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THEATERKASSE
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Im März 2020 war Charlie Prince als Artist in Residence am Theater Heilbronn zu Gast und hat sein Tanzstück »Cosmic A*« entwickelt. Es wird nun als Deutsche Erstaufführung bei der diesjährigen Ausgabe von »Tanz! Heilbronn« zu sehen sein. Der libanesisch-kanadische Künstler begibt sich auf die Suche nach Darstellungsweisen einer arabischen Identität – jenseits von Vorurteilen und äußeren Zuweisungen. Prince selbst ordnet das Stück dem Arab-Futurismus zu – einer relativ neuen, selbstbewussten künstlerischen Bewegung. Dabei gibt er aber zu bedenken, dass es nicht die eine arabische Identität gibt.
Aufgewachsen in einem Dorf in den Bergen Libanons emigriert der damals 10-jährige Charlie Prince 2001 mit seiner Familie nach Kanada. Wenige Jahre später zieht die Familie wieder in den Libanon und als 16-Jähriger kehrt Prince zurück nach Kanada. Er studiert Musik, klassischen und zeitgenössischen Tanz in Montreal. Stets ist er konfrontiert mit der Frage nach Herkunft und Tradition. Und in Europa, wo er heute lebt, trägt sein Körper noch immer die Schwingungen seiner Heimat in sich. Durch die Unruhen im Libanon, der kurz vor dem Staatsbankrott stand, kam Charlie Prince 2019 die Idee zum Titel seines Stücks: Cosmic A*. Der Titel bezieht sich im kosmischen Sinn auf Alles und auf Nichts. Im Libanon sah Prince viele junge Menschen, die sich gegen das korrupte System auflehnten, »sah ihre Kraft, die Freude, den Zorn und wie Körper sich vermischen«, erzählt er in einem Interview mit der Heilbronner Stimme vom 20. März 2020.
Sein Körper wird in »Cosmic A*« zu einem archäologischen Raum, der sich an Ausgrabungen beteiligt. Er taucht ein in eine imaginierte Mythologie und erschafft Körperbilder, die an Zentauren und hybride Fabelwesen erinnern. Mit seiner choreografischen Arbeit will Prince die Vergangenheit aus der Gegenwart wiederherstellen, um so Zukunft zu schaffen. Begleitet werden seine Bewegungen auf der Bühne durch den Live-Percussionisten Joss Turnbull, der mit traditionellen arabischen Instrumenten wie der Zarb und elektronischer Verfremdung dichte zeitgenössische Klänge erzeugt.
Entstanden ist ein beeindruckender Tanzabend, den ihr am 18. Mai 2022 um 19:30 Uhr im Komödienhaus erleben könnt. Tickets für »Cosmic A*« gibt es auf unserer Webseite und an der Theaterkasse.
Am Samstag, den 21.05.2022 um 19.30 Uhr erwartet euch ein ganz besonderer, surrealer und höchst poetischer Tanzabend im Großen Haus. Die berühmte spanische Kompanie »La Veronal« zeigt das Stück »Sonoma«. Inspiriert durch den künstlerischen Kosmos des Filmemachers Luis Buñuel entwickelt der Choreograf Marcos Morau dieses Werk als Hommage an die spanische Kultur. Tanz, Musik und Poesie verschmelzen zu vieldeutigen Bildern einer schönen und fremdartigen Traumwelt, in der die Entwicklung der Frauen vom späten Mittelalter hin zu selbstbewussten Individuen gezeigt wird. Dem schwindelerregenden Tempo des modernen Lebens ausgesetzt, gleiten die Frauen wie Aufziehpuppen über die Bühne. Dominiert von prachtvollen Szenen und Gesängen strebt dieses rein weibliche Kollektiv aus der Tradition in die Moderne und befreit sich mit lauten Trommelschlägen und Schreien aus den Fesseln des Konformismus. Kraftvoller Körpereinsatz trifft hier auf außergewöhnliche Schönheit.
