druck konnten auch die vorsichtigen Politiker aus dem Westen, die den Prozess eher langsam vorantreiben wollten, nichts entgegensetzen. »Das, was 1989 passiert ist, ist so unendlich überraschend gewesen, niemand hatte ein Szenario dafür«, beschreibt Adriana Lettrari.
Die beiden
Koreas lernen von den Fehlern der Deutschen
Die beiden Koreas lernen aus den Fehlern des
deutsch-deutschen Zusammenwachsens. Adriana Lettrari ist genauso wie Hans-Joachim
Maaz von Mitarbeitern eines Wiedervereinigungsministeriums in Südkorea befragt
worden, die den deutschen Einheitsprozess genauestens analysieren und einen
Plan für die Zusammenführung der beiden Koreas entwickeln.
Wo liegen
die Fehler?
Aus Sicht von Hans-Joachim Maaz besteht der
Grundfehler der Deutschen Einheit darin, dass die Ostdeutschen nach der
friedlichen Revolution nicht die Macht in ihrem eigenen Land übernommen hätten.
»Wir sind übergelaufen.« Es gab keinen Einigungsprozess, keine neue, gemeinsam
entwickelte Verfassung. Die Menschen im Osten hätten das vermeintlich bessere
Leben des Westens gewählt. Keine der beiden Seiten habe danach gefragt, was
vielleicht aus der DDR bewahrenswert gewesen wäre oder was vielleicht am
westdeutschen Leben falsch war.
Axel Vornam spricht von einer mehrfachen Enteignung der Ostdeutschen. Sie hätten die Freiheit gewählt und einen Verlust ihrer Arbeitsplätze, eine Aberkennung ihrer Lebensleistung und einen Elitenaustausch erfahren, der bis heute nachwirkt. »Die Frustrationen im Osten ist kein Ergebnis der DDR, sondern sie resultieren aus den zum Teil bitteren Erfahrungen danach.«
»Wie kann es sein, dass nur 1,7 Prozent der Führungspositionen in Deutschland mit Ostdeutschen besetzt sind«, fragt Lettrari. Jetzt sei es an der Zeit, dass ihre Generation der Nachwendekinder mit den Erfahrungen beider Systeme an die Reihe komme, in Führungspositionen aufzusteigen, um wieder ein gesellschaftliches Gleichgewicht herzustellen. Und sie ergänzt: Mit den Erfahrungen von heute: Würde man das heute noch einmal genauso machen? Gibt es vielleicht auch so etwas wie eine Scham der Westdeutschen über die Versäumnisse des Einigungsprozesses?
»Scham? Nein!«, sagt Sabrow. »Sorgen? Sehr wohl!« Er kritisiert das sich Einrichten in den deutsch-deutschen Befindlichkeiten, vermisst die Einordnung der Ereignisse von 1989/90 in die globalen Zusammenhänge. Er ist sehr stolz auf das Institut, das er leitet und beschreibt: »Wir haben uns sehr lange unsere Biografien erzählt. Viele meiner Mitarbeiter sind ost-westdeutsche Hybridwesen.«
Den Osten
nicht in die rechte Ecke stellen
»Aber sind all diese Versäumnisse ein Grund,
dass man rechtsradikal wählt?«, zeigt Sabrow sein Unverständnis für die Stärke
der AfD in Ostdeutschland.
Maaz betont, dass viele AfD-Wähler einzig und allein, um den größtmöglichen
Protest zu äußern und den etablierten Parteien den schmerzhaftesten Denkzettel
zu erteilen, so und nicht anders abstimmten. Die wenigsten von ihnen hätten eine
rechtsradikale Gesinnung. Er sieht eine große Gefahr darin, den Osten in die
braune Ecke zu stellen. Stattdessen solle man lieber nachfragen, wo die
Ursachen für dieses Verhalten lägen. Aber damit müsse man die gesamte deutsche
Entwicklung der letzten 30 Jahre hinterfragen – in Ost- wie in Westdeutschland.
Adriana Lettrari konstatiert die massenhafte Abwanderung der gut ausgebildeten
Nachwendekinder, die ein politisches Gegengewicht bilden könnten, in den
Westen. Im Übrigen hätten von den 34 000 AfD-Mitgliedern 27 000
Frauen und Männer und 90 Prozent des Führungspersonals eine westdeutsche
Biografie.
Vornam glaubt, dass die Hoffnungen, die der Osten gegenüber der Demokratie und
den Versprechungen der Politik gehegt habe, nicht aufgegangen seien. »Diese
Hoffnung war in gewisser Weise naiv.«
Stimmen
aus dem Publikum
Richtig heiß her ging es, als das Publikum in
die Diskussion einbezogen wurde – hier einige Stimmen:
Sind die
Menschen im Osten und zunehmend auch die im Westen vielleicht irritiert von den
Auswüchsen des Kapitalismus?
Eigentlich
hat man im Osten ja gelernt, wie der Kapitalismus funktioniert. Aber das haben
die Menschen so schnell vergessen. Antikapitalismus und Antifaschismus – beides
wurde sehr schnell über Bord geworfen.
