Angeregte Plaudereien aus dem Nähkästchen

Theaterkreis des Seniorenbüros blickt einmal im Monat hinter die Kulissen des Theaters

von Silke Zschäckel

Foto © Verena Bauer

Stefan Eichberg ist ein Zugpferd. Nicht nur auf der Bühne, sondern auch, wenn es darum geht, Theaterfreunde reiferen Alters am Nachmittag ins Obere Foyer zu locken, um wieder eine neue Facette des Heilbronner Theaters näher kennenzulernen. Einmal im Monat lädt das Seniorenbüro zu einem Theaterkreis ein. Und Steffi Gal, die Leiterin des Seniorenbüros, freut sich, dass es von Veranstaltung zu Veranstaltung mehr Interessierte sind, die sich eine launige Stunde im Theater gönnen und auf unterschiedlichste Weise hinter die Kulissen blicken.

Diesmal war es also Stefan Eichberg, der sich Löcher in den Bauch fragen ließ. Zum Einstieg interviewte ihn Sophie Püschel, Schauspielleiterin und Dramaturgin, zu seiner Herkunft und Ausbildung. So erfuhren die Damen und Herren, dass der beliebte Mime nicht, wie viele andere, schon sein ganzes Leben zum Theater wollte, sondern durch Zufall auf diese Option stieß. Die Leipziger Schauspielschule »Hans Otto« hatte damals aufgerufen, sich zu bewerben. Obwohl Stefan Eichberg vorher nur ungefähr viermal im Theater war, fand er das interessant. Als er erzählte, dass er am liebsten nach dem ersten Ausbildungsjahr wieder gegangen wäre, reagierten die Zuschauer erleichtert, dass er durchgehalten hat, sonst wäre er ja nicht da, wo er jetzt ist. Im Nachhinein ist er sehr dankbar für seine gute Ausbildung in Schauspiel, Sprache und Bewegung, von der er jetzt noch jeden Tag profitiert, erzählt er. Spannend war auch sein historischer Exkurs in die Wendezeit, die er noch als Student in Leipzig erlebte. Er gehörte mit zu den Demonstranten, die am 9. Oktober 1989 – als noch alles auf der Kippe stand – in Leipzig demonstrierten. In diesem Sommer hat er sich in seiner alten Studienstadt eine Ausstellung zu diesem Thema angeschaut und erst jetzt deutlich gespürt, was er damals als junger Mann sehr gut verdrängen konnte: Die Angst, dass der Mut der demonstrierenden DDR-Bürger in eine Unterdrückung des Aufstandes mit Waffengewalt münden könnte. Er liest gerade jetzt sehr viele Bücher über jene Zeit und das schwierige Zusammenwachsen Deutschlands, erzählt er. Sein erstes Engagement führte ihn 1990 an sein Wunschtheater, das »Hans-Otto-Theater« in Potsdam. Gebannt hörten die Damen und Herren des Theaterkreises zu und fragten, wie es war, nach der Wende Theater zu spielen. »Die Säle waren leer, die Leute hatten andere Sorgen«, erinnert sich Stefan Eichberg. Aber er hatte tolle Kollegen und durfte langsam in immer größere Rollen hineinwachsen. Spannend war für ihn, die unterschiedlichen Arbeitsweisen aus Ost und West kennenzulernen, als die ersten Regisseure aus den alten Bundesländern mit ihren Teams in Potsdam arbeiteten.

Besonders wichtig war seine Potsdamer Zeit für ihn privat, erzählt er liebevoll, weil er hier seine Frau Sabine Unger kennenlernte. Zehn Jahre blieb er in Potsdam, wechselte dann für zehn Jahre ans Schleswig-Holsteinische Landestheater – gemeinsam mit seiner Frau, die zwischendurch in Thüringen engagiert war. In Schleswig-Holstein arbeitet er viel mit dem damaligen Chefregisseur Axel Vornam, der als Intendant das Paar Unger/Eichberg schließlich nach Heilbronn holte. Hier sind die beiden jetzt im 13. Jahr, die längste Zeit, die sie je an einem Theater verbracht haben. Stefan Eichberg genießt es, an einem Haus zu arbeiten, das viel Wertschätzung beim Publikum erfährt. Hier spielte er eine große Rolle nach der anderen. Nach seiner Lieblingsrolle gefragt, nennt er den Walter Faber in »Homo faber«, auch weil er da mit seiner Frau Sabine so intensive Szenen spielen durfte. Nicht immer ist es leicht als Paar am Theater und man muss sich manchmal zwingen, nicht pausenlos darüber zu reden, berichtet er. Die Zuschauer überschütten ihn an diesem Nachmittag mit Sympathie und Wertschätzung, loben sein Spiel, egal, ob er nun in Komödien oder Tragödien zu erleben ist, und finden es auch toll, dass er so gut singen kann.

