Kleidungsstück für Intellektuelle

Der Schwarze Rollkragenpullover lenkt den Blick auf das Wesentliche – den Kopf

Schwarzer Rollkragenpullover, schwarze Hose, so sind Harry Haller, sein Alter Ego Hermine und die Unsterblichen, in »Der Steppenwolf« in der Inszenierung zu sehen.
Harry Haller ist ein familienloser, heimatloser, hochsensibler Intellektueller von annähernd 50 Jahren, dem alles Bürgerliche zuwider ist. In seinem Erscheinungsbild erkennen wir den Intellektuellen, den Künstler sofort, unterstrichen durch die Kleidung, die er trägt.

»Der Steppenwolf« – Stefan Eichberg, Foto: Candy Welz

Was steckt dahinter, woher kommt dieses Bild, das wir der Figur Harry Haller zuschreiben?

Mit dem Leiter unserer Kostümabteilung blicken wir auf die Tradition, die dahinter steht, wenn wir uns entscheiden, Schwarz zu tragen.

Wer sich für Schwarz entscheidet, tut das heute oft aus ganz praktischen Gründen, sagt Manuel-Roy Schweikart. Denn Fragen wie: welche Farben kombiniere ich heute miteinander, ist die Farbe meiner Kleidung dem Anlass angemessen, stellen sich nicht. Schwarz passt immer. Schwarz war in der Bekleidung lange eine Farbe des Wohlstands. Sie wurde nur zu besonderen Anlässen getragen, erläutert Manuel-Roy Schweikart. Die Herstellung schwarzer Kleidung war ein teurer, aufwendiger Prozess. Ein tiefes Schwarz konnte nur durch mehrere Färbeprozesse erzeugt werden, nur Purpurstoffe waren teurer.

Die Verbindung der schwarzen Kleidung mit dem vergeistigten Menschen, hat ihren Ursprung in der spanischen Hofmode des 16. Jahrhunderts. In den schwarzen Roben mit ihren stark stilisierenden Formen verschwindet alles Körperliche und der Kopf des Trägers wird zum Zentrum, erklärt Manuel-Roy Schweikart. Dagegen kommt die anschließende Renaissancemode fast freizügig daher. Die tellerförmige Halskrause rückte nicht nur den Kopf als Sitz des Geistigen in den Fokus. Die sonst ausschließlich Schwarze Kleidung nivellierte das Körperliche bis zur Unsichtbarkeit. Bis heute stehen die Roben von Geistlichen und Juristen in dieser Tradition.

Zum Glück entwickelte sich auch das Tragen schwarzer Kleidung weiter. Der berühmte Sonntagsanzug, das Sonntagskleid blieben lange hochwertig, hochgeschlossen und zeitlos, denn oft waren dies die besten Kleidungsstücke, die zu jedem Anlass tragbar sein sollten. Oft wurden sie in den Familien weitergegeben oder vererbt.  
In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts jedoch wird der schwarze Rollkragenpullover zu einem Statement der Intellektuellen und Künstler, um sich vom Establishment abzugrenzen. Denn Hemd und Krawatte gehörten zum offiziellen Dresscode. Mit dem Rollkragenpullover lenken sie den Blick wieder auf den Kopf.

Dies alles schwingt in dem Bild des Harry Hallers mit, wenn wir ihn auf der Bühne sehen und vor allem seinen Kopf wahrnehmen. Der hochgeschlossene schwarze Pullover und die schwarze Hose lassen die Figur vor dem schwarzen Hintergrund der Bühne zurücktreten. Der Intellektuelle wird für uns in diesem Kostüm deutlich erkennbar. Dass dahinter jedoch ein antiquiertes Modephänomen des 16. Jahrhunderts steht, dem das Streben nach Züchtigkeit und Unschuld zu Grunde liegt, dürfte dem »Steppenwolf« ebenso zuwider sein wie die bürgerliche Gesellschaft. 

Frank Lienert-Mondanelli, Sven-Marcel Voss, Gabriel Kemmether, Stefan Eichberg, Sabine Unger, Malin Kemper, Foto: Candy Welz


Die Chose mit der Hose

Die Kostüme der »Affäre Rue de Lourcine« forderten den Einfallsreichtum unseres Herrenschneidermeisters Tilo Voss heraus. Denn die Kleidung der beiden ehemaligen Internatsabsolventen Lenglumé und Mistingue sollte nicht nur die glorreichen Zeiten des Slapsticks aus der Stummfilmzeit erinnern, sondern muss auch auf der Theaterbühne für Einiges herhalten.

»Die Affäre Rue de Lourcine« (v.l.n.r. Marek Egert, Nils Brück und Hannes Rittig)

Die Schnittmuster für die historischen Hosen im Buster-Keaton- / Charlie-Chaplin-Stil waren schnell entwickelt, doch wie sollten die Zusatzfunktionen in der Hose des Lenglumé untergebracht werden, ohne dass die Hose völlig aus der Form geriet?