Es gibt
nicht d e n Osten und d e n Westen. Die Biografien in
beiden Teilen Deutschlands sind sehr unterschiedlich!
Ich habe
hier aus dem Westen mit großer Spannung auf die Ereignisse in Ostdeutschland
geschaut und gehofft, dass man sich dort einen eigenen, freien Staat schafft.
Und so weiter und so fort …
Moderator Prof. Dr. Martin Sabrow konnte nur
konstatieren: »Wir merken angesichts der heftigen Diskussionen: Es geht um was! Das Thema lässt
niemanden kalt.«
Aber wo sonst als im Theater gibt es die Möglichkeit, sich mit Gründlichkeit
dieser Thematik anzunehmen und in den Dialog zu treten, der so überfällig ist.
Geredet wurde auch im Anschluss an die Podiumsdiskussion lange und ausführlich. Die nächste Gelegenheit zur Fortführung des Dialogs gibt es am 4. November im Kinostar Arthaus-Kino. Hier läuft der Grimme-Preis-gekrönte Film: »Novembertage – Stimmen und Wege« von Marcel Ophüls. Im Anschluss findet ein Publikumsgespräch mit dem Filmpublizisten Ralph Eue statt.
Ein Gespräch mit Dr. Mirjam Meuser über »Erinnerung ist Liebe zur Zukunft«
Aus Anlass des 30. Jahrestages des Mauerfalls widmet sich das Theater Heilbronn in einer ganzen Veranstaltungsreihe dem Thema Deutsche Einheit. Unter dem Titel »Erinnerung ist Liebe zur Zukunft« finden monatliche Lesungen, Gesprächsrunden und Filmabende in Kooperation mit dem Kinostar Arthaus-Kino statt. Inhalt aller Veranstaltungen ist es, gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungen aus ihrem historischen Kontext heraus zu untersuchen. Kuratorin der Reihe ist Dr. Mirjam Meuser, Dramaturgin am Theater Heilbronn. Pressereferentin Silke Zschäckel hat sich mit ihr unterhalten.
S.Z.: »Erinnerung ist Liebe zur
Zukunft« – ein sehr schöner, sehr poetischer Titel: Woher kommt er?
M.M.: Eigentlich ist das der
Titel eines Heiner-Müller-Interviews, nur leicht abgewandelt. Der Titel heißt
ursprünglich »Nekrophilie ist Liebe zur Zukunft«. Die Liebe zu den Toten, das
Ausgraben der Toten – das ist die Liebe zur Zukunft. Das ist ein Zentralmotiv
im ganzen Müller’schen Werk. Ich habe das umgewandelt in »Erinnerung ist Liebe zur
Zukunft«, damit es nicht ganz so morbid klingt. Und zum anderen gibt es in der
Geschichtswissenschaft das Teilgebiet der Erinnerungsforschung, und darauf
wollte ich mich beziehen.
S.Z.: Woher rührt dein Interesse
für dieses Thema – die Beschäftigung mit der deutsch-deutschen, insbesondere
auch mit der ostdeutschen Geschichte, obwohl du aus Bayern stammst?
M.M.: Zunächst mal liegt das an
meinem grundsätzlichen Interesse für Geschichte. Und dann ist es eine
Geschichte, mit der ich unmittelbar konfrontiert worden bin, weil ich während
meines Studiums in Berlin sehr viele Menschen aus Ostdeutschland kennengelernt
habe, unter anderem meinen Doktorvater. Der brachte mir Heiner Müller nahe, und
damit war es unweigerlich verbunden, dass ich anfing, mich mit der ostdeutschen
und der deutsch-deutschen Geschichte zu beschäftigen. Ich lernte einen ganz
anderen Blick auf die historische Vergangenheit kennen, als ich ihn in der
Schule erlebt habe oder als im Westen Geschichte reflektiert wurde. Da wurde
die ganze Historie des Sozialismus ausgespart, die gab es nicht – oder eben
erst ab 1989. In bin in meinem Literaturstudium komischerweise immer wieder bei
den ostdeutschen Professoren gelandet, ohne dass ich vorher wusste, dass sie
aus der ehemaligen DDR kommen. Und bei den Philosophen, die ich aus Ostdeutschland
kennengelernt habe, spielte das Lehren von Zusammenhängen eine größere Rolle
als beim Studium im Westen, wo das Vertiefen in einzelne Positionen und Autoren
wichtig war, weniger das Woher und das Wohin.
S.Z.: Nach welchen Aspekten hast
du die Reihe konzipiert? Welche Themen wolltest du unbedingt drin haben?
