Drehtürenballett bei »Tartuffe«

Bam. Stella Goritzki bekommt beim Abgang von der Bühne die Drehtür ins Gesicht und lässt einen Heuler los. Aber vom Regiepult in der achten Reihe des Großen Hauses hört man Lacher. Nein, das ist kein Unfall. Das ist die »Drehtürballett«-Probe am Donnerstagabend, zehn Tage vor der Premiere.

Für die Inszenierung von Molières »Tartuffe« haben sich Regisseur Klaus Kusenberg und Bühnenbildner Peter Scior einen rechtwinklig zulaufenden, getäfelten Raum bauen lassen, der es in sich hat: Jeweils zwei der Wände rechts und links bestehen aus Drehtüren, die Spitze hinten ist ein Drehkreuz. Das ist in einem Stück, in dem permanent »Durchgangsverkehr« herrscht und potentielle Lauscher an der Wand auch mal überraschend in den Raum purzeln, ein ideales Mittel, um Tempo bei den Auf- und Abritten und slapstickartige Komik zu ermöglichen.

Aber damit die Türen aus Birkenholz (darunter ist ein Eisenrahmen!) im Gesicht wirklich nur inszeniert sind und keine Finger gequetscht werden, heißt es: üben, üben, üben. Deshalb eine ganze Bühnenprobe, nur um genau – und mit Beteiligung der Arbeitssicherheit – abzuklären, wie sich die Geschwister Mariane (Stella Goritzki) und Damis (Sven-Marcel Voss) die Wände auf die Nasen hauen, die stets lauschende Dorine (Sabine Unger) unverhofft ins Zimmer stürzt oder der Gerichtsvollzieher Monsieur Loyal (Frank-Lienert Mondanelli) ganz am Schluss seinen gewichtigen Auftritt hat. Nicht zu vergessen, wer wann die Türen und das Drehkreuz wieder schließt. Regieassistentin Nina Steinert und Inspizientin Kim Dinah Burkhard notieren alle Positionen und Abläufe akribisch mit, um zu garantieren, dass auch bei der Wiederaufnahme im Herbst dem »Tartuffe« das Timing nicht abhanden kommt.

Noch einmal bekommt Stella Goritzki – das ist jetzt der fünfte Versuch – die Drehtür von ihrem »Bruder« Sven-Marcel Voss ins Gesicht. Und rächt sich ihrerseits mit einem Türschlag. Bam bam. »Sehr charmant«, lacht Klaus Kusenberg von seinem Platz am Regiepult. »Das halten wir genau so fest. Und jetzt noch mal.«

Premiere am 23. Juni 2018, 19.30 Uhr
Weitere Informationen zum Stück: https://www.theater-heilbronn.de/spielplan/detail/inszenierung/tartuffe.html

Lucy Scherer in „Zwei hoffnungslos verdorbene Schurken“ – Premiere am 17. März 2018

Unsere „Schurken“ werfen ihre Schatten voraus: Für die weibliche Hauptrolle im turbulenten Musical „Zwei hoffnungslos verdorbene Schurken“ ist es uns gelungen, Musical- und TV-Star Lucy Scherer zu gewinnen. Ab 17. März singt, spielt und tanzt sie auf der Bühne des Großen Hauses die Rolle der „Seifenkönigin“ Christine Colgate, auf deren Geld und Ehre es unsere beiden „Schurken“ Stefan Eichberg und Oliver Firit abgesehen haben. Neben Hauptrollen in den TV-Serien „Hand aufs Herz“ (SAT1) und „Sturm der Liebe“ (ARD) ist sie durch die großen Musicals im Palladium Theater Stuttgart bekannt, als Adrian in „Rocky“, in der Hauptrolle in „Rebecca“, als Sarah in „Tanz der Vampire“ und als Glinda in „Wicked – Die Hexen von Oz“. Mit „Rocky Horror“- und „Schurken“-Regisseur Thomas Winter hat Lucy Scherer im letzten Jahr für das Theater Bielefeld die Uraufführung des Musicals „Das Molekül“ auf die Bühne gebracht.

AB Ins Theater!

Und dass es Glück war, wird man erst aus der Distanz sehen.