In dieser Hose verschwinden nicht nur jede Menge Requisiten, sondern auch der Hausherr selbst. Das stellte den Schneidermeister vor die Herausforderung eine überproportionale Hose zu entwerfen, die jedoch zunächst möglichst normal aussieht. Bereits die historischen Hosen der Stummfilmhelden, die als Vorbild dienten, sind zu groß für ihre Träger. Die Proportionen weichen vom klassischen Hosenschnitt ab.

Wie lässt sich das noch steigern, so dass der Schauspieler Nils Brück nahezu komplett verschwinden kann?

Nils Brück bei der Anprobe

In mehreren Schritten haben Schneidermeister und Schauspieler sich an die endgültige Ausgestaltung der Hose herangetastet, bis alles saß. Vom tieferen Schnitt über die Einarbeitung eines Stretchkeils aus dehnbarem Stoff, eingelegte Falten in die Seitennäthe und die Verlängerung der Hose am Bund wurde sie immer wieder überarbeitet. Die Stoffmengen mussten so gut eingearbeitet werden, dass sie den Proportionen der Hose des zweiten Hauptdarstellers Hannes Rittig ähnlich blieben. Die Zusatzfunktionen wie die sieben Taschen, in denen ganze Wasserflaschen verschwinden, sollen natürlich nicht vorab erkennbar sein.  Die Bewährung fand die Hose dabei im Praxistest während der Proben: Ob jetzt einer oder mehrere Druckknöpfe oder Magneten die zusätzlichen Stoffe verschwinden lassen, testet Nils Brück immer wieder im Spiel, bis es optimal passte.

So wurde der Prototyp dieser ungewöhnlichen Hose in enger Zusammenarbeit von Schneiderei und Schauspieler weiterentwickelt, bis daraus das fertige Kostüm der Inszenierung entstand.  

Das Ergebnis könnt Ihr noch zwei Mal in der »Affäre Rue de Lourcine« bewundern. Und achtet genau drauf, was alles in der Hose verschwindet oder aus ihr heraus zum Vorschein kommt, um die Erinnerungslücken der durchzechten Nacht der beiden Zechbrüder zu füllen.

»Die Affäre Rue de Lourcine« läuft nur noch am 25. und 26. April 2019 im Komödienhaus des Theaters Heilbronn.

Meine musikalischen Gedanken

Ein Beitrag von Claire Winkelhöfer

»Musik ist die Sprache der Leidenschaft«. Dies pflegte Richard Wagner zu sagen und ich als leidenschaftliche Musikerin, schließe mich dieser Aussage voll und ganz an. Ich bin Claire Winkelhöfer und gehe in die zehnte Klasse des Landesgymnasiums für Musik in Wernigerode. Während meiner Zeit als Praktikantin in der Theaterpädagogik des Theaters Heilbronn wurde mir die Aufgabe zuteil, eine eigene musikalische Interpretation, inspiriert von der Erzählung »Der goldne Topf« von E.T.A. Hoffmann, zu erarbeiten.

Claire Winkelhöfer auf der Probebühne

Während des Lesens von »Der goldne Topf«, entstand in meinem Kopf, wie das häufig bei Musikern der Fall ist, bereits die ein oder andere Idee für eine musikalische Umsetzung. Ich habe die Eigenschaft, gleich sehr groß und meist in einem Orchestersatz zu denken. Zudem bin ich, als begeisterte Wagnerianerin, ein großer Fan der Leitmotivtechnik. Ein Leitmotiv ist ein häufig wiederkehrendes, in dem Fall musikalisches Motiv, welches bestimmten Personen, Gegenständen, Ereignissen, Stimmungen usw. zugeordnet ist und diese charakterisiert. Mein Faible für diese Technik wirkt sich demzufolge auch auf mein künstlerisches Schaffen aus. Besonders faszinierend daran finde ich diesen bestimmten Wiedererkennungswert innerhalb eines Werkes. Ich empfinde es als sehr spannend, wenn ich durch das Erklingen eines Leitmotivs bereits eine Vorahnung bekomme, welche Person wohl gleich wieder auftauchen wird, womöglich sogar schon da und nur nicht zu sehen ist, oder genau weiß, von welchem Gegenstand oder Ereignis die Rede ist, ohne dass explizit davon gesprochen wurde. Ich dachte mir, die beiden unterschiedlichen Welten, die es in »Der goldne Topf« gibt, müssten durch verschiedene Leitmotive geprägt und zum Ausdruck gebracht werden. Für die mystische Welt stellte ich mir Instrumente vor, die gemeinsam sphärische Klänge produzieren können. Im Allgemeinen dachte ich an Flöten, eine Harfe und hohe Streicher. Allerdings fände ich Hörner als Melodieinstrumente sehr ansprechend. Wenn man kein ganzes großes Orchester zur Hand hat, dann reicht auch ein Klavier in hoher Lage mit viel rechtem Pedal, um die verschiedenen Melodieteile ein bisschen ineinander verschwimmen zu lassen. Eventuell wäre noch eine Geige denkbar. Als Leitmotiv stellte ich mir eine relativ ruhige Melodie vor, die mit höheren, kleineren Melodien unterlegt ist. Es sollte im Piano bis Pianissimo, also leise bis sehr leise, aber maximal im Mezzoforte, halblaut, gespielt werden. Im Kontrast hierzu dachte ich bei der normalen Welt an eher plumpe Klänge, die durchaus auch einen bedrohlichen Charakter haben dürfen. In einem Orchester würden an dieser Stelle die Blechbläser die Arbeit bekommen, sowie die tieferen Streicher, die einen tiefen Klangteppich erzeugen könnten. Wenn kein Orchester zur Verfügung steht, so kann man wieder ein Klavier in Betracht ziehen, diesmal jedoch in tiefer Lage. Hier könnte man noch zusätzlich das linke Pedal benutzen, um einen dumpfen Klang zu erzeugen. Als Grundbild für ein Leitmotiv dachte ich an ein mittleres Tempo. Es sollte zwar nicht allzu langsam sein, doch darf es auf keinen Fall hektisch wirken. Auch sollte es nicht zu leise werden, um einen Gegensatz zum anderen Motiv zu schaffen.