M.M.: Ich habe die Reihe nicht
allein konzipiert. Das war eine Gemeinschaftsarbeit, da sind Ideen vom gesamten
Leitungsteam dabei. Wir haben versucht,
verschiedene Themenschwerpunkte zu setzen. Es war klar, dass es eine
Auftaktveranstaltung geben soll, in der wir die letzten 30 Jahre noch mal
untersuchen. Eine Veranstaltung zum Wirken der Treuhand war Axel Vornam und Uta Koschel, die auch
mitgedacht hat, sehr wichtig. Für mich persönlich ist auch die
Geopolitik-Veranstaltung von Belang, weil ich möchte, dass wir das Thema in
einen größeren globalen Kontext stellen. Denn mit 1989/90 ist nicht nur die DDR
verschwunden, sondern auch die alte BRD. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks hat
ein massiver weltweiter Veränderungsprozess begonnen. Das kommt erst jetzt so
langsam im gesellschaftlichen Bewusstsein an. Und dann war mir auch wichtig,
die Vorgeschichte der friedlichen Revolution anzuschauen. Die kam ja nicht aus
dem nichts. Welche Entwicklungen haben eigentlich dazu geführt, dass am Ende
die Mauer aufging?
S.Z.: Hast du eine Veranstaltung,
auf die du dich ganz besonders freust?
M.M.: Ich freu mich auf die
erste, weil ich auf die unterschiedlichen Sichtweisen sehr gespannt bin. Wir
haben eine Frau auf dem Podium, Adriana Lettrari, Gründerin des »Netzwerks 3te
Generation Ostdeutschland«, die inzwischen in der Wirtschaftsberatung tätig
ist, außerdem den Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz und den Theatermann Axel
Vornam, die von Martin Sabrow, einem sehr profilierten Historiker befragt
werden. Ich glaube, das kann sehr spannend werden. Ich freue mich auch sehr auf
die Treuhand-Veranstaltung, ein Thema, bei dem, glaube ich, noch viel
Aufarbeitung notwendig ist. Auch da bin ich gespannt auf das Podium. Wir haben den
investigativen Journalisten Dirk Laabs eingeladen, außerdem Marcus Böick, einen
jungen Historiker, der mit seiner Dissertation die erste historische
Aufarbeitung der Geschichte der Treuhand geschrieben hat. Und für die
Moderation kommt André Steiner, ein renommierter Wirtschaftshistoriker, der
sowohl die Geschichte der DDR als auch der BRD kennt.
S.Z.: War es schwierig, die sehr
hochkarätigen Gäste von dem Konzept zu überzeugen oder haben gleich alle
gesagt: Wir sind dabei?
M.M.: Ich habe sehr oft die
Erfahrung gemacht, dass die Leute das Konzept gut finden und dass sie deshalb
auch gerne kommen.
S.Z.: Was erhoffst du dir von
dieser Reihe? Sowohl von den einzelnen Abenden als auch als Quintessenz am
Ende?
M.M.: Von den Abenden erhoffe ich
mir spannende Diskussionen, von denen ich mir wünsche, dass sich das Publikum
miteinbeziehen lässt. Ich hoffe auf einen Dialog, einen Austausch – letztlich
auch zwischen Ost und West, um die vielen Vorurteile, die es doch noch gibt,
aufzubrechen und einander besser verstehen zu lernen. Es wäre schön, wenn es
gelingen würde, die subjektiven Sichten und die historischen Zusammenhänge besser
miteinander ins Verhältnis zu setzen. Das wäre mir ganz wichtig.
Uta Koschel verabschiedet sich als Chefregisseurin aus Heilbronn und wird Schauspieldirektorin in Schwedt
Es ist eine Mischung aus Vorfreude und Wehmut, die Uta
Koschel gegenwärtig durch den Tag begleitet: Vorfreude auf die neuen Aufgaben,
die sie in ihrer neuen Funktion als Schauspieldirektorin an den Uckermärkischen
Bühnen Schwedt erwarten. Wehmut, weil ihr der Abschied vom Theater Heilbronn,
das sie seit Beginn der Intendanz von Axel Vornam mitgeprägt hat, nicht leicht
fällt. Seit 11 Jahren gehört Uta Koschel zum Team von Regisseuren, die hier
regelmäßig arbeiten. In den vergangenen drei Spielzeiten war sie fest als
Chefregisseurin am Haus. Mit ihren beiden letzten, ganz unterschiedlichen Inszenierungen
in dieser Funktion setzte sie noch einmal unvergessliche Akzente: Mit »Harper
Regan«
von Simon Stephens, der Tragödie einer Frau, die vor lauter Warten auf das
Leben das Leben an sich vorbeiziehen lässt. Und mit »Hexenjagd«
von Arthur Miller, einer Inszenierung, die zwar in einer puritanischen Gemeinde
des Jahres 1692 angesiedelt ist, die aber als Parabel für eine Gesellschaft, in
der Toleranz und Vernunft im öffentlichen Diskurs immer stärker einem
hysterisch geführten, gefährlichen Disput weichen, mit aller
Deutlichkeit ins Hier und Heute weist.