Was für ihn gutes Theater ausmache, wollen sie wissen. Die gesellschaftliche Relevanz, die man sowohl in alten als auch in neuen Stücken finde. Und er weiß, dass dieser Aspekt bei der Entwicklung des Spielplans immer eine große Rolle spiele. Die Fragen nehmen kein Ende. Wie sein Gehirn funktioniere, um sich die Mengen an Text von so unterschiedlichen Stücken zu merken? Ob er mit seiner Frau zusammen die Texte lerne? Welche Autoren in der DDR gespielt wurden? Ob er sich inzwischen in Heilbronn heimisch fühlt? Was er gern in der Freizeit unternehme? Und schließlich: »Essen Sie gern Spätzle?« – Nein, antwortet Stefan Eichberg. Er mag gern Soljanka, aber am allerliebsten »Tote Oma«, das ist warme Blutwurst (die kann man jeden Donnerstag auf dem Markt kaufen) mit Kartoffeln und Sauerkraut. »Siehst du, da haben wir heute wieder viel gelernt«, sagt eine der Besucherinnen am Ende zu ihrer Nachbarin. Sophie Püschel, die diese Nachmittage am Theater Heilbronn organisiert, präsentiert hier die gesamte Vielfalt dessen, was das Theater Heilbronn ausmacht. So gab es schon Veranstaltungen mit Regisseuren, mit Kollegen aus dem Malersaal, der Requisite, der Maske und der Schneiderei, mit anderen Kollegen aus dem Schauspielensemble, mit dem Künstlerischen Betriebsbüro, mit dem Intendanten, ja sogar mit einem Theaterfotografen. Und jede dieser Veranstaltungen eröffnet eine neue Perspektive auf die Wunderwelt Theater.

Workshop Prüfungsvorbereitung

TREFFPUNKT LEHRERZIMMER. Wenn wir zu einem Workshop in eine Schule gehen, ist das meist der Ort, der als erstes angesteuert wird. Oft ist noch Zeit für eine kurze Unterhaltung und eine Tasse Kaffee. Ab und zu kennt man den einen oder die andere Kollegin auch schon gut. Gerade in dieser Spielzeit verbringen wir viele Stunden für Workshops in Schulen, um Vorstellungsbesuche für die Prüfungsthemen zu »Nach vorn, nach Süden« (UA) und zu »Woyzeck« vorzubereiten. Wir kommen mit einem Fahrplan in die Schule, wie wir uns den Ablauf des jeweiligen Workshops vorstellen – oft müssen wir aber auch flexibel sein und davon abweichen, je nach dem, ob die Klasse schon ganz tief im Stoff steckt oder noch gar nicht, ob es morgens um 8 Uhr oder nachmittags um 15 Uhr ist. Schreibt die Klasse im Anschluss noch eine Klassenarbeit oder war der Tag vorher schon lang für alle? Deshalb gibt es immer Plan A, B und C. Wir nehmen Sie mit in zwei unserer Workshops, Sie dürfen Mäuschen sein.

Foto © Stefanie Roschek

von Natascha Mundt

Montag, kurz nach halb 10. Die erste große Pause ist vorbei an einem Heilbronner Gymnasium. Nach und nach tröpfeln die Schüler des Leistungskurses Deutsch ins Klassenzimmer. Manche freuen sich, manche sind ob des Unbekannten, was sie in der nächsten Doppelstunde erwartet, etwas unsicher. Andere haben völlig vergessen, dass ich wie ein Ufo im Klassenzimmer gelandet bin und erschrecken sich fast. 16 Augenpaare schauen mich an. Die Klasse hat den »WOYZECK« schon gelesen, aber noch nicht komplett besprochen, sie sehen sich eine Woche später die Inszenierung bei uns an und schreiben im Frühjahr ihr Abitur über den Stoff. Meine Aufgabe für diese Doppelstunde ist es nun, zum einen unsere Inszenierung, also vor allem den konzeptuellen Zugriff und die Ästhetik, zu vermitteln, zum anderen aber auch, den Text, der für die Schüler ggf. ganz weit weg, eben in einem kleinen gelben Buch steht, plastisch und greifbar zu machen.