KONICA MINOLTA DIGITAL CAMERA
KONICA MINOLTA DIGITAL CAMERA

Dieses Zitat aus Peter Stamms Roman Agnes beschreibt ziemlich treffend, was ich fühle, wenn ich an mein Abitur zurückdenke. Ohne Frage, eine nervenaufreibende und stressige Zeit. Und doch empfinde ich sie im Nachhinein als eine intensive Phase voller schöner Momente, geprägt von Zusammenhalt und Tatendrang. Mein Abi ist mittlerweile drei Jahre her, die Sternchenthemen für das Deutsch-Abitur sind aber immer noch dieselben wie damals. Homo Faber und Agnes –  diese zwei Werke gehören unter anderem zu der Pflichtlektüre für die Allgemeinbildenden Gymnasien. Im Rahmen meines Praktikums werde ich nun noch einmal mit dem Stoff konfrontiert, sitze zwischen Deutschkursen in der Vorstellung und dieses beflügelnde Abi-Feeling kommt tatsächlich noch einmal auf.

Los geht’s mit Homo Faber in der Pocketversion. 2013 habe ich dieses Stück im Großen Haus gesehen, mittlerweile gibt es die komprimierte Fassung in der BOXX. Kammerspielartig und auf das Wesentliche reduziert – eine perfekte Vorbereitung für die Schüler und eine perfekte Möglichkeit für mich, die Handlung, die Figuren und die Motive ins Gedächtnis zurückzurufen. Am gleichen Tag besuche ich zudem die Autorenlesung von Peter Stamm. Er sitzt – im behaglichen Bühnenbild des Komödienhauses von Der Vorname integriert – auf einem alten Plüschsessel und wird mit Fragen gelöchert. Dies ist die einmalige Gelegenheit, um das ein oder andere Geheimnis zu Agnes von ihrem Schöpfer höchstpersönlich lüften zu lassen.

Zusätzlich zu den „Frontaldarbietungen“ im Theater gibt es speziell für die Abiturienten kostenlose Theaterworkshops. So zum Beispiel  der Workshop zu Homo Faber in der Theaterwerkstatt im Wollhaus. Theaterpädagogin Katrin Singer verteilt laminierte Kärtchen, lässt die Schüler in die Rollen der Hauptfiguren schlüpfen und gibt Kontexte vor, in denen die Figuren nun miteinander interagieren sollen. Die zentralen Motive werden sowohl situativ als auch in Diskussionen interpretiert und das Hineinversetzen in den Stoff wird zum Gruppenerlebnis. Bei den Standbildern freuen sich sowohl die Darstellenden als auch die Zuschauer über die oft sehr originelle Umsetzung.
Nach diesen ganzen konstruktiven Vorbereitungsmaßnahmen bleibt nur noch, viel Erfolg für die im April anstehenden Prüfungen zu wünschen! Und falls so langsam Panik und Schrecken aufsteigen sollte, denkt daran, was Max Frisch einmal gesagt hat:
Die Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.

Patricia Heiss ist als Praktikantin für sechs Wochen am Theater Heilbronn und sammelt dort Erfahrungen im Bereich der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Sie studiert an der Universität Mannheim im fünften Semester Kultur & Wirtschaft.

Das Fernsehen im Theater – das Theater im Fernsehen

SWR-Magazin „Kunscht!“ zeigt wenige Tage vor der Premiere von „Ein Lied von Liebe und Tod (Gloomy Sunday)“ erste Einblicke und Hintergründe