Erinnert sei auch an ihre Heilbronner Inszenierungen wie »Das
Fest«,
»Die
Katze auf dem heißen Blechdach« oder »Der Besuch der alten Dame« oder
den Komödienhit »Der nackte Wahnsinn« – da werden Bilder wieder lebendig. Ihr
Markenzeichen als Regisseurin ist, dass sie kein Markenzeichen hat. Uta Koschel
entwickelt die Inszenierung immer
aus dem jeweiligen Stoff heraus gemeinsam mit ihrem Team, mit einer klugen, fein
ziselierenden, die handelnden Figuren genau untersuchenden Arbeitsweise und
einem guten Gespür für Timing und Rhythmus. Da vereinen sich in der Tochter
einer Schauspielerin und eines Dramaturgen offenbar beide elterliche Talente.
Vermissen wird Uta Koschel das großartige, äußerst vielseitige Heilbronner Ensemble, mit dem es Freude macht zu arbeiten: »Mit jedem einzelnen«. Auch die Mitarbeiter in den Werkstätten seien ganz besonders: »Sie arbeiten immer für die Kunst und machen ALLES möglich.« Überhaupt sei das ganze Haus außergewöhnlich gut organisiert und von einem hohen Arbeitsethos geprägt. Heilbronn als Stadt werde immer quirliger und dynamischer, und das Publikum sei wach und dem Theater sehr zugetan. Aber einen Wermutstropfen hatte ihr Engagement im Südwesten immer: Ihren Lebensgefährten Jon- Kaare Koppe, Schauspieler in Potsdam, hat sie viel zu selten gesehen. Schon seit der Schauspielschule sind die beiden ein Paar.
Von Schwedt, ihrer neuen Wirkungsstätte, sind es nur rund 70 Minuten bis zur gemeinsamen Wohnung in Berlin. Aber nicht nur deshalb freut sie sich auf die Arbeit in den Uckermärkischen Bühnen. »Das Theater ist das kulturelle Zentrum einer spannenden Region«, beschreibt Uta Koschel. Früher abseits am äußersten östlichen Rand der DDR gelegen, findet sich die Stadt jetzt mitten im Herzen Europas wieder – zehn Kilometer von Polen entfernt. Das Theater in Schwedt überwindet hier im wahrsten Sinne des Wortes die Grenze, ist federführend in der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit. Die Uckermärkischen Bühnen arbeiten mit der Musicalhochschule in Gdynia zusammen und realisieren zweimal im Jahr große Musicals. Im traditionellen Weihnachtsmärchen kommt ein Drittel der Besucher aus Polen. Es gibt zweisprachige Schauspieler im Ensemble, so dass Stücke mit polnischen Versatzstücken aufgeführt werden. »Eine wunderbar ungezwungene Art, um sich mit der Sprache des jeweiligen Nachbarlandes zu beschäftigen.« Schwedt bringt auch Deutschsprachige Erstaufführungen polnischer Stücke heraus. »Das alles finde ich sehr aufregend“, beschreibt Uta Koschel. Das Theater bekennt sich auch zu seiner politischen Verantwortung. Darin setzt der neue Intendant André Nicke, unter dessen Leitung Uta Koschel in Schwedt beginnt, die Arbeit seines langjährigen Vorgängers Rainer Simon fort.
Einen
Vorteil hat Schwedt außerdem: Zwei Wochen Winterpause, weil das Theater auch im
Sommer spielt. Einen Teil davon wird sie, so überlegt Uta Koschel,
wahrscheinlich in Heilbronn verbringen, um nach ihrem alten Theater zu schauen.
Außerdem wird sie sich jedes Vierteljahr eine Kiste mit Heilbronner Weinen in
die Uckermark schicken lassen, genießen und sich mit dem Geschmack auf der
Zunge an ihre intensive Zeit in Heilbronn erinnern.
Liebe Uta: Die Träne im Knopfloch, mit der Du Dich
verabschiedest, die haben wir auch.
Wir sagen DANKE – einer tollen Regisseurin und einem feinen Menschen.
Die Inszenierung »Hexenjagd« ist noch bis zum 14. Juli 2019 im Großen Haus zu sehen. Allle Termine gibt es HIER –>.
Solche Klaviere gab es noch nie. Jedes ist ein Unikat. Vom 25. Juli bis zum 10. September werden wieder außergewöhnliche Pianos an besonderen Orten in Heilbronn stehen.
Auch wenn man es ihnen auf den ersten Blick nicht ansieht, man kann wirklich darauf spielen. Denn das war die einzige Bedingung, die die Bürgerstiftung Heilbronn für die Aktion »Spiel mich« gestellt hat. Ansonsten waren der künstlerischen Freiheit keine Grenzen gesetzt. 30 Entwürfe gingen bei der Jury dieses Klavierwettbewerbs der besonderen Art ein. 13 davon wurden für die Realisierung ausgewählt und mit Geld für die Beschaffung der Materialien bedacht.