Wir starten mit einem kurzen Spiel im Kreis: Ähnlich wie beim Uno-Spiel gibt es verschiedene Anweisungen, die Originalzitate aus dem »Woyzeck« sind. Mit einem kräftigen »Jawoll, Herr Hauptmann« gibt man mit einem Klatschen einen Impuls reihum. Ein »Langsam Woyzeck!« markiert einen Richtungswechsel und mit einem »Marie!« kann man sich einen anderen Spielpartner als den links und rechts von sich aussuchen. So wird zum einen der Körper, aber auch der Kopf warm gemacht. Und alle haben was zum Lachen. In einer weiteren Übung haben Zweierteams die Aufgabe, sich wie Marionetten durch den Raum zu führen. Diese Übung wird gesteigert, wenn im weiteren Verlauf dann drei Leute gleichzeitig an den Fäden der jeweiligen »Puppe« ziehen. Ich stelle danach die Frage in die Runde, warum ich wohl diese Übung ausgesucht habe: damit uns nichts peinlich ist, damit wir mit anderen zusammenarbeiten als mit unseren Sitznachbarn, damit wir lernen, zu vertrauen, damit wir erfahren, wie es Franz Woyzeck wohl ergeht, wenn er versucht, es gleichzeitig allen recht zu machen – aha! Darauf wollte ich hinaus, auch wenn alle anderen Antworten auch richtig sind. Wobei es mir immer sehr wichtig ist, im Workshop zu betonen: Ihr könnt nichts wirklich falsch machen, hier gibt es nicht die eine Lösung. Ein Workshop bietet die tolle Möglichkeit, sich auf eine andere Art und Weise mit dem Text, den man im Unterricht liest, mit der Inszenierung, die man, vermeintlich passiv im Zuschauerraum sitzend, erlebt, auseinanderzusetzen. Und er öffnet auch die Augen dafür, dass es nicht die eine Interpretation eines Stoffs gibt, sondern noch viele weitere Lesarten als die, die im Lektüreschlüssel vorgestellt wird.

Zu sehen ist das auch in der letzten Übung, in der die Schüler in Kleingruppen Szenen aus dem Stück erhalten, etwa wenn Woyzeck Marie ersticht oder wenn der Tambourmajor und Marie aufeinandertreffen. Die Aufgabe nun: Übersetzt das, was hier steht, in eure Sprache. Wie würdet ihr das heute sagen, würde diese Szene z. B. auf dem Schulhof, auf einer Wiese am Neckar, auf dem Parkplatz vor der Tankstelle stattfinden? Zuerst gibt es ratlose Gesichter, doch dann geht es in den jeweiligen Gruppen rund. »Nein, das heißt doch, dass er sie klarmachen will!« Es wird gelacht, diskutiert, über die semantische Auslegung eines einzigen Wortes gesprochen; eigentlich gar nicht so viel anders als bei den Proben in unserem Probenzentrum. Den Schülern wird klar, so weit weg von ihnen ist Büchners Text gar nicht. Zum Schluss zeigt jede Gruppe ihre Übersetzung in einer kurzen Szene vor der Klasse und die Zuschauer dürfen raten, mit welcher Szene sie sich beschäftigt haben. »Das war cool, hätt ich gar nicht gedacht – ich freu mich jetzt, das Stück zu sehen«, kommt danach aus einem Mund. Ich wünsche der Klasse viel Spaß in der Vorstellung und viel Erfolg beim Abi, beim Verabschieden winkt mir im Gang ein Schüler zu, wir kennen uns aus einem vorherigen Workshop.

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von Simone Endres

»NACH VORN, NACH SÜDEN« wird in den meisten Realschulen erst im Lauf des Schuljahres gelesen und einige Lehrkräfte hatten uns schon zu bedenken gegeben, dass sie die Inszenierung erst nach der Lektüre besuchen wollen. Die Klasse, die heute vor mir steht, ist mutig und stürzt sich ins Unbekannte. Gleichzeitig bietet meistens gerade der offene, unverstellte Blick auch die Möglichkeit, sich neu und unverkrampft auf die Inhalte und Figuren des Romans einzulassen und eigene persönliche Bezüge herzustellen. So auch heute.

Die Klasse hat noch nie einen Workshop mitgemacht und keine Ahnung, was sie erwartet. Die Ankündigung, den Klassenraum freizuräumen, damit wir Platz zum Bewegen und Arbeiten haben wird mit großer Anspannung und wenig Begeisterung aufgenommen. Die meisten Teilnehmer vergraben sich tief in ihre Anoraks und halten die Arme verschränkt. Keiner möchte seinen Stuhl verlassen.

Lena, genannt »Entenarsch«, die als Protagonistin des Romans von Sarah Jäger durch die Geschichte von »Nach vorn, nach Süden« führt, sucht auch ihren Platz auf dem Hinterhof eines Penny-Marktes. Damit ist das erste Spiel zur Eröffnung des Themas gesetzt. Alle Stühle sind im Raum verteilt und die Aufgabe der Gruppe lautet, durch strategische Platzwechsel »Entenarsch« den letzten freien Platz streitig zu machen. Durch das Spiel löst sich die anfängliche Skepsis.