Der spanische Choreograf Marcos Morau gründete 2005 das Kollektiv »La Veronal«. Diese außergewöhnliche Kompanie vereint Künstlerinnen und Künstler aus den Bereichen Tanz, Film, Fotografie und Literatur. Gemeinsam erschaffen sie beeindruckende Bilder von ungewöhnlicher Schönheit, symbolträchtige Welten aus Bewegung, Kunst, Architektur, Text und Musik. Als jüngster Preisträger erhielt Marcos Morau 2013 den Nationalen Spanischen Tanzpreis und ist heute einer der gefragtesten Choreografen Europas. Sein Ensemble genießt international großes Ansehen und ist regelmäßig auf allen wichtigsten internationalen Tanzfestivals vertreten und in diesem Jahr zum ersten Mal auch bei »Tanz! Heilbronn« zu sehen.
Als der Abend »Le Chant des ruines« 2019 entstand, ahnte die Brüsseler Choreografin Michèle Noiret sicher selbst nicht, wie brandaktuell die Thematik werden würde. Die fünf Tänzerinnen und Tänzer befinden sich in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist. In einer Welt, in der sich die Gesellschaft so rasch wandelt, das man kaum hinterherkommt mit dem Anpassen. Es wird immer schwieriger, sich zurechtzufinden – alles scheint den Tanzenden durch die Finger zu rinnen. Wie orientiert man sich in einer Katastrophenlandschaft? Diesen Versuch wagt der Tanzabend, an dem sich die Tänzerinnern und Tänzer gegenseitig Halt geben wollen.
Mit der Corona-Pandemie haben auch wir die Zerbrechlichkeit und Instabilität der Welt, wie wir sie kennen, am eigenen Leib gespürt. Wir wussten nicht, wie lange wir in dieser Ausnahmesituation leben würden und hatten Angst – sowohl vor der Krankheit, als auch vor den uns bis dato unbekannten Maßnahmen wie Lockdown und sozialer Isolation. Nun stellt »Le Chant des ruines« kein Szenario der Corona-Pandemie dar. Doch unsere Erfahrungen können uns sicher weitere Perspektiven auf diesen Abend eröffnen. »Le Chant des ruines« ist eine Anleitung zum Überleben durch Tanz und bei »Tanz! Heilbronn« als Deutsche Erstaufführung zu sehen. Vielleicht hätten wir diese gerne schon vor Beginn der Pandemie gekannt. Sicher ist, dass das Stück uns neue Hoffnung und Kraft schenken kann für all die Herausforderungen, die wir im Leben noch meistern werden.
Der Tanzabend »Le Chant des ruines«, mit dem das Festival eröffnet wird, ist ein beeindruckendes Erlebnis. Michèle Noiret verbindet Tanz, Theater und Film zu einem einzigartigen großen Kunstwerk, das die Tänzerinnern und Tänzer durch ihre starke Bühnenpräsenz kreieren – mit einem Höchstmaß an Kreativität und tänzerischem Ausdruck. Denn Freude und Schönheit, so die Choreografin, sind auch eine Form des Widerstandes gegen die Krisen unserer Zeit.
»Le Chant des ruines« (zu deutsch »Das Lied der Ruinen«) erlebt ihr am Dienstag, den 17. Mai um 19:30 Uhr im Großen Haus als Eröffnungsstück des 12. Festivals »Tanz! Heilbronn«. Auf unserer Webseite gibt es weitere Infos und die Tickets.
Canan Erek blickt voller Vorfreude auf das erste von ihr kuratierte Festival »Tanz! Heilbronn«
Seit 2021 ist Canan Erek (*1968 in Istanbul, seit 1987 lebt sie in Deutschland) die neue Kuratorin des Festivals »Tanz! Heilbronn«. Die Tänzerin, Choreografin und engagierte Kulturvermittlerin freut sich darauf, vom 17.-22. Mai 2022, ihr erstes Festivalprogramm zu präsentieren.