Im Verlauf meines Praktikums hatte ich das Vergnügen, die Inszenierung von »Der goldne Topf« von Maik Priebe zu sehen und somit auch die musikalische Umsetzung von Stefan Leibold zu hören. Diese war zwar völlig konträr zu meinen Gedanken, jedoch höchst interessant. Die musikalische Gestaltung war nicht auf die Leitmotivik ausgelegt, sondern eher darauf, mit einfachsten Mitteln einen beeindruckenden Klangteppich zu erzeugen. Wobei »einfach« in diesem Fall nicht als »leicht« zu verstehen ist, sondern bedeutet, dass mit einfachen Gegenständen gearbeitet wurde, die nicht schwer zu bedienen sind. Der geschaffene Klangteppich wurde nicht mit herkömmlichen Instrumenten gestaltet, sondern durch alltägliche Gegenstände oder den Menschen selbst. Durch das Übereinanderlegen dieser unterschiedlichen Klänge konnten Stimmungen erzeugt werden, die sonst eher selten zu finden sind, aber wie geschaffen dafür sind, eine mystische Atmosphäre zu erzeugen.

Obwohl ein großer Kontrast zwischen diesen beiden musikalischen Gedanken liegt, gibt es durchaus auch gemeinsame Überlegungen. Beispielsweise das Erschaffen einer mystischen Welt durch das Zusammenwirken verschiedenster Stimmungen und Klänge. In meinem Fall arbeite ich lieber mit Leitmotiven als mit Klangteppichen.

Zum Abschluss möchte ich sagen, dass ich es toll fand mir die Inszenierung mit Musik ansehen und anhören durfte und mich anschließend selbst an einer musikalischen Interpretation dazu ausprobieren durfte. Meine fertige Arbeit kann unter hier angehört werden.

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Eine Krone für den König

Die Krone Englands ist sein Ziel. In seinem Machtstreben um König von England zu werden, kennt Richard III. keine Skrupel. Dafür geht er über zahlreiche Leichen.

Oliver Firit (Richard III.) & Lucas Janson (Catesby)

Die Requisite, die unsere Theaterstücke mit den für die Aufführungen nötigen Gegenständen ausstattet, musste für die englische Krone weder morden noch in den Krieg ziehen. Stattdessen war bei Carmen Riehl, Leiterin der Requisitenabteilung, für die Herstellung der Kronreifen für »Richard III.« jede Menge handwerkliches Geschick gefragt. Mit Hammer, Amboss und Dremel geht sie zu Werke, um aus zwei Blechstreifen zwei antike Kronreifen zu schaffen. Dank ihrer jahrelangen Erfahrungen mit der Schmuckherstellung in der Kostümabteilung der Bayerischen Staatsoper und in der Rüstkammer des Bayerischen Staatsschauspiels war die Umsetzung der Kronreife nach den Entwürfen des Regieteams (Axel Vornam und Tom Musch) kein Problem. Die Umsetzung erforderte zunächst eine grobe Bearbeitung der Blechstreifen, die mit einem Hammer in Form gehauen werden. Die dadurch eingehauenen Vertiefungen und Schrammen geben den Streifen ihre antike Struktur, als wären sie schon auf zahlreichen Königshäuptern durch die Wirren der Zeiten getragen worden.
Noch ist gut zu erkennen, dass es sich um zwei moderne Blechstreifen handelt. Mit einem zähen Kunstharz und schwarzer Farbe erhalten sie Patina. Bearbeitet mit dem Dremel entsteht daraus eine lebendige Oberfläche deren »Gebrauchsspuren« von früheren Abenteuern »berichten«. Nachdem sie auf die Köpfe der Schauspieler angepasst wurden, werden Schlossschraubenköpfe als Dekoration aufgeklebt und mit Lederbändern die Abschlusskanten am oberen und unteren Rand der Kronreifen geschaffen. Auch hier kommt wieder jede Menge Patina zum Einsatz, so dass die Kronen für Richard, Eward und später Richmond aussehen, als würden sie aus einer alten Schatzkammer stammen.