Es folgen Assoziations- und Dissoziationsübungen zur Etablierung eines wertungsfreien Raums. Assoziation bedeutet, dass alles, was wir hören, zu Bildern im Kopf führt. Dissoziationsübungen helfen dabei, sich frei zu spielen und den inneren Zensor auszuschalten. Die Erfahrung, nichts falsch machen zu können, ist für den Rest der Lektion eine entscheidende, damit jeder Teilnehmer sich traut, den Zustand der Fehlervermeidung hinter sich zu lassen und sich vor der Klasse mit den eigenen Ansichten »zu zeigen«. In 2er-Gruppen werden nun kleine Geschichten improvisiert. Beginnend mit dem Satz: »Sag mal, weißt du noch was gestern auf der Landstraße passiert ist?«, haben alle Teams zur Aufgabe, eine kleine gemeinsame Szene zu entwickeln, die anschließend vor der Klasse präsentiert wird. Mich begeistert die Vielfalt des Themenspektrums. Zwei Jungs zeigen, wie sie ohne gültigen Personalausweis die Einreise aus dem Kosovo zu managen versuchen, drei Teilnehmer sind nach einem Banküberfall auf der Flucht und andere versuchen sich gegenseitig bei der Autopanne behilflich zu sein. Alle sind stolz auf ihre Präsentation. Nebenbei ergibt sich auch die Möglichkeit, darüber zu diskutieren, wie ein Schauspieler sich auf der Bühne fühlen würde, wenn es im Zuschauerraum unruhig wird oder das Handy klingelt. Alle verstehen plötzlich, wie wichtig es ist, den Theaterbesuch als gemeinsames Erleben zu verstehen, und dass Publikum und Bühne keine so starr abgegrenzten Bereiche sind, wie allgemein vermutet. Weiter geht es nun mit den Stationen, die »Entenarsch« mit den Insassen ihres VW Polos erlebt. Es gilt, sich aus sechs Schauplätzen des Stücks drei auszusuchen und diese zu einer kurzen Reiseszene zu verbinden. Beispielsweise geht es so vom Schlossgarten in Fulda über den Kreisverkehr von Oer-Erkenschwick zum »Feld-Wald-Wiesen-Festival« in Bimbach. Diese Ausflüge nutzen wir, um das Prinzip der »Heldenreise« zu besprechen, also vom Loslassen von Sicherheit und dem daran anschließenden Aufbruch, der Krise nach anfänglichem Scheitern, der Heldeninitiation durch Konfrontation mit auftretenden Problemen bis zur Rückreise nach Läuterung. Erhitzt ziehen die Schüler Vergleiche zu Roadtrips aus Film und Fernsehen, und Parallelen zu »The Fast and the Furious« bis hin zum »Herrn der Ringe«.

Als mir die Klasse wenige Tage später wieder im Zuschauerraum begegnet, frage ich anschließend, wie es ihnen in der Vorstellung ergangen ist. »War echt cool… aber beim nächsten Mal spielen wir selbst mit«, schallt mir als Echo entgegen.

Wenn das Zeitgeschehen die Literatur einholt

Hans-Ulrich Becker inszeniert »Gott wartet an der Haltestelle« von Maya Arad Yasur im Großen Haus

von Dr. Mirjam Meuser

Das Team von »Gott wartet an der Haltestelle«; Foto © Verena Bauer

Die israelische Autorin Maya Arad Yasur hat ihr Stück »Gott wartet an der Haltestelle« 2013/14 geschrieben – kurz vor dem Beginn des letzten Gaza-Kriegs. Es spielt in den Wirren der zweiten Intifada (2000 bis ca. 2005) und spürt in fast antik anmutender Manier einem Selbstmordattentat nach, das eine junge Frau in einem israelischen Restaurant verübt hat. Maya Arad Yasur studierte zu dieser Zeit in Jerusalem, das aufgrund der besonderen Bedeutung der Stadt für Juden und Palästinenser Ziel besonders vieler Anschläge war. Damals, so erzählt sie, habe sie nie den Bus genommen, sondern sei nur zu Fuß oder mit dem Taxi unterwegs gewesen, um nicht selbst Opfer eines Selbstmordattentats zu werden. Zehn Jahre später recherchierte sie im Rahmen des »Terrorismus«-Projekts der Union des Théâtres de l’Europe zu den Selbstmordanschlägen während der Intifada und stieß dabei auf die Geschichte der 28-jährigen Attentäterin Hanadi Jaradat, die am 4. Oktober 2003 einen Anschlag auf das Restaurant »Maxim« in Haifa verübt hatte. Dabei kamen 21 Israelis jüdischer und palästinensischer Herkunft ums Leben, 50 Menschen wurden verletzt. Der Fall der Studentin Jaradat, die zum Zeitpunkt der Tat kurz vor ihrem juristischen Examen stand, interessierte Arad Yasur derart, dass er zum Ausgangspunkt ihres Dramas wurde. Dabei war das Besondere hier nicht nur, dass die Attentäterin eine Frau war – insgesamt gab es unter den Selbstmordattentätern während der zweiten Intifada nur sechs Frauen –, sondern dass Jaradat unter diesen Frauen die einzige war, die keinen persönlichen Grund hatte, ihr Leben zu beenden. Ihr Motiv war vielmehr Rache, ein Beweggrund der, so Arad Yasur, per se politisch und somit auch dramatisch ist. Zudem hatte Jaradat mit dem »Maxim« ein Ziel gewählt, das von Juden und Palästinensern gleichermaßen besucht wurde, und als Symbol friedlicher Koexistenz galt – der besonders perfide Anschlag richtete sich also explizit gegen jede Form des Ausgleichs und der Versöhnung zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen.