SWr Kunschd im Theater HeilbronnInterviews, Szenenausschnitte und der Alltag hinter den Kulissen – das Kamerateam des SWR begleitet an dem Montagnachmittag vor der Premiere die Abläufe um die erste Komplettprobe zu „Ein Lied von Liebe und Tod (Gloomy Sunday)“, das am 21. Januar um 19.30 Uhr im Großen Haus Uraufführung feiern wird.
Dabei legt das fünfköpfige Fernsehteam den Fokus vor allem auf die musikalische Quintessenz des Schauspiels von John von Düffel; das berühmt-berüchtigte Lied vom traurigen Sonntag, welchem eine besondere melancholische Anziehungskraft zugeschrieben wird und um welches sich die Legende der „Hymne der Selbstmörder“ rankt. Was empfinden die Schauspieler, wenn sie die weltbekannte, und doch so simple Melodie hören? Worin besteht für Regisseurin Uta Koschel die Besonderheit des traurig-schönen Liedes? Wie wird in der Inszenierung die Verbindung zwischen Dialogen, Bühnenbild und Musik hergestellt? Das sind nur ein paar der Fragen, die das Team um Redakteurin Ursula Böhm stellen.
Zusätzlich begleitet das Kamerateam das geschäftige Treiben abseits vom Scheinwerferlicht: Impressionen vom Probenalltag der Mitarbeiter, die für Ton, Maske, Licht oder Kostüm zuständig sind, vor der wichtigen Probe final Hand anlegen und letzte Veränderungen vornehmen. So wird gefilmt, wie kurz vor der „Vorstellung“ die Frisuren zurecht gemacht werden, im Gang zur Bühne schnell die Hosenträger befestigt werden und die Schauspieler Bettina Burchard, Nils Brück und Paul-Louis-Schopf allmählich durch die optische Veränderung in ihre Rollen schlüpfen. Eine Theaterinszenierung, die über das Medium Fernsehen zugänglich gemacht wird? Funktioniert wunderbar, vor allem weil so interessante neue Perspektiven geschaffen werden, der zoom-in eine unmittelbare Nähe zu den Darstellern schafft. Und die filmischen Momentaufnahmen zeigen, dass im Theater das reibungslose Zusammenspiel von allen Komponenten vor, neben, unter, über und auf der Bühne Voraussetzung für ein gelungenes Ergebnis ist. Egal, ob Probe oder Premiere.
Ausgestrahlt wird der Beitrag am 19. Januar um 22.45 Uhr im SWR, zudem ist die Sendung „Kunscht!“ natürlich in der SWR-Mediathek rückblickend abrufbar.

Patricia Heiss ist als Praktikantin für sechs Wochen am Theater Heilbronn und sammelt dort Erfahrungen im Bereich der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Sie studiert an der Universität Mannheim im fünften Semester Kultur & Wirtschaft

»Ein Lied von Liebe und Tod (Gloomy Sunday)« kommt als Uraufführung ins Große Haus

»Ein Lied von Liebe und Tod (Gloomy Sunday)« kommt als Uraufführung ins Große Haus

Foto: Christian Richter
Foto: Christian Richter

Es ist die Geschichte einer Frau zwischen drei Männern, eines Liedes mit einem gefährlichen Zauber und einer Liebe in einer mörderischen Zeit: Die hinreißend schöne Ilona führt gemeinsam mit ihrem Geliebten László Szabó ein erfolgreiches Restaurant in Budapest, Ende der 30er Jahre. Auch der deutsche Unternehmer Hans Wieck und der Hauspianist András können sich ihrem Zauber nicht entziehen. Während sich András mit dem eigens für Ilona komponierten »Lied vom traurigen Sonntag« Zugang zu ihrem Herzen verschafft, versucht sich Wieck nach seinem aussichtslosen Werben, das Leben zu nehmen. László kann Wieck noch in letzter Sekunde retten. Und während András und Ilona sich ihrer Leidenschaft hingeben, freunden sich László und Wieck an. Als Wieck nach Deutschland zurückgeht, richten sich die übrigen drei in einer gut funktionierenden Dreierbeziehung ein. Mit der Besetzung Ungarns durch die Nazis kehrt aber auch Wieck nach Budapest zurück: Langsam, aber unabwendbar bricht eine Tragödie über die beschauliche Romanze herein.
Entscheidender Bestandteil der Bühnenfassung ist das Lied. John von Düffel schafft einen interessanten Zugang, eine Geschichte über zwei Zeitebenen, verbunden durch eine Melodie, die die Zeit überdauert. Seine Geschichte spielt in der Erinnerung, in Ilonas Erinnerung. »Sie ist die gegenwärtige Besitzerin von Szabós Restaurant. Die erinnerte, ferne Zeit sind die Jahre der Nazi-Besatzung in Budapest und kurz davor. Schauplatz ist das Restaurant, das einmal Szabós Restaurant war. Es ist der Raum der Erinnerung. Medium der Erinnerung ist die Musik. Mit ihr gehen wir durch die Zeiten, Stimmungen, Momente. Durch sie begegnen wir Figuren, Szenen und Konflikten. Im Mittelpunkt des Restaurants steht daher ein Flügel. Wenn er erklingt, dreht die Zeit, dreht sich das Karussell der Erinnerungen.«, beschreibt John von Düffel seine Konzeption. Zu Stückbeginn ist das Restaurant geschlossen. Man sieht einen Raum, der nicht mehr oder noch nicht lebt. Erst das Spiel der Musik und der Erinnerung wird ihn zum Leben erwecken. Es beschwört die Toten herauf und lässt das Vergangene gegenwärtig werden.
Im Zentrum der Geschichte der drei Hauptpersonen steht die Kraft der Liebe, die den Tod überdauert und über Verrat und Vergessen triumphiert. Der historische Bogen von der Vorkriegszeit bis zur Gegenwart wird spannend geschlagen, es geht nicht nur um menschliche Regungen wie Liebe, Treue und Eifersucht, sondern auch um die Utopie von Glück und um das Aufrechterhalten von Würde in einer würdelosen Epoche.