Am 25. Februar sind sie noch ein letztes Mal in Aktion auf den Häuptern Edwards, Richard III. und Richmonds zu sehen.
https://www.theater-heilbronn.de/spielplan/detail/inszenierung/richard-iii.html  

Aus Eisen erwächst ein Baum

Harper Regan ist das Psychogramm einer Frau, die ausbricht um zurückzukehren, so beschreibt Claudia Ihlefeld von der Heilbronner Stimme das Drama von Simon Stephens. Es ist die Geschichte einer durchschnittlichen Frau, Anfang 40, die als Hauptverdienerin ihre Familie ernährt. Harper hat gelernt, zu funktionieren und allen Anforderungen in Job und Familie gerecht zu werden. Dabei hat sie ihre eigenen Bedürfnisse aus dem Blick verloren. Aus dieser Welt entflieht Harper für zwei Tage.

Auch das Bühnenbild der Inszenierung spiegelt die Tristesse von Harper Regans Leben wider. Bis zur Schlussszene wird die Bühne von einem grauen Betonkubus bestimmt, vor den sich die Stationen dieser zwei Tage schieben: die Küche der Regans, der Flur des Krankenhauses, in dem Harpers Vater starb oder das Hotelzimmer, in dem sie einen ihr völlig Fremden datet. Die Bühne erschafft ein Abbild von Harpers Einsamkeit und den Verkrustungen ihrer Seele.

Die Küche der Regans.


Erst als Harper von ihrer »Flucht« heimkehrt, ändert sich dieses Bild. Der Kubus öffnet sich für die Schlussszene. In seinem Inneren kommt ein unwirklich wirkendes Vorort-Paradies zum Vorschein. Es ist ein kitschiges Gartenidyll, das von einem riesigen, hyperrealistisch erscheinenden Apfelbaum dominiert wird, unter ihm der gedeckte Frühstückstisch der Regans, die Vögel zwitschern, das Sonnenlicht bricht durch die Blätter. Die Idylle, in die Harper heimkehrt, ist zu perfekt.

Die Vorstadtidylle trügt.

Für Ausstatter Tom Musch und Regisseurin Uta Koschel war früh klar, dass es kein beliebiger Garten sein konnte, ein großes Bild musste her. Bei den Überlegungen wie dieser Garten aussehen könnte, kamen bald das Bild des Paradiesgartens auf, und von diesem Punkt an war der Apfelbaum für die Schlussszene gesetzt, wie Tom Musch berichtet.

Doch woher bekommt man einen solchen Baum?

Nun standen die Theaterwerkstätten vor der Aufgabe, einen Apfelbaum zu erschaffen. Schlosserei und Malersaal unterstützt von der Dekorationsabteilung und Schreinerei arbeiteten gemeinsam über Wochen an der Entstehung des Baumes. Es entstanden erste Skizzen im Malersaal wie der Baum aufgebaut sein kann. Die Größe von 6 x 6 Metern wurde festgelegt. Fragen zum Umfang und zur Üppigkeit der Baumkrone, sogar wie viele Äpfel darin hängen sollen, wurden geklärt. Die wichtigsten Punkte der Vorüberlegungen waren: wie bekommt der Baum seine Stabilität und wie lässt er sich im Boden verankern? Mit großem Ehrgeiz arbeiteten die Werkstätten sehr eng zusammen an der Umsetzung der Vorgaben, berichtet Tom Musch begeistert. Aus den Skizzen des Malersaals entstanden in der Schlosserei Ideen und Entwürfe für Konstruktion des Baumes. Ein Stahlskelett bildete das Grundgerüst, den Baumstamm. Verstärkt wurde er durch ein Stahlrohr im Podest, das ihm Stabilität gibt. Aus diesem Stamm erwuchsen über ca. vier Wochen die Äste aus Eisen, die für die weitere Bearbeitung abnehmbar blieben. Von Woche zu Woche wurden die Schweißarbeiten immer filigraner, bis hin zu 4 mm dünnen Drähten an denen später die Blätter befestigt werden solletn. Ein echter Ast auf der Werkbank diente dem Schlosser als Vorbild.

Danach ging es für den Stahlbaum in den Malersaal. Hier wurden die Rinde und Blätter angebracht, dass der Baum ein natürliches Aussehen erhielt. Auf das Stahlgerüst des Baumstamms und die starken Äste wurde zuvor in der Schreinerei Holz aufgebracht, um den Drahtrupfen – ein grober Netzstoff, der sich dank des darin verarbeiteten Drahtes in jede Form bringen lässt – befestigen zu können. Darüber legten die Plastiker eine Stoffkaschur aus Nesselstoff, auf die weitere Kaschiermasse aufgetragen wurde, um dem Baum eine realistische Rindenoberfläche zu geben. Nachdem alle Äste kaschiert waren, wurden sie mit Farbe in eine echt erscheinende Borke verwandelt. Dann fehlten nur noch die Blätter und Äpfel. Diese wurden alle einzeln mit einem Drahtringtacker an den kleinen Ästen befestigt. Am Ende stand ein paradiesisch schöner Apfelbaum, der seinen Weg auf die Bühne fand.