Arad Yasurs Stück zeichnet sich durch einen fragmentierten Erzählstrang mit zahlreichen Vor- und Rückblenden aus, der das Attentat in seine Einzelteile zerlegen will. Was ist geschehen? Wie konnte es dazu kommen? Wäre der Anschlag an irgendeinem Punkt zu verhindern gewesen? Das sind die Fragen, die die Figuren umtreiben – vor allem in den chorischen Passagen, in denen die Stimmen von Toten und Überlebenden des Anschlags auf die von Menschen treffen, die Angst haben, das nächste Opfer zu sein. Sie alle sind auf der Suche nach einer »Lücke im System«, die es ermöglichen könnte, den tragischen Ablauf der Ereignisse zu unterbrechen. Das Stück entpuppt sich so als nahezu antike Tragödie, in der ganz klassisch zwei Ansprüche aufeinandertreffen, die sich gegenseitig auszuschließen scheinen: Wo es für beide Seiten ums blanke Überleben geht, haben das Bedürfnis nach Empathie und Menschlichkeit wie die Einhaltung der Menschenrechte keinen Ort. Während der Proben zur Uraufführung des Stücks, die im August 2014 am Habima in Tel Aviv, dem israelischen Nationaltheater, stattfinden sollte, leiteten die israelischen Streitkräfte als Reaktion auf den anhaltenden Raketenbeschuss aus dem Gaza-Streifen die Operation »Protection Edge« ein, die den Beginn des letzten Gaza-Kriegs im Juli/August 2014 markiert. Über 2200 palästinensische Zivilisten wurden damals durch die Bomben der israelischen Luftwaffe getötet. Im Rückblick zeigt sich, dass die Reaktion der Armee auf die Angriffe durch die Hamas damals unverhältnismäßig war. Im Moment der kriegerischen Operation aber war es dem Theater unmöglich, sich mit dem Stück von Arad Yasur auseinanderzusetzen. Die Proben am Habima mussten unterbrochen und die Premiere von August auf Dezember verschoben werden, u. a. deshalb, weil die israelischen Techniker sich weigerten, für das Stück zu arbeiten. Arad Yasur hat diese Situation, in der ihr Stück bereits das erste Mal vom Zeitgeschehen eingeholt wurde, rückblickend so kommentiert: »Die Menschen denken nicht mehr klar, wenn ein Anschlag passiert.« Wie schnell sich der Wind damals wieder drehte, zeigt sich daran, dass sie nach der Uraufführung im Dezember desselben Jahres für »Gott wartet an der Haltestelle« den Habima Award für Nachwuchsdramatiker erhielt.