Jeton Nezijrajs »Die Windmühlen« für Kinder ab 10 Jahren rotieren ab 8. Januar 2017 in der BOXX

Kaleidoskop der (Un)Möglichkeiten

WAS TUN, wenn man ein Angebot erhält, das man nicht ablehnen kann?
WAS TUN, wenn ein Mensch, den man liebt, einen Traum hegt, dessen Erfüllung für einen selbst ein großes Opfer bedeutet?
WAS TUN, wenn man an der wohlmeinenden Fürsorge seiner Eltern zu ersticken droht?
WAS TUN, wenn plötzlich Schmetterlinge durch den Magen flattern?
WAS TUN, wenn man feststellt, dass auch Erwachsene nicht immer richtig liegen?
WAS TUN, wenn man sich plötzlich in einer Welt wiederfindet, die alles bisher Gekannte auf den Kopf zu stellen scheint?

plakat_windmuehlen

Aus Perspektive der zehnjährigen Gisela schickt das, extra für die Heilbronner BOXX entstandene, Gedankenspiel des kosovarischen Autors Jeton Neziraj Ensemble und Publikum durch eine Welt, die sich ohne den Filter des erwachsenen Vorurteils als weitaus weniger merkwürdig erweist als erwartet.
Ein Jahr und ein paar Monate sollen es sein, die man abseits der deutschen Heimat verbringen wird. Ziel der merkwürdigen Reise, im Zuge derer Vater Müller den Bau einer Windkraftanlage beaufsichtigen soll, ist UNMIKISTAN*.
10 Buchstaben, die innerhalb der Familie Müller völlig unterschiedliche Assoziationen wachrufen.
Während Vater Müller sich durch die hoffentlich erfolgreiche Umsetzung seines Auftrages bereits auf halbem Wege zum Nobelpreis sieht, stehen seiner Frau, der Juristin, beim Gedanken an eine völlig fremde Kultur mit sicherlich barbarischem Rechtsverständnis augenblicklich die Haare zu Berge – Karriere des Gatten hin, notwendige Entwicklungshilfe her.
Tochter Giselas Kopfkino hingegen, ist bei Aussicht auf ein solches Abenteuer kaum mehr zu bremsen. Was wäre, wenn sie das elterliche Verbot heimlich umgehen, die Welt jenseits des Gartenzauns entdecken und auf einen Jungen mit verschiedenfarbigen Augen treffen würde …?

*Hinter dem Ziel der merkwürdigen Reise der Familie Müller verbirgt sich nichts anderes als der Kosovo. Die sarkastische Bezeichnung UNMIKISTAN spielt auf den Umstand an, dass die Region seit 1999 unter Aufsicht einer Interims-Zivilregierung, der UNMIK (United Nations Interim Administration Mission in Kosovo) steht, deren Mitarbeitenden von kosovarischer Seite häufig Unregelmäßigkeiten, politische Willkür und sonstige Fehlverhalten vorgeworfen werden.

Matthieu Delaportes und Alexandre de la Patellières Bühnenerfolg »Der Vorname« im Komödienhaus

Brillant-böses Desaster-Dinner

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen gemütlich mit Verwandten und alten Freunden beim gemeinsamen Abendessen zu Hause. Man kennt sich in- und auswendig – denkt man. Die Gastgeberin hat mit viel Aufwand ein exotisches Buffet vorbereitet, die Gäste haben den Wein mitgebracht. Jemand am Tisch ist schwanger, und natürlich fragt jemand: Wie soll das Kind denn heißen? Antwort: Adolf!

Soll das ein Scherz sein? Sprengt so etwas die Grenzen des guten Geschmacks, der politischen Korrektheit und der Toleranz? Wie viel Provokation vertragen Familien- und Freundschaftsbande wirklich? Und ist das komisch?