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Dort lässt er jetzt im Schlussbild der Inszenierung die Hoffnung aufscheinen, dass sich die Welt der Familie Regan verändern könnte. Er gibt der Entwicklung des großen Traums von Seth Regan wie eine mögliche Zukunft aussehen könnte, ein Bild, das dem Nullpunkt an dem sich die Figuren in dieser Szene befinden, gegenüber steht.

Dieser enorme, vor Grün und Äpfeln strotzende Baum überspitzt die Vorstadtidylle. Er offenbart die Irrealität des erträumten Happy Ends. Harpers Reise endet wo sie begann, in ihrem Leben vor diesen zwei Tagen, in dem alles gleich scheint und doch nichts mehr ist wie es war. Ob Harpers Ausbruch Veränderung bringt, bleibt offen.

Der Weg zu Macht ist ein dreckiger.

Das spiegelt sich auch in dem Bühnenbild der Inszenierung »Richard III.« wider. Über zweieinhalb Stunden kämpfen sich die Schauspieler durch einen Sumpf aus Dreck im wahrsten Sinne des Wortes.

Auf der Bühne ist ein Schlachtfeld entstanden, statt des klassischen Bühnenbodens haben unsere Bühnentechniker dort einen morastigen Erdboden erschaffen, der keinen sicheren Halt gewährt.

Ob er die Schlachtfelder der Rosenkriege zwischen den Herrscherhäusern Lancaster und York, den Sumpf und Morast der Familie York, inder jeder Dreck am Stecken hat, symbolisiert – dieser schlammige Bühnenboden bietet jede Menge Raum als Spiel- und Projektionsfläche. Über vier Monate wird er für jede Vorstellung im großen Haus neu auf die Bühne gebracht.  Unsere Bühnentechniker haben ein ausgeklügeltes System entwickelt, dass der Torf frisch bleibt, zu jederAufführung die gleiche Konsistenz besitzt.

Es ist nicht das erste Mal, dass mit Schlamm auf der Bühne gearbeitet wird, erklärt Bühnenmeister Lutz Schmieder. Aus der Inszenierung »Dantons Tod« lagen bereits jede Menge Erfahrungswerte vor, so dass die Produktionsleitung sofort wusste, was zu bestellen war, um einen morastigen Sumpfboden entstehen zu lassen. Acht Kubikmeter Schwarztorf wurden bestellt und auf Paletten angeliefert. In einer eigens für die Bühne des großen Hauses gefertigten Schlammwanne wurde der noch trockene Torf aufgeschüttet und so lange gewässert bis er die gewünschte Konsistenz hatte. In kleinen Schritten haben sich Bühnentechniker und Regisseur Axel Vornam an das Endergebnis herangetastet, vorsichtig wurde immer wieder Wasser hinzugegeben, bis der Schlamm die richtige Feuchtigkeit erreicht hatte.
Die Schlammwanne ist ein 6 x 12 Meter großes Untergestell aus Holz, die in Zusammenarbeit mit den Werkstätten gebaut wurde. Mehrere Schichten Teichfolie dichten die Wanne ab, so dass der eigentliche Bühnenboden stets geschützt bleibt.

Doch was passiert mit dem Schlamm, wenn die Tiere des Dschungels über die Bühne tanzen oder sich die illustre Gesellschaft durch die Pension Schöller durch die Nächte feiert?

Nach jeder Vorstellung wird die Schlammwanne von den Bühnentechnikern mit Schaufeln, Schneeschiebern und Besen geleert. Der Torf wird in Handarbeit in große Behälter gefüllt, die bis zur nächsten Vorstellung aufder Hinterbühne lagern. Auch die Schlammwanne wird bis zur nächsten Vorstellung abgebaut. Bevor es wieder auf die Bühne geht, wird der Torf erneut aufbereitet. Ist er durch das Lagern zu trocken geworden, wird er erneut gewässert. Wenn erdurch zu viel Wasser übersättigt ist, wird er von den Bühnentechnikern ausgetauscht, bevor er zu schimmeln anfängt. Dann wird neuer trockener Torf – zur Sicherheit lagert genug »frischer« Torf hinter der Bühne, denn er wird nur zu bestimmten Jahreszeiten ausgeliefert – mit Schaufeln untergehoben und immer wieder umgeschichtet und erneut gewässert, bis der Schlamm wieder den Anforderungen der Inszenierung entspricht. Dann wird er erneut in die Schlammwanne geschaufelt verteilt, und das Spektakel auf dem Shakespearischen Schlachtfeld kann erneut seinen Lauf nehmen.