Unter den Auserwählten waren auch zwei Auszubildende zum Theatermaler aus dem Theater Heilbronn: Helena Limberger aus dem 2. Lehrjahr und Sarah Ludes aus dem 1. Lehrjahr. Ihre »Klavierbearbeitung« trägt den Titel »Freiheit der Kunst«. Das Holzpiano sieht, nachdem es durch ihre Hände gegangen ist, aus, als hätte es einen Körper aus Beton. Irritierend, wenn man aus diesem Betonklotz trotzdem die wohlklingenden Klaviertöne vernimmt. Darauf haben Helena und Sarah in Regenbogenfarben – auch die Farbwahl ist schon eine Botschaft für Toleranz – Statements gemalt, die die Freiheit eines jeden einzelnen, die Liebe und Solidarität feiern. Bevor ihr Klavier am Götzenturm aufgestellt wird und von jedem, der mag, gespielt werden kann, haben die beiden Künstlerinnen schon ein großes Kompliment bekommen. »Ist das wirklich Beton?«, fragte ein Vertreter der Bürgerstiftung, als er die beiden im Malersaal aufsuchte, um sich nach dem Stand der Arbeit zu erkundigen. Volltreffer – da haben die angehenden Meisterinnen des schönen Scheins doch schon mal gezeigt, dass die Stroh zu Gold spinnen bzw. Holz in Beton verwandeln können.
Sven-Marcel Voss Zaubereien treiben
den Irrwitz auf die Spitze
Leide ich an einer Sinnestäuschung ̶ oder was ist da gerade passiert? Eben hat Sven-Marcel Voss als Diener Justin seinem Herrin Norine aus einer durchsichtigen Karaffe mit kristallklarer Flüssigkeit eingeschenkt, aber der Drink im Glas ist grasgrün. Eine Sekunde später füllt sich der Becher von Lenglumé aus derselben Karaffe mit einem blauen Getränk, und der Schluck in Mistingues Glas ist rot. Zauberei! Willkommen in der rasanten Komödie »Die Affäre Rue de Lourcine« von Eugene Labiche im Komödienhaus, in der nichts, aber auch gar nichts, so ist, wie es scheint. Nils Brück als Lenglumé und Hannes Rittig als Mistingue tun darin alles, um ein Verbrechen zu verschleiern, von dem sie vermuten, dass sie es im Zustand der völligen Trunkenheit begangen haben. Immer misstrauisch beäugt von Lenglumés Frau Norine (Sabine Unger), die sich über das merkwürdige Treiben der beiden Männer wundert und sich mit ihrem übergriffigen Vetter Potard (Marek Egert) und eben jenem so gar nicht diensteifrigen Angestellten Justin herumärgert. Als wenn das Geschehen nicht schon turbulent genug wäre, sorgt Justin mit seinen irritierenden Aktionen für zusätzliche Verwirrung. Er steckt beim Aufräumen eine Champagnerflasche in eine Papiertüte, um diese dann zusammenzuknüllen. Was doch eigentlich unmöglich ist! Er zieht sich eine meterlange Papierschlange aus dem Hals – wie geht das nur? Er lässt Schachteln aus seiner Hand verschwinden, seinen Kopf plötzlich auf einer Servierplatte auf dem Tisch auftauchen oder einen Spazierstock aus dem Nichts erscheinen. Von seinem Hechtsprung durch ein Gemälde an der Wand ganz zu schweigen. Großer Bühnenzauber, von dem hier selbstverständlich nicht verraten wird, wie er funktioniert. Und der so leicht und beiläufig wirkt, als würde sich Sven-Marcel Voss als Justin selbst wundern über das, was ihm widerfährt. Dahinter stecken natürlich nicht nur ein großes komödiantisches Talent und schauspielerische Präzision, sondern auch jede Menge Zauberkunst. »Das haben mir meine Kollegen eingebrockt«, sagt Sven-Marcel Voss augenzwinkernd. Als Regisseur Marc Becker im Ensemble herumfragte, welche besonderen Fähigkeiten jeder hat, erzählten die Schauspieler von Sven-Marcels Zauberkunststücken, mit denen er in launigen Runden gern für Unterhaltung sorgt. »Allerdings sind das Kartentricks, die für die Bühne nicht geeignet sind«, sagt der junge Schauspieler. Vor rund anderthalb Jahren hat er angefangen Kartentricks zu üben, angeregt durch einen Kommilitonen, der Deutscher Vizemeister unter den Illusionskünstlern ist. Diese Tricks hat er sich selbst beigebracht, sie haben ausschließlich mit Fingerfertigkeit zu tun. Manche hat er sehr schnell drauf, für andere trainiert er lange, an anderen beißt er sich auch nach monatelanger Übung die Zähne aus. Bisher macht er das alles nur für sich und kleine Shows in geselliger Runde. Ein abgegriffenes Kartenspiel hat er dafür immer dabei.
Auf der Bühne zu zaubern verlangt nach mehr Hokuspokus und Magie, auch nach wesentlich mehr Ausstattung und braucht natürlich auch viel Übung. Bei der Erarbeitung der kleinen Zaubernummern, die die Inszenierung noch charmanter machen, hatte er freie Hand und suchte nach Tricks, die zur jeweiligen Szene passen. Eigentlich lohnt es sich, schon allein wegen der Zaubertricks noch ein zweites Mal in die Vorstellung der »Affäre Rue de Lourcine« zu gehen. Aber auch sonst ist dieser Abend einfach ein Vergnügen. Nicht umsonst nennt Leonore Welzin ihn in ihrer Kritik in den Fränkischen Nachrichten »einen komödiantischen Volltreffer«.