Die Antwort gibt der gigantische Erfolg, den »Der Vorname«, das Debütstück der beiden Franzosen Matthieu Delaporte und Alexandre de la Patellière, nicht nur im französischen und deutschen Sprachraum, sondern inzwischen auch international hat. Seit der Uraufführung 2010 in Paris begeistert die pointierte Konversationskomödie ihr Publikum, heimste den Preis SACD 2011 der Académie française und sechs Nominierungen für den wichtigsten französischen Theaterpreis, den Prix Molière, ein und wurde mit den Schauspiel-Stars Patrick Bruel und Charles Berling erfolgreich von den beiden Autoren auch auf die Kinoleinwand gebracht. Nicht verwunderlich, denn »eigentlich« arbeiten Delaporte und de la Patellière für Film und Fernsehen: Kennengelernt haben sich die beiden, als sie 1995 zufällig im selben Gebäude die Endfassung ihrer Filme schnitten. Gemeinsam waren sie bei der Produktionsfirma Onyx Films, schrieben Drehbücher und schufen die hoch gelobten Zeichentrickfilme »Renaissance« fürs Kino und »Skyland« fürs Fernsehen. Seit dem Überraschungserfolg von »Der Vorname« haben sie mit »Das Abschiedsdinner« und »Alles was Sie wollen« zwei weitere Theaterstücke herausgebracht.

»Der Vorname« spielt an einem Abend in der Pariser Wohnung des Literaturprofessors Pierre (bei uns gespielt von Stefan Eichberg) und seiner Frau Elisabeth (Judith Lilly Raab). Eingeladen sind Elisabeths jüngerer Bruder Vincent (Oliver Firit) und seine schwangere Partnerin Anna (Stella Goritzki), sowie der Posaunist Claude (Raik Singer), ein langjähriger Freund der Gastgeber. Was als netter Abend unter Freunden beginnt, entwickelt sich zwischen  schmackhaften Briouats und Zaalouk zu einem wahren Desaster-Dinner, bei dem sich hinter der Fassade des linksliberalen Bildungsbürgertums gar finstere (und urkomische) Abgründe auftun. Und dann serviert ausgerechnet die »Pflaume« Claude zum Dessert noch ein pikantes Familiengeheimnis.

Für Regisseur Jens Kerbel und Ausstatterin Carla Friedrich, die in der letzten Spielzeit »Rita will‘s wissen« auf die Bühne des Komödienhauses brachten, besteht der Reiz und die Herausforderung bei »Der Vorname« darin, wie »brillant und böse« durch den hinterhältig gelegten Sprengsatz einer Provokation sehr schnell gesellschaftliche Konventionen, aufgeklärte Wertvorstellungen und bequem eingerichtete Lebensentwürfe in die Luft gewirbelt werden. Aus der kontroversen Diskussion um den »Vornamen« wird ein rasantes verbales Gefecht, bei dem jede/r der Anwesenden mehr als genügend Angriffsfläche bietet. Sind die Grenzen erst einmal überschritten, gibt es kein Halten mehr – und nicht nur der Wohnzimmertisch geht zu Bruch. Viel Vergnügen!

Schuldig oder nicht schuldig – wie werden Sie entscheiden?

Schuldig oder nicht schuldig – wie werden Sie entscheiden?