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Vom Papier auf die Bühne

Wer sich hinter den Kulissen des Theaters nicht auskennt, kann es sich kaum vorstellen: Am Bühnenbild für das Weihnachtsmärchen wird immer schon  mitten im heißen Sommer gearbeitet.  Noch vor der Sommerpause des Theaters entstanden im Malersaal riesige gemalte Dschungellandschaften, die seit November die Bühne des großen Hauses in den indischen Dschungel verwandeln.

Auch die berühmte Affenstadt aus dem Dschungelbuch wurde hier gefertigt. Eine alte Tempelanlage, erbaut von Menschen, die King Louie und seiner Affenbande als Heim dient. Die hölzernen und steinernen Statuten sind von Wind, Wetter und den wilden Affen gezeichnet. Und langsam erobert sich der Urwald die Relikte kultischer Rituale der Menschen zurück. Diese Zeugen längst vergangener Zeiten sehen verdammt echt aus – sogar aus der Nähe. Aber statt Holz und Stein ist ihr Hauptbestandteil Styropor, das in vielen Arbeitsschritten in kultische Stein und Holzfiguren verwandelt wird.

Michelle Zimmermann, die zum Sommer ihre 3-jährige Ausbildung als Plastikerin im Malersaal abgeschlossen hat, hat für uns die Entstehung der Statuen dokumentiert.

Am Beginn stehen die Skizzen des Bühnenbildners und ein riesiger Block Styropor. Nachdem Michelle Zimmermann die Skizzen angepasst und eine Lochpause erstellt hat, überträgt sie die Skizze auf den Styroporblock. Dann kommen Ketten- und Konturexsäge zum Einsatz, um der Figur ihre groben Konturen zu verleihen. Noch lässt sich nur erahnen, was das Endprodukt wird. Nach den ersten Schnitzarbeiten lässt sich schon erkennen, was später auf der Bühne stehen wird. Doch um der Figur auch den nötigen Halt zu verleihen, bekommt unsere Plastikerin Hilfe aus der Schlosserei und Schreinerei, die eine Stahlarmierung in jede Figur einfügen und ihr einen stabilen Sockel verleihen. Mit Montageschaum wird die Schnittstelle für die Stahlarmierung im Innern wieder unsichtbar gemacht.
Im nächsten Schritt geht es in die Feinarbeit. Mit klassischen Küchenmessern schnitzt Michelle Zimmermann immer mehr Details in das Styropor. Arme, Augen, Nase, Kleidung werden herausgearbeitet bis ihnen mit Schleifpapier der letzte Schliff verpasst werden kann.

Doch wie wird aus dem weißen Styropor eine antike Holz- oder Steinfigur?

Mit Nesselstoff, Leim und Farbe! Mit Stoff und Leim wird die Figur kaschiert, das gibt dem Styropor nicht nur Schutz und Festigkeit sondern auch die gewünschte Oberfläche, um die Figur anschließend mit Farbe in eine antike Holz- oder Steinfigur zu verwandeln.

In unserem kleinen Video, könnt Ihr verfolgen. Wie sich aus den Skizzen die verschiedenen Stauten entwickeln.

Kleidung sagt aus, wie Du gesehen werden willst.

Aus meinem ersten Gespräch mit dem Leiter unserer Kostümabteilung, Manuel-Roy Schweikart, ist bei mir dieser Satz hängen geblieben: »Kleidung sagt, aus wie Du gesehen werden willst.« Jetzt haben wir diesen Faden wieder aufgegriffen. Dabei rausgekommen ist ein spannender Einblick, was Kleidung alles über uns erzählt.

Mit dem Griff in den Kleiderschrank entscheiden wir unterbewusst, wie wir dem Tag begegnen wollen, sagt Manuel-Roy Schweikart, dabei treffen wir jeden Tag eine Aussage über uns selbst. Das kann damit zu tun haben, wie wir uns fühlen oder was von uns erwartet wird. Dahinter stehen jedoch verschiedene Codes, wie Kleidung gelesen wird. Diese Codes sind von der Historie unseres Bekleidungsverständnisses abhängig und kulturell verschieden. So hat Kleidung und Mode in Italien und Frankreich einen deutlich höheren Stellenwert, die Entscheidung, was ich mit meiner Kleidung ausdrücken möchte, wird dort viel bewusster gefällt. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass diese Länder auch heute noch Bedeutung als Produktionsstandort haben. Während in Deutschland die hochwertige Bekleidungsfertigung ins Ausland verlegt wurde und in weiten Teilen das Modebild eher als praktisch und preiswert bezeichnet werden kann. Die Wertigkeit der Mode wird bei uns oft hintangestellt.
In der Art wie wir uns kleiden und Schuhe, Tasche, Gürtel und weitere Accessoires auswählen, greifen wir gelernte Codes auf und drücken Zugehörigkeiten aus. Trägt Mann zum Beispiel Sneakers zu seinem Anzug, was noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar gewesen wäre, bricht er die strenge Seriosität des Anzugs auf, dabei strahlt er mit diesem modischen Statement Agilität, Flexibilität und Modernität auf sein Gegenüber aus. Das weibliche Pendent dazu ist der Plisseerock. Während in den 50er/60er Jahren die Highheels zum Faltenrock Pflicht waren, ist er heute sportlich und unkonventionelle mit Sneakern oder Cowboystiefeln kombinierbar. Der ehemals spießig-konservativen Look wird neu interpretiert zum trendigen Fashion-Statement.