Heiko Lippmann hält sich als musikalischer Leiter an die Praxis der Uraufführung
Vorsicht Ohrwurm! Tagelang setzt sich nach dem Besuch der »Dreigroschenoper« die Musik im Kopf fest, schleichen sich Erinnerungen an Melodiefetzen ein, summt man das »Lied von der Seeräuber-Jenny« oder die »Moritat von Mackie Messer« vor sich hin. Schon 1928 nach der Uraufführung am 31. August 1928 waren die Melodien auf den Straßen Berlins allgegenwärtig – ob gesungen oder gepfiffen – die Stadt war im »Dreigroschenfieber«. Munter hatte sich Komponist Kurt Weill aller möglichen Stilrichtungen bedient – ob bei Oper und Operette, beim Kirchenchoral oder der Tanz- und Jazzmusik der 20er Jahre. Seine Originalpartitur schrieb 23 Instrumente vor, die aber nie gleichzeitig, sondern abwechselnd zum Einsatz kamen. Diese wurden von nur acht Musikern gespielt, die alle verschiedene Instrumente beherrschten. Es war die Lewis Ruth Band, eine damals in Berlin äußerst populäre Jazz-Formation. An dieser Aufführungspraxis orientiert sich auch Heiko Lippmann, der musikalische Leiter der Heilbronner Inszenierung der »Dreigroschenoper«. Seine Dreigroschen-Band besteht aus freien Musikern, die für dieses Projekt zusammengestellt wurden, aber zum größten Teil schon bei mehreren musikalischen Produktionen am Theater mit dabei waren. Jeder ist Spezialist auf seinem Instrument oder seiner Instrumentenfamilie. Aber dass Posaunist Tobias Scheibeck nun als Zweitinstrument den Kontrabass spielt, die Gitarristen Johannes Weik und Philipp Tress das Cello streichen oder Schlagzeuger Christoph Sabadinowitsch seit neuestem Trompete bläst, hätten sie sich vor ihrem Engagement für die »DGO«, wie dieser Klassiker von Brecht und Weill theaterintern genannt wird, wohl kaum träumen lassen. Es gibt zwei Möglichkeiten, den Anforderungen des Verlags zu entsprechen, erklärt Heiko Lippmann, der selbst während der Vorstellungen nicht nur Klavier, Harmonium und Celesta spielt, sondern auch noch dirigiert. Entweder man besetzt jedes Instrument einzeln und hat ein ganzes Orchester im Einsatz, selbst wenn manche Musiker nur wenige Takte zu spielen haben. Oder man entscheidet sich, wie schon Bertolt Brecht und Kurt Weill höchst selbst für die multibegabten Könner. Lippmann hat das mit den Musikern seines Vertrauens und mit der Theaterleitung besprochen. Und schickte dann vor rund einem Jahr, als die Entscheidung für die »Dreigroschenoper« und diese Umsetzung gefallen war, einige Musiker noch mal in die Musikschule. »Alle hatten genug Zeit und sie sind talentiert genug, sich auf diese Herausforderung einzulassen«, lobt Lippmann seine Band. Natürlich haben sie sich speziell auf die Passagen, die sie auf den neuen Instrumenten zu spielen haben, vorbereitet und beherrschen alles zur Zufriedenheit ihres musikalischen Leiters. »Trotz der schnellen Instrumentenwechsel entsteht kein Chaos im Orchestergraben«, versichert Lippmann augenzwinkernd. Übrigens versucht er auch in anderen Dingen der Uraufführungspraxis möglichst nahe zu kommen. Die Trommel, die hier zum Einsatz kommt, stammt aus jener Zeit und klingt ganz anders als heutige Instrumente. Die Trompete spielt mit einem System wie die damaligen Jazz- und Bigband-Trompeten. »Eine museale Aufführung möchte ich aber nicht«, sagt Lippmann, sondern eine frische, unverkrampfte Interpretation dieser großartigen, anspruchsvollen Musik, die auf den ersten Blick so unspektakulär daherkommt und einem nie wieder aus dem Kopf geht.