Gerechtigkeitsgttin

»Das Stück der Saison ist eigentlich kein Stück, Sondern ein Ereignis«, jubelte ein Kritiker. Und in »Der Spiegel« gestand der Filmemacher und promovierte Jurist Alexander Kluge: »Ich gehe nicht oft ins Theater. Aber ich wünschte mir mehr solcher Stücke.« Geschrieben wird hier über »Terror«, den derzeit meist gespielten deutschsprachigen Theatertext, der an 47 Bühnen, von Berlin bis Wien, von Kopenhagen bis Venezuela zu sehen ist.
»Terror« ist der Bühnenerstling von Ferdinand von Schirach, einem der auch international erfolgreichsten deutschen Schriftsteller und einem der prominentesten deutschen Strafverteidiger. 2009 debütierte er mit 45 Jahren mit dem Erzählband »Verbrechen« als Autor, inzwischen sind ein weiterer Band mit Erzählungen (»Schuld«), zwei Romane (»Der Fall Collini« und »Tabu«) und eine Reihe von Essays erschienen – und nun ein Theaterstück, das seit der Doppeluraufführung am 3. Oktober 2015 in Berlin und Frankfurt Publikum und Presse begeistert.
Von Schirach nutzt in »Terror« die inhärente Theatralität unseres Rechtssystems: Auf der Bühne läuft eine Gerichtsverhandlung ab, mit einem Vorsitzenden, einem Angeklagten, einem Verteidiger, einer Staatsanwältin und Zeugen. Ein – leider gar nicht mehr so unwahrscheinlicher – Fall wird verhandelt: Am 26. Mai 2013 entführte ein Terrorist einen Airbus der Lufthansa. Er drohte, das Flugzeug mitten in ein voll besetztes Fußballstadion, die Allianz-Arena in München, stürzen zu lassen und so 70 000 Menschen zu töten. Der Bundeswehr-Major Lars Koch hat das Flugzeug kurz vor der Katastrophe aber abgeschossen und dadurch 164 Menschen an Bord getötet. Nun soll vor der Großen Strafkammer des Schwurgerichts entschieden werden, ob er dafür schuldig oder unschuldig gesprochen wird. Und die Entscheidung trifft – das Publikum, das als Schöffinnen und Schöffen am Prozess beteiligt ist.
Mit diesem klugen »Kniff« kommt das Geschehen auf der Bühne tatsächlich »über die Rampe« und bezieht die Zuschauerinnen und Zuschauer unmittelbar mit ein. Nicht nur in den Prozessverlauf, sondern auch in den spannenden Diskurs über Recht und Gerechtigkeit, Schuld und Verantwortung, Moral und Ethik, den von Schirach hier anstößt.
Über die konkrete (Spiel-)Handlung hinaus veranstaltet er ein Gedankenexperiment, das zu einer eigenen Haltung herausfordert und drängende Fragen unserer Zeit zuspitzt: Darf Leben gegen Leben aufgewogen werden? Rechtfertigt der Zweck die Mittel? Sind die Werte unseres Grundgesetzes und der Kampf gegen den Terror, das Bedürfnis nach Sicherheit und der Drang nach Freiheit miteinander vereinbar? Nach welchen ethischen Koordinaten richten wir unser Leben und Handeln aus? Wie werden wir entscheiden? Was tun?
Am Theater Heilbronn inszeniert Intendant Axel Vornam dieses »Stück der Stunde« in einem stilisierten Gerichtssaal. Für die Rolle des Angeklagten, Major Lars Koch, kommt Ferdinand Seebacher als Gast noch einmal zurück ins Ensemble.