Nun ist es ein weiteres Mal passiert. Das Massaker der Hamas an der israelischen Bevölkerung im Hinterland des Gaza-Streifens am 7. Oktober und die seit Wochen tobende israelische Bodenoffensive drohen, Arad Yasurs großartigen ästhetischen Entwurf erneut auf einen bloßen Kommentar zur gegenwärtigen Lage zu reduzieren – und diesmal sogar auf einen, der angesichts der aufgeheizten aktuellen Debatten völlig falsch verstanden werden könnte. Leider lässt sich diese Gefahr bei einem literarischen Text, der sich vermeintlich so klar zeithistorisch verortet wie dieser, schwer umgehen. Das Stück beschäftigt sich mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt, das ist nicht zu leugnen, aber gleichzeitig macht es einen wesentlich weiteren ästhetischen wie historischen Raum auf, der bis in die Antike zurückreicht; und es stellt Fragen, die deutlich darüber hinaus gehen. Der Nahostkonflikt ist nur ein Exempel – wenn auch ein für Arad Yasur naheliegendes –, um sich einer Gesellschaft zu nähern, in der Gefühle wie Angst, Schmerz, Hass und Rache regieren und starken Einfluss auch auf politische Entscheidungen nehmen. Das tragische Scheitern der beiden Hauptfiguren Amal und Yael, sich in diesem Umfeld an Prinzipien der Menschlichkeit zu orientieren, hat menschheitsgeschichliche Dimension. Dem aktuellen Kommentar dagegen widmet sich Maya Arad Yasur in einem neuen Text, in dem sich ihr verzweifeltes Ringen um Haltung und Sprache angesichts der furchtbaren Ereignisse der vergangenen Monate eindringlich niederschlägt. Auf der nächsten Seite finden Sie einen Auszug aus diesem Text, der auch Teil unserer Inszenierung von »Gott wartet an der Haltestelle« sein wird.

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Cleverer Friseur verhilft verhindertem Liebespaar zum Glück

Rossinis »Der Barbier von Sevilla« kommt in zwei verschiedenen Gute-Laune-Inszenierungen nach Heilbronn

von Silke Zschäckel

Staatstheater Meiningen; Foto © Christina Iberl

Das ist der Stoff, aus dem Komödien gestrickt werden: Ein alter Mann begehrt ein junges Mädchen und noch viel mehr dessen Geld. Ein junger Mann erobert ihr Herz und schnappt sie ihm mit Hilfe zahlreicher Finten des örtlichen Barbiers Figaro weg. Wenn man diese turbulente Geschichte mit ihren zahlreichen Verwicklungen und Intrigen noch mit einer gleichermaßen betörend schönen und mitreißenden Musik untermalt, dann hat man eine komische Oper, die an sprudelndem Temperament und Witz kaum zu überbieten ist: »Der Barbier von Sevilla« von Gioachino Rossini. Der junge italienische Komponist war erst 23 Jahre alt, als er dieses Meisterwerk der leichten Unterhaltung mit seinen Ohrwurmmelodien schrieb. Die Vorlage war die gleichnamige Komödie von Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais.

Staatstheater Meiningen; Foto © Christina Iberl

»Der Barbier von Sevilla« kommt in zwei verschiedenen Inszenierungen als Gastspiel nach Heilbronn. Die wunderbar leichtfüßige und warmherzige Inszenierung vom Staatstheater Meiningen lag in den Händen von Brigitte Fassbaender. Hier stehen zwischen dem 17. und 27. Januar vier Vorstellungen auf dem Programm. Am 15. Februar feiert die kunterbunte und vor skurrilem Humor nur so strotzende Inszenierung von Inga Levant vom Theater und Orchester Heidelberg Premiere, die bis zum 2. März fünfmal in Heilbronn zu sehen ist. Vielleicht ist es für manchen Musiktheaterfreund ein besonderes Vergnügen, sich beide Bearbeitungen dieser Oper anzuschauen und zu erfahren, wie unterschiedlich man ein und denselben Stoff interpretieren kann. Es lohnt sich in jedem Fall.

Theater und Orchester Heidelberg; Foto © Susanne Reichardt

Die Grundzüge der Handlung sind in beiden Inszenierungen gleich: Graf Almaviva ist schwer in die junge, schöne Rosina verliebt. Er nähert sich ihr heimlich, denn sie wird eifersüchtig von ihrem Vormund Doktor Bartolo bewacht, der selbst ein Auge auf sie geworfen hat und sie vor allem wegen ihrer Mitgift heiraten will. Almaviva besticht den ihm gut bekannten Figaro, der als Barbier auch im Hause des Dr. Bartolo arbeitet. Figaro schmuggelt die eine oder andere Liebesbotschaft hin und her. Damit Rosina ihn um seinetwillen und nicht wegen seines Adelstitels liebt, gibt sich der Graf als armer Student aus, und es gelingt ihm, die junge Frau für sich zu gewinnen. Um den alten Bartolo zu überlisten und näher an seine Angebetete heranzukommen, rät Figaro dem Grafen, sich zu verkleiden. Zunächst erscheint er als betrunkener Soldat mit einem gefälschten Einquartierungsbefehl, das geht gründlich schief. Der nächste Versuch ist schon wesentlich raffinierter: Als vermeintlicher Gesangslehrer erhält Almaviva alias Lindoro ungehindert Zugang zu Rosina. Am Ende siegt die Liebe. Zumindest fürs Erste.