Und das ist die Band: Klavier/Harmonium/Celesta: Heiko Lippmann/Marcus Herzer Altsaxofon/Flöte/Kleine Flöte/Klarinette/Sopransaxofon/Baritonsaxofon: Johannes Reinhuber/Dirk Rumig Tenorsaxofon/Klarinette/Fagott/Sopransaxofon: Michael Toursel Trompete 1: Igor Rudytskyy Posaune/Kontrabass: Tobias Scheibeck Schlagzeug/Trompete 2: Christoph Sabadinowitsch Bandoneon: Karin Eckstein/Roland Senft Gitarren/Cello: Johannes Weik/Philipp Tress
Schauspieler Hannes Rittig trainiert das Sprechen in vielen Mundarten
Einer sammelt Briefmarken, der nächste Autogramme oder
Schallplatten. Wer es sich leisten kann, legt sich Kollektionen von Uhren,
Antiquitäten oder Oldtimern zu. Der Wert des Schatzes von Hannes Rittig ist in
Geld nicht zu messen. Aber wie andere
Sammler auch investiert er viele Stunden in die Pflege seines Hobbies. Der
Schauspieler am Heilbronner Theater sammelt Dialekte und versucht diese so gut
zu lernen, dass er sie zur „Bühnenreife“ bringt, ohne dass Muttersprachler im
jeweiligen Gebiet die Nase rümpfen – obwohl es ein Reinheitsgebot in Sachen
Dialekt eigentlich kaum mehr gibt.
„Für mich als Schauspieler ist das wie ein Materialbaukasten, aus dem ich nach
Belieben schöpfen kann“, sagt Hannes Rittig. Die Besucher der letzten
Weihnachtsmatinee am Theater dürften sich gern an die szenische Lesung der Geschichte
„Die Bescherung verzögert sich um voraussichtlich zehn Minuten“ von Sebastian
Schnoy erinnern. Hier hat Rittig in sekundenschnellen Wechseln den
mitspielenden Bahnreisenden aus allen Ecken Deutschlands in einem verspäteten
ICE am Weihnachtstag sowie dem handelnden Zugpersonal den dialektalen
Zungenschlag verpasst. Bayerisch, Rheinländisch, Österreichisch, Norddeutsch,
Schwäbisch – oft nur in schnellen Halbsätzen und wild durcheinander.
Atemberaubend! Und äußerst amüsant.
Mit genau solchen Lesungen hat es angefangen, genauer gesagt mit Texten von Hans Fallada wie „Jeder stirbt für sich allein“ und „Der eiserne Gustav“, die Hannes Rittig in Greifswald, der Geburtsstadt des Schriftstellers, vorgetragen hat. Lesungen von rund anderthalb Stunden Länge werden nur lebendig, wenn man die Figuren mit ihren Eigenheiten ausstattet, beschreibt der Schauspieler. Dazu gehört neben Stimmfärbung und Sprechweise eben auch der Dialekt. Die ersten Steine für seine Sprachsammlung hat er quasi nebenbei eingesammelt: Mit dem Berlinerischen und dem Anhaltinischen ist er aufgewachsen, im Studium kam das Leipziger Sächsisch dazu, aber vor allem auch das Bühnenhochdeutsch, das für ihn als Schauspieler natürlich die Norm ist. Während seines ersten Engagements in Chemnitz lernte er, zwischen dem Leipziger und dem Chemnitzer Sächsisch zu nuancieren. Außerdem erwarb er von Freunden aus anderen Regionen Deutschlands eher unterbewusst weitere Dialekte – so zum Beispiel das Fränkische von seinem damaligen Kommilitonen und Schauspielkollegen Tobias D. Weber, der aus Erlangen stammt. Sein nächstes Engagement führt ihn nach Greifswald, wo er den Pommerschen Dialekt in sein Repertoire aufnahm. „Für mich ist es wichtig, dass ich Leute habe, die ich sehr mag und mit denen ich Zeit verbringe. Ich beobachte deren Sprechweise, die Haltung und präge mir bestimmte Ausdrücke ein“, beschreibt Hannes Rittig seine Learning-by-doing-Methode. Diese Vorbildmenschen ruft er sich vor sein inneres Auge, wenn er einen Dialekt imitieren will. Aus Greifswald ist es beispielsweise der Fußballtrainer seiner Söhne. Er erhebt dabei keinen Anspruch auf Perfektion. „Es ist fast wie beim Spielen von Tieren“, beschreibt er. Einige signifikante Eigenschaften reichen aus, um einen Tiger als Tiger, einen Elefanten als Elefanten und einen Affen als Affen darzustellen – so wie er es gerade in unzähligen Vorstellungen von Kiplings „Dschungelbuch“ praktiziert hat. Genauso ist es mit den Dialekten – einige prägnante Ausdrücke, Wörter und vor allem die Sprachmelodie genügen, um eine bestimmte Mundart zu markieren.
Beim Schwäbischen
versagt die Learning-by-Doing-Methode
Einzig bei einem Dialekt versagt die bisher mit so großer
Leichtigkeit praktizierte Methode, beim Schwäbischen – dem nächsten Regiolekt,
den Hannes Rittig sich als Neubürger Heilbronns unbedingt aneignen will. Hier
hat er sich seine Nachbarn als Coaches gesucht, mit denen sich seine Familie
angefreundet hat. „Die Frau kommt von der Schwäbischen Alb, der Mann aus Heilbronn und die beiden machen mit mir
Unterricht“, erzählt der Schauspieler.