»Wir sind schon längst im freien Fall«

»Kriegerin« ab dem 24. September in der BOXX

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Für Marisa ist klar: »Wir sind keine Nazis. Wir sind rechts, das stimmt. Wir mögen Deutschland, das stimmt auch. Wir mögen Deutschland gerne deutsch.« Eben noch pöbelte sie mit ihren Leuten – allen voran Marisas Freund Sandro – gegen die in ihrer Stadt untergebrachten Geflüchteten und fährt in einem Anflug exzessiver Gewalt die afghanischen Brüder Rasul und Jamil mutwillig mit dem Auto an. Die darauf folgenden Ereignisse holen sie unvermittelt ein. Denn Rasul steht plötzlich im Supermarkt vor ihr und lässt sich nicht abschütteln. Zur selben Zeit steigt Svenja, fasziniert von den archaischen Ritualen und Parolen, immer tiefer in die rechte Szene ein. So stehen sich nicht nur Marisa und Rasul gegenüber, plötzlich sieht sich Marisa auch mit Svenjas Radikalisierung konfrontiert, die der ihren ähnlich und damit ein Spiegel ihrer bisherigen Einstellung ist. »Wir rasen nicht einmal mehr auf den Abgrund zu. Wir sind schon längst im freien Fall«, weiß Marisa.
»Auch wer lange in der rechten Szene drinsteckt, hat nicht jede Menschlichkeit verloren. Da darf man auch niemanden aufgeben.« David Wnendt, Regisseur des ausgezeichneten Kinofilms »Kriegerin«, ließ es nicht bei dieser Überlegung bewenden. Noch im Erscheinungsjahr des Films 2012 bezog Wnendt Stellung zur Frage, ob die Demokratiefeindlichkeit in der breiten Bevölkerung zunehmend auf fruchtbaren Boden falle: »Es gibt Umfragen, die besagen, dass mittlerweile über die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland der Demokratie skeptisch gegenüber steht. Das sind alarmierende Zahlen. Das parlamentarische System verliert zunehmend an Rückhalt. Die Rechtsextremen sind nicht vollkommen isoliert. Ihre Kritik am System findet auch Anklang bei normalen Bevölkerungsschichten.« Belege dafür liefern nicht zuletzt die seit 2014 anhaltenden Aufmärsche von Pegida und die Montagsmahnwachen, die sich als sogenannte »Volksbewegungen« präsentieren. Die Demonstrierenden bringen dort ihre gefühlte Bedrohung durch Flüchtlinge,  den Islam oder auch eine jüdisch-amerikanische Weltverschwörung zum Ausdruck. Auch wenn die Zahlen der Demonstranten derzeit rückläufig sind, die propagierten Inhalte bleiben öffentlichkeitswirksam. So ergab die aktuelle Mitte-Studie der Universität Leipzig von 2016, dass jeder und jede zweite Deutsche in diesem Jahr angab, sich »wie ein Fremder im eigenen Land« zu fühlen und das nachweislich über 40% der Befragten Muslimen und Muslimas die Zuwanderung nach Deutschland untersagen wollen. Immer noch werden diese Ergebnisse vielerorts als vermeintlich unerwarteter »Rechtsrucks in Deutschland« beschrieben; etwa, dass 21,9% der Aussage beipflichten, dass Deutschland jetzt eine einzige starke Partei brauche, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpere, 32,1% die Ansicht teilen, die Ausländer kämen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen und noch immer 12% der Befragten der Aussage voll zustimmen, dass die Deutschen anderen Völkern von Natur aus eigentlich überlegen seien. Tatsächlich aber werden dadurch die faktischen Entwicklungen der mindestens letzten 25 Jahre innerhalb Deutschlands und Europas verschleiert.
Ohne kategorische Antworten zu liefern, zeigt »Kriegerin« die tiefsitzenden Ängste vor dem vermeintlich Anderen. Einerseits lässt sich das Verführungspotenzial rassistischer Gesinnungen durch die theatrale Bearbeitung einmal mehr zur Diskussion stellen, andererseits aber auch die oft unterstellte Unmöglichkeit, eine Veränderung der Wahrnehmung und eine Empathie für den Anderen hier als eine Möglichkeit erfahren.
Nach »Krieg – Stell dir vor, er wäre hier« eröffnet Adewale Teodros Adebisi die Spielzeit 2016/2017 in der BOXX mit seiner Inszenierung von »Kriegerin«. Die Ausstattung übernimmt Gesine Kuhn, die bereits für »Krieg – Stell dir vor, er wäre hier« und »Die Werkstatt der Schmetterlinge« Bühne und Kostüme entworfen hat.