Theater und Orchester Heidelberg; Foto © Susanne Reichardt

Denn dass das Eheglück dem Paar Almaviva und Rosina nicht allzu lange erhalten bleibt, erfahren wir im zweiten Teil der Figaro-Trilogie von Beaumarchais, die Wolfgang Amadeus Mozart als Vorlage für »Die Hochzeit des Figaro« diente. Almaviva begibt sich schon bald auf amouröse Abwege und steigt Figaros Verlobter Susanna hinterher. Diese Oper lief mit großem Erfolg in der vergangenen Spielzeit am Theater Heilbronn.

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Sprechende Gegenstände, zweifelhafte Wahrnehmungen und eine raffinierte Intrige

Kay Neumann inszeniert »Über den Dingen« von Martin Suter für das Komödienhaus

von Katrin Aissen

v.l.n.r.: Judith Lilly Raab, Pablo Guaneme Pinilla, Lukas Schneider, Tobias D. Weber; Foto © Verena Bauer

»Wenn ich allein bin, spreche ich mit den Dingen. Vielleicht kennen Sie das: Wenn Sie eine ganze Nacht lang arbeiten müssen, dann bekommen auch die Geräusche etwas ganz Bedrohliches. Und ich habe mich dann gefragt: Was wäre eigentlich, wenn die Dinge antworten würden.« Martin Suter

Reto ist mal wieder allein zu Hause. Seit seiner Trennung von Susi hat er ein wiederkehrendes abendliches Ritual: die Tiefkühlpizza in den Ofen schieben, sich ein Glas Rotwein einschenken und ein »kultiviertes After-Work-Selbstgespräch führen«. Dabei spornt er seinen automatischen Staubsauger zum eifrigen Arbeiten an, sein Topfhandschuh mutiert im ausgelassenen Spiel zum bissigen Hund und auch die Pizza wird launig angesprochen. Soweit business as usual, bizarr wird es erst, als die Pizza in das Gespräch einsteigt. Und als sich auch noch der Hugo Boss-Anzug, der Topfhandschuh, das Blumenkissen und der psychologisch geschulte Sessel – er stand früher jahrelang in der Praxis eines Psychiaters – einschalten, gerät Retos Lebenswelt ins Wanken: Hat er ein Gläschen Wein zu viel getrunken? Ist er einsam und bildet sich Dinge ein? Hat er Wahrnehmungsverschiebungen? Kann er seinem eigenen Verstand noch trauen? Doch damit nicht genug: Die Gegenstände können scheinbar nicht nur sprechen, sie haben auch die Beziehung zwischen dem selbstbewussten Produktmanager Reto und seiner Ex-Freundin Susi genau beobachtet und analysiert – und Reto kommt dabei gar nicht gut weg. Wähnt er sich doch als derjenige, der Schluss gemacht hat und der sein Single-Leben genießt, sind die Dinge da vollkommen anderer Meinung. Auch als das Blumenkissen zögerlich davon berichtet, wofür Susi es in Retos Abwesenheit bei ihren Männerbesuchen verwendet hat, erhöht das nicht gerade Retos Selbstwertgefühl …

Martin Suter, bekannt vor allem durch seine hintergründigen – mehrfach ausgezeichneten und verfilmten – Romane, in denen die Protagonisten durch unvorhersehbare, manchmal surreale Ereignisse aus ihrer Lebensroutine gerissen werden, setzt in seinem scharfsinnigen und unglaublich komischen Schauspiel die Beschäftigung mit Figuren im Ausnahmezustand fort. Pointiert, pfiffig und mit bösem Witz erweckt er die Gegenstände zum Leben: Mit dem schwäbisch sprechenden Hugo Boss-Anzug, dem aggressiv-bissigen Topfhandschuh, der launenhaften Pizza, dem schüchternen Blumenkissen, dem therapeutisch bewanderten Sessel oder dem ewig stichelnden Pouf, um nur einige zu nennen, hat er wunderbar plastische Charaktere mit amüsanten menschlichen Eigenschaften entwickelt.

Am Theater Heilbronn wird Regisseur Kay Neumann diese spitzzüngige Komödie mit Unterstützung des Figurenspielers Lukas Schneider als ein Stück für vier Schauspieler in 13 Rollen auf die Bühne bringen. Die Hauptfigur des vermeintlichen Gewinnertypen Reto, dessen falsche Selbsteinschätzung im Laufe des Stücks lustvoll dekonstruiert wird, verkörpert Pablo Guaneme Pinilla. Judith Lilly Raab, Tobias D. Weber und Lukas Schneider spielen nicht nur jeweils einen menschlichen Charakter, sondern kreieren auch als Figurenspieler einen zum Schmunzeln anregenden Bühnen-Kosmos, eine Gesellschaft der Dinge!