Das Schwäbische ist sehr gemütlich und verspielt mit den vielen Verniedlichungsformen
und es hat einen feinen Sing-Sang. Ihn wundere es gar nicht, dass aus dieser
Region, wo die Sprache so kleinteilig und erfindungsreich ist, so viele Tüftler
kommen, die mit der feinen Selbstironie „Wir können alles. Außer
Hochdeutsch“ an ihrem Image arbeiten,
sagt Hannes Rittig. Natürlich muss er in seinem Beruf in erster Linie das
Hochdeutsche pflegen. Aber sonst ist er der Meinung: Hoch lebe der Dialekt! „Der
steht für Heimat, Geborgenheit und Wohlfühlen.“
Wir stellen euch unsere neuen Schauspielerinnen und Schauspieler im Ensemble vor. Heute: Malin Kemper, die ihre ersten Rollen am Theater Heilbronn in „Harper Regan“ und „Pension Schöller“ spielt.
Malin Kemper ist trotz ihrer 24 Jahre ziemlich old school. Ihr Smartphone hat sie nach anderthalb Jahren abgeschafft und sich stattdessen wieder ein gutes, altes Tastenhandy zugelegt. »Statt in 60 Whats-App-Gruppen und im Internet gleichzeitig unterwegs zu sein und davon meine Zeit auffressen zu lassen, lese ich lieber«, sagt sie. Weniger Stress, mehr Gewinn. Zurzeit vertieft sie sich in die Tagebücher von Astrid Lindgren aus den Jahren 1939-45, die unter dem Titel »Die Menschheit hat den Verstand verloren«, erschienen sind. Das ist nicht nur ein hervorragendes Zeitzeugnis, findet Malin Kemper. Es trifft auch sehr die Situation unserer Tage: Was tun, wenn Fremdenfeindlichkeit und Rassismus das Denken und Handeln der Menschen bestimmen? Wie kann jeder Einzelne von uns Stellung beziehen? Das sind die Fragen, über die Astrid Lindgren philosophiert und die auch Malin Kemper nicht loslassen. Überhaupt ist die junge Schauspielerin, die nach ihrem Schauspielstudium an der Kunstuniversität Graz in Heilbronn ihr erstes Engagement angetreten hat, sehr politisch interessiert. Aktuelle Debatten wie #Me too hat sie in ihre selbst entwickelte Diplominszenierung mit aufgenommen. Unter dem Titel »Ungehalten« erarbeitete sie hier »Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen« – bekannter Frauen aus den unterschiedlichsten Zeiten, die aber nur über ihre Männer berühmt geworden sind, mit dabei sind Eva Hitler und Christiane Goethe. »Möglicherweise wäre deren Leben und vielleicht auch die Geschichte anders verlaufen, wenn sie an der richtigen Stelle ihren Mund aufgemacht und ihrem Ungehaltensein über ihre Männer Ausdruck verliehen hätten«, meint Malin Kemper. Die Sensibilisierung für feministische und politische Themen verdankt sie ihrer langen Beschäftigung mit Theater – seit der ersten Klasse steht sie auf der Bühne. Ihre erste Rolle war die des Schmetterlings in »Die kleine Raupe Nimmersatt« an der Grundschule in Aachen. Nach dem Umzug nach Düsseldorf schloss sie sich dem dortigen Jugendclub an, der von Schauspielern des Ensembles geleitet wurde. Das wollte sie auch machen – auf der Bühne stehen und nächtelang über die Stücke diskutieren. Nach der Schule ging sie für ein Jahr nach Berlin und wurde dort Mitglied des Jugendclubs »Die Aktionist*innen« im Gorki-Theater. Mit ihrer Stückentwicklung »Kritische Masse – 12 junge Frauen stellen Fragen an ihren Körper und die Gesellschaft« in der Regie von Suna Gürler war die Gruppe zum deutschen Theatertreffen der Jugendclubs eingeladen.
Dann ging es ins wunderschöne Graz zur Schauspielausbildung, wo sie auch begriff, mit welch harter Arbeit, Disziplin und mit wie vielen Zweifeln der Beruf verbunden ist, wo sie aber auch das Handwerkszeug erlernte, das ihr auf der Bühne die nötige Sicherheit geben wird. Als sie sich zum Ende des Studiums an Theatern bewarb, war das Theater Heilbronn ihr schon lange ein Begriff. Eine ihrer Freundinnen und Mitstreiterinnen aus dem Gorki-Theater ist Josephine Weber, die Tochter des langjährigen Heilbronner Schauspielers Nils Brück, die viel über die Arbeit ihres Vaters erzählt hat. »Lustigerweise spiele ich in der ›Pension Schöller‹ seine Tochter«, sagt sie. Ihren Einstand gab sie als Sarah Regan, die Tochter der Titelfigur Harper Regan, eine junge Frau, die ihre Ängste und Zweifel hinter einer Fassade aus Coolness und den Statussymbolen jugendlicher Subkultur verbirgt. Nach ihren Wünschen für ihr Engagement in Heilbronn befragt antwortet sie: »Ich lass alles auf mich zukommen und versuche das Beste herauszuholen«.