In der Katastrophe wird die Wahrheit offenbar

 »Der Besuch der alten Dame« ab 23. September im Großen Haus

besuch-der-alten-dameEs ist »eine Geschichte, die sich irgendwo in Mitteleuropa ereignet, geschrieben von einem, der sich von diesen Leuten durchaus nicht distanziert und der sich nicht sicher ist, ob er anders handeln würde.« So beschreibt es Friedrich Dürrenmatt in seinen Anmerkungen zu »Der Besuch der alten Dame«. Das Stück spielt in Güllen, einer Kleinstadt, die sich in einer wirtschaftlichen Krise befindet. Es gibt viele Arbeitslose und die Industrie ist zusammengebrochen. Doch es gibt einen Hoffnungsschimmer: Claire Zachanassian, inzwischen die reichste Frau der Welt, hat ihren Besuch angekündigt, und so hoffen die Bewohner, dass die alte Dame, die selbst aus Güllen stammt, ihnen mit einer großzügigen Geldspende aus der Not helfen wird. Sie ist tatsächlich gekommen, um ihrer Heimatstadt zu helfen, aber sie verlangt im Gegenzug Gerechtigkeit. Claire, die damals noch Klara Wäscher hieß, musste Güllen vor vielen Jahren gedemütigt verlassen, nachdem sie von ihrem früheren Liebhaber Alfred Ill erst geschwängert und dann sitzengelassen wurde. Um der Vaterschaftsklage zu entgehen, hat er im Prozess Zeugen bestochen, die angaben, auch mit Klara geschlafen zu haben. Klara musste dadurch einerseits schmerzhaft erfahren, dass Liebe kein verlässlicher Wert ist und andererseits, dass man alles kaufen kann, Waren wie Menschen. Durch das Gerichtsurteil wurde sie zur Hure, zum Sinnbild der käuflichen Liebe. Und so ist es nicht die Wohltätigkeit, die sie treibt, sondern vielmehr der Wunsch nach Rache. Und sie kann es sich leisten. Denn mittlerweile hat sich das Blatt gewendet. Sie kommt zu Stückbeginn mit ihrem siebten Ehemann und einer Schar merkwürdiger Bediensteter angereist. Nun stellt sie die Bedingungen, denn sie hat die Finanzkraft. Und so verspricht sie eine Milliarde für Güllen – 500 Millionen für die Stadt, 500 Millionen verteilt auf alle Bürger – wenn jemand das Unrecht, das ihr angetan wurde, wiedergutmacht. Eine Milliarde, wenn jemand Alfred Ill tötet. Natürlich lehnt die Bevölkerung das Angebot zunächst aus moralischen Gründen ab. Doch schon bald beginnen die Menschen zu konsumieren, auf Kredit zu kaufen und sich immer mehr in den Maschen der Ökonomie zu verfangen.
Für Regisseurin Uta Koschel steht in diesem Stück jedoch nicht das menschliche Fehlverhalten des Einzelnen im Zentrum. Ihr Interesse gilt vielmehr der Zwangsläufigkeit der Geschichte. Durch das Angebot der alten Dame wird etwas in Gang gesetzt, das nicht mehr aufzuhalten ist. Natürlich will niemand Ill töten. Doch die Verlockungen des Konsums sind in der Not zu groß und so offenbart sich die Leichtfertigkeit, mit der die Menschen auf Kredit kaufen, die Augen vor den Konsequenzen verschließend. In »Der Besuch der alten Dame« bestätigt sich die marxistische Grundaussage, nach der das Sein das Bewusstsein bestimmt. Anders ausgedrückt heißt das, dass die materiellen Lebensumstände das Denken prägen. Dürrenmatt versteht sich nicht als Therapeut, sondern als Diagnostiker und skeptischer Opponent, dessen Literatur das Publikum zu Irritation und kritischer Reflexion bewegen soll. Und in der Tat stellt sich die Frage bei jedem von uns: Was würden wir anstelle der Güllener tun? Ist die Aussicht auf schnellen Reichtum wirklich so einfach zu verwerfen, wie es in moralischem Sinne sein sollte? Lebt uns der Kapitalismus nicht genau das vor? Kapital schafft Macht über all jene, die weniger besitzen. Im privaten wie globalen Kontext. Auf politischer Ebene wird unsere Finanzkraft genutzt, um anderen Staaten zu helfen, ihnen gleichzeitig aber auch die Bedingungen für diese Hilfe vorzuschreiben. Und »sie sind gezwungen unsere Auflagen zu erfüllen, denn ohne uns werden sie da nicht mehr herauskommen« (IWF-Chefin Christine Lagarde).
Was wir brauchen, ist ein gesellschaftliches Gewissen. Der kategorische Imperativ, den Kant 1785 entwickelte, muss zu einer gesellschaftlichen, allgemeinen Aufgabe werden. »Doch unser heutiges Gewissen ist pervertiert. Es lautet nicht: Ich bin gut. Es lautet: Die anderen sind ja auch schlecht.« Das stellte Dürrenmatt schon 1961 fest. Und bis heute hat sich daran nichts verändert. Wir ziehen uns mit dieser Ansicht schlichtweg aus der Verantwortung. Der mit dem Besuch der alten Dame rapide einsetzende Verfall der, von den Güllenern zu Beginn des Stücks noch hoch gepriesenen, »christlich-humanistischen Werte« zeigt in erschütternder Weise, dass solche Traditionen einer zunehmenden Ökonomisierung aller Lebensumstände kaum etwas entgegenzusetzen haben.
Doch was können wir tun? Protestieren. Vielleicht. Besser wäre es aber unsere Haltungen und Handlungen zu reflektieren. Denn unsere Entscheidungen haben Einfluss auf eine Zukunft, die noch gestaltet werden kann. Dürrenmatt kommt 1969 in seinem »Monstervertrag über Gerechtigkeit und Recht« zu dem Ergebnis: »Nicht der Einzelne verändert die Wirklichkeit, die Wirklichkeit wird von allen verändert. Die Wirklichkeit sind wir alle, und wir sind immer nur Einzelne.«