Bei der Entwicklung eines Theaterkostüms stehen diese Codes sehr bewusst im Fokus der Planungen von Kostümbildner und Schneiderei. Gerade über die Kleidung der Figuren lässt sich der Charakter der dargestellten Personen unterstreichen, erklärt Manuel-Roy Schweikart. Welche Stoffe gewählt werden, welche Accessoires, ist entscheidend dafür, wie die Figur gesehen wird. So ist beispielsweise Harper Regan, die Hauptfigur des gleichnamigen Stückes, eine arbeitende Frau der englischen Mittelklasse, die als Hauptverdienerin ihre Familie ernährt und zusammen hält. Ihre eigenen Bedürfnisse hat sie aus dem Blick verloren. Harper als stylische Fashonista darzustellen, wäre in diesem Kontext deplatziert. Die Figur versucht allen Anforderungen in Job und Familie gerecht zu werden, das spiegelt sich auch in ihrem Kostüm wider. Harpers Kleidung lässt sich am besten als ordentlich und zweckmäßig beschreiben. Die weiße Bluse, die blaue Stoffhose, der schlichte Gürtel, die praktische Handtasche setzen keine Statements, entsprechen aber Codes die Beruf und Alltag an sie stellen.

Judith Lillly Raab als »Harper Regan« Theater Heilbronn

Während wir unsere morgendlichen Entscheidung, was ich heute anziehe, oft unbewusst treffen, stehen vor den Entscheidungen für das Kostüm einer Figur oft viele Gespräche zwischen Regie, Ausstattung und der Kostümabteilung, was mit der Kleidung einer Figur über sie erzählt werden soll.

Judith Lillly Raab als »Harper Regan« Theater Heilbronn

 

Simon Stephens – Vom Barkeeper zum Erfolgsdramatiker

Von Sophie Püschel

Simon Stephens, der Autor des Stückes Harper Regan, kam erst auf Umwegen zur Dramatik.

Szene aus »Harper Regan« (v.l. Malin Kemper (Sarah); Judith Lilly Raab (Harper Regan); Tobias D. Weber (Seth))

Der 1971 in Stockport geborene Stephens wollte eigentlich Musiker und Songwriter werden. Zwölf Jahre war er Bassist der schottischen Punk-Band »Country Teasers«. Während seines Geschichtsstudiums stellte er nach eigenen Angaben fest, dass die attraktivsten Frauen im Studententheater spielten, weshalb auch er sich für das Theater zu interessieren begann und nachhaltig Feuer fing. Nach seinem Studium arbeitete er zunächst mehrere Jahre als Barkeeper, DJ und Lehrer, bis ihm der Absprung zum Berufsdramatiker gelang. 1998 wurde sein erstes Stück »Bluebird« uraufgeführt und bereits zwei Jahre später wurde er »resident dramatist« am Royal Court Theatre London und im selben Jahr Hausautor am Royal Exchange Theatre Manchester. Mittlerweile wurde er in Kritikerumfrage der Fachzeitschrift »Theater heute« fünfmal zum besten ausländischen Dramatiker des Jahres gewählt und gilt als der meistgespielte britische Gegenwartsdramatiker im deutschspracheigen Raum.

Prägend für sein Werk ist seine Heimatstadt Stockport, ein industriell geprägter Vorort von Manchester. Diese Stadt bildet – wie er selbst sagt – die dramatische Landschaft seiner Stücke und ist Herkunftsort vieler seiner Protagonisten, so auch der von Harper Regan. Wie in einem filmischen Close-Up-Verfahren zoomt Stephens ganz nah an seine Figuren heran, um einen Blick hinter deren Fassade des Schweigens und des uneigentlichen Sprechens zu werfen. »Das Leben, wie es die Stücke von Simon Stephens zeigen, geht über den Einzelnen hinweg, und manchmal, nur selten geht der Einzelne in ihm auf: Von dieser Hoffnung, über die man am besten gar nicht spricht, erzählt Simon Stephens … Er sammelt dafür die scheinbar banalsten, zufälligsten und undramatischen Momente des Lebens ein, seltsame Situationen, in denen kein Blut fließt, sich niemand anschreit oder das Haus anzündet, und in denen trotzdem die ganze Tragödie des Lebens unabweisbar zutage tritt.« (Thomas Oberender)

Im Dschungel des Lebens

Jens Kerbel inszeniert Rudyard Kiplings »Dschungelbuch« als spannendes Coming of Age-Abenteuer für Groß und Klein