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Auf musikalischer Reise durch die Höhen und Tiefen einer Künstlerbiografie

Uraufführung des humorvoll-lebensklugen Stücks »Die Donauprinzessin« des bayerischen Ausnahmekünstlers Georg Ringsgwandl im Salon3

von Sophie Püschel

Juliane Schwabe; Foto © Verena Bauer

Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. Davon kann die junge Schauspielerin (Juliane Schwabe), die in Georg Ringsgwandls musikalischem Theaterstück »Die Donauprinzessin« durch den Abend führt, im wahrsten Sinne ein Lied singen. Einst war sie die große Nachwuchshoffnung des deutschen Theaters: Ihr erstes Engagement führte sie an ein Staatstheater der Oberliga, wo ihr einer der angesagtesten Regisseure Europas die Rolle der Nina in seiner »Möwe«-Inszenierung von Tschechow verschafft. Einladungen zu internationalen Festivals und Lobeshymnen der Presse folgten. Doch nach dem ersten großen Triumph bleibt ihr das Glück nicht lange treu! Wie Tschechows Nina muss auch Georg Ringsgwandls Protagonistin immer tiefer in die Niederungen des Künstlertums steigen und sich so mancher Bewährungsprobe stellen.

Aus Gastverträgen an kleinen Theatern werden schlecht bezahlte Auftritte bei Firmenevents und schließlich bleibt nur der Kellnerjob. Neben dem beruflichen Erfolg verabschiedet sich zu allem Überfluss auch ihr Freund Tim sang- und klanglos aus ihrem Leben. Da Jammern nichts hilft und Miete, Strom und Essen bezahlt werden müssen, landet die Schauspielerin schließlich auf dem Kreuzfahrtschiff »Donauprinzessin«, wo sie zusammen mit zwei Musikern die Passagiere mit Coverhits unterhält. Die »verkannte« Schauspielerin nimmt das Publikum in Georg Ringsgwandls ebenso komischem wie lebensklugem Stück mit auf den Donaudampfer, auf dem die Tage nach einem immer festen Rhythmus verlaufen. Die einzige Abwechslung bieten die ungewöhnlichen Lebensgeschichten und Schicksale der Mitreisenden, die sich nach den Auftritten zu ihr und der Band an die Bar setzen. Die skurrilen Erzählungen füllen mühelos einen ganzen Theaterabend. Während die Schauspielerin das eigene Leben mit den Geschichten der Mitreisenden abgleicht, verleiht sie ihren Gefühlen und Gedanken mit live gesungenen Songs Ausdruck, die von den Beatles bis zu den Dire Straits, von Tina Turner bis Friedrich Holländer, vom Country-Klassiker bis zum Volkslied reichen. Unterstützt wird Juliane Schwabe bei dieser musikalischen Reise von den Multiinstrumentalisten Erik Biscalchin und Micha Schlüter.

Mit bittersüßem Humor und entlarvend genauem Blick für die tragikomischen Details des Lebens blättert der vielfach ausgezeichnete Liedermacher, Kabarettist und Autor Ringsgwandl in »Die Donauprinzessin« die sozialen und seelischen Abgründe einer Künstlerbiografie auf. Analog zu Tschechows Nina erfährt auch Georg Ringsgwandls Schauspielerin am eigenen Leib, dass in der Kunst »nicht der Ruhm, nicht der Glanz die Hauptsache ist, sondern die Fähigkeit zu dulden. Wenn ich an meinen Beruf denke«, so lässt es Tschechow seine Nina formulieren, »habe ich keine Angst mehr vor dem Leben.« Georg Ringsgwandls musikalisch-heitere Dampferfahrt des Lebens wird von der Regisseurin Luise Leschik, die zuletzt Nick
Hornbys »NippleJesus« in Heilbronn inszeniert hat, am 5. Januar 2024 im Salon3 zur Uraufführung gebracht.

Der bayerische Ausnahmekünstler und musikalische Tausendsassa Georg Ringsgwandl (*1948) hat sich als »Karl Valentin des Rock’n’Roll« mit seinen literarisch-skurrilen Liedtexten einen Namen gemacht, wofür er u. a. mit dem »Salzburger Stier«, dem Deutschen Kleinkunstpreis und dem Bayerischen Kabarettpreis in der Kategorie Musik ausgezeichnet wurde. Neben zwölf Alben veröffentlichte er mehrere Theaterstücke und Erzählungen. 2023 erschien sein erster Roman »Die unvollständigen Aufzeichnungen der Tourschlampe Doris« über Glanz und Grusel des Rock’n’Roll. Aktuell ist er gemeinsam mit seiner Band mit dem Programm »Arge Disco« auf Tour in Deutschland und Österreich.

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