Von Mirjam Meuser

Wer kennt sie nicht, Walt Disneys berühmte Zeichentrick-Verfilmung von Rudyard Kiplings »Dschungelbuch«? 1967 kommt sie in die Kinos – und ist in Deutschland bis heute der erfolgreichste Film aller Zeiten. Die wundersame Geschichte von Mowglis Aufwachsen unter den Wölfen im indischen Dschungel, seinen Abenteuern mit Baloo, dem gemütlichen, etwas plumpen, honigversessenen Bären, und Bagheera, dem majestätischen Panther, mit deren Hilfe er schließlich auch seinen Feind, den ebenso selbstgefälligen wie gefährlichen Tiger Shere Khan, besiegt, ist ein Klassiker der Filmgeschichte, der Jung und Alt begeistert. Aber auch Kiplings Erzählungen im Original wiederzuentdecken, lohnt sich – und das nicht nur, weil sie ein wesentlich vielschichtigeres Bild von Mowglis Heranwachsen im Dschungel und seinem Kampf gegen den menschenfressenden Tiger zeichnen. Ihre Poesie und ihre Tief-, streckenweise auch Abgründigkeit machen sie zu einem aufregenden, ja berauschenden Lese- und Vorlesevergnügen für Groß und Klein.

Rudyard Kipling wird am 30. Dezember 1865 als Sohn britischer Eltern im Indien der Kolonialzeit geboren und wächst die ersten Jahre in seiner Geburtsstadt Bombay auf. Umsorgt von einem portugiesischen Kindermädchen und einem Hindi Meeta, hört er von ihnen unzählige Geschichten und Lieder in ihrer Venakularsprache, in der er auch zu denken und zu träumen lernt. Das Englische, das er mit seinen Eltern bei Tisch sprechen musste, ist für ihn als Kind ein fremdes Idiom. Aber nicht nur die Legenden und Mythen, auch die Musikalität und Farbigkeit der mündlichen indischen Folklore sind es, die seine Kindheit prägen. Sie legen nicht zuletzt das Fundament für den Fabel-Ton der Geschichten aus dem »Dschungelbuch«. »Es war notwendig, dass jedes Wort erzählen, tragen, Gewicht haben, schmecken und, wenn nötig, riechen sollte«, so formuliert Kipling seinen Anspruch an die Sprache in der posthum veröffentlichten Autobiographie »Something of myself«.

Fünf Jahre ist Rudyard alt, als ihn die Eltern gemeinsam mit seiner Schwester Trix nach England zur Schule schicken und in einer Pflegefamilie in Southsea unterbringen. Dort leidet er derart unter der Einsamkeit und dem Regiment seiner Pflegemutter, dass er sich in Bücher und Träume flüchtet und sich sprechende Tiere als Spielgefährten und Gesprächspartner herbeiphantasiert. Erst nach sechs Jahren wird er von seiner Mutter aus der Tortur befreit.

Jahre später formen sich aus diesen Kindheitserfahrungen die Geschichten der beiden »Dschungelbücher«. Kipling schreibt sie für seine erste Tochter Josephine, die 1892 in Vermont (USA) geboren wird – und vermacht ihr damit eine allegorische Erinnerung an die Abenteuer der eigenen Kindheit. Meisterhaft verschränkt er unmittelbare Erlebnisse, Wirkliches und Imaginiertes zu einer atemberaubenden Erzählung vom Sich-Zurechtfinden eines verlassenen, schutzlosen Menschenkindes in einer gefahrvollen, verwirrenden, unberechenbaren Umwelt.

Kiplings anarchische Fabulierlust hat es auch dem Regisseur Jens Kerbel angetan – ihrer Faszination und Verführungskraft will er mit seiner Inszenierung im Großen Haus nachspüren. Dafür hat er sich die Bühnenfassung von Frank Pinkus ausgesucht, die sich besonders stark an den ursprünglichen Erzählungen des »Dschungelbuchs« orientiert. Sie räumt den geheimnisvollen, poetischen, manchmal auch unheimlichen Seiten der Texte viel Platz ein – ohne den Humor zu kurz kommen zu lassen. Baloo, der Bär, erzählt hier die Geschichte von Mowglis Erwachsenwerden im Dschungel als ein spannendes Coming of Age-Abenteuer, an dessen Ende der Menschenjunge natürlich den Tiger besiegt, sich aber auch seiner Fremdheit unter den Tieren bewusst wird und seinen eigenen Weg und Platz in der Welt finden muss.

Das Team um Jens Kerbel arbeitet daran enthusiastisch mit. Der Musiker Stephan Ohm komponiert für die Aufführung am Theater Heilbronn ganz neue Ohrwürmer – nicht zuletzt der genussfreudige Baloo bekommt einen neuen Hit. Den verwunschenen indischen Dschungel und seine sagenumwobenen Bewohner wiederum zaubert der Bühnen- und Kostümbildner Toto auf die Bühne. In seinen phantasievollen Kostümen changieren Mowgli und seine Freunde so effektvoll zwischen Mensch und Tier, dass sich der kiplingsche Dschungel spielerisch als das entpuppt, was er eigentlich ist: der gefahrvolle, unberechenbare, aber auch unfassbar schöne und spannende »Dschungel des Lebens«.