Als Tochter aus bildungsbürgerlichem Hause besuchte Canan Erek in ihrer Kindheit und Jugend den klassischen Ballettunterricht in ihrer Heimatstadt Istanbul: »Obwohl ich rein physisch für diese Art von Tanz gar nicht geschaffen war, arbeitete ich hart«, erinnert sie sich an ihre Anfänge. Eines Tages brachte eine Tanzlehrerin eine Videokassette mit zwei legendären Stücken von Pina Bausch mit: »Café Müller« und »Le Sacre du printemps«. Canan, damals 18 Jahre alt, war hingerissen. So kann Tanz also auch aussehen! Sie recherchierte und fand die Folkwang-Hochschule in Essen, in der Pina Bausch den Bereich Tanz leitete. Warum es nicht einfach versuchen! Sie kam nach Deutschland, nahm an einer Audition in Essen teil, wurde genommen und begann 1987 ihre Ausbildung im zeitgenössischen Bühnentanz. »Pina Bausch hat selbst zwar keinen Unterricht gegeben, aber sie kam mehrmals im Jahr, um sich unsere Entwicklung anzuschauen und mit uns über unsere tänzerischen Ausdrucksformen zu reden.« Sie war es auch, die Canan bestärkt hat, nach der Tanz-Ausbildung noch ein Studium der Choreographie dranzuhängen, nachdem sie erste, noch während des Studiums selbstkreierte Stücke der jungen Tänzerin gesehen hatte.
Von Essen ging es ins wilde Ost-Berlin Anfang der 90er-Jahre. Hier studierte sie als erste türkische Studentin an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Choreographie. Die Erfahrungen des Ost-West-Clashs im zusammenwachsenden Berlin fand sie damals zwar spannend, aber auch anstrengend, weil sie sich nirgends zugehörig fühlte, erinnert sich Canan Erek. Ihre künstlerische Heimat wurde ab 1996 das Ballhaus Naunynstraße in Berlin. Ihre Arbeiten wurden in verschiedenen Theatern in Berlin und auf Festivals gezeigt. Als Gastchoreografin arbeitete sie u. a. für die Australian Opera in Sydney, für das Hans Otto Theater in Potsdam und für das Berliner Ensemble. Ein dreijähriges Intermezzo führte sie nach Leipzig als Leiterin des dortigen Tanztheaters. Dann ging sie wieder zurück nach Berlin, um zu tanzen, zu choreografieren und immer mehr nach außergewöhnlichen Ausdrucksformen zu suchen.
Tanz an anderen Orten zu inszenieren, als man ihn erwartet, in Parks etwa oder in Bürgerämtern – eben mitten im öffentlichen Raum, das hat Canan Erek damals schon interessiert. Der besondere Reiz, auf Leute zuzugehen, die sich nicht von vornherein für Tanz begeistern, das fand Canan Erek spannend. Bis heute ist dies ein wichtiges Element ihrer Arbeit, die sich mehr und mehr in den Bereich Kulturvermittlung, Projektmanagement, kulturelle Bildung und Festivalleitung verlagert.
Gerade hat Canan Erek eine deutschlandweite Online-Konferenz geleitet: »Auf dem Sprung zur Sparte? – Tanz für junges Publikum«, war sie überschrieben und ging der Frage nach, ob man ähnlich wie das Junge Theater in Deutschland auch den Jungen Tanz als feste Institution an den Theatern etablieren kann. Canan Erek hat beste Erfahrungen auf diesem Gebiet. Seit 2017 leitet sie »PURPLE – Internationales Tanzfestival für junges Publikum« in Berlin. Sie erlebt immer wieder, dass Kinder und Jugendliche durch ihre natürliche, aktive und offene Haltung ein wunderbares Publikum sind, das man eigentlich für alles begeistern kann. Sie haben es sogar sehr leicht, sich in die abstrakten Formen des Tanzes hinein zu fühlen. Diesen Schwerpunkt will sie auch als neue Kuratorin des Festivals Tanz! Heilbronn stärken. Zwei der sieben eingeladenen Stücke wurden explizit für junges Publikum erarbeitet.
Bei der Auswahl aller Festivalbeiträge ist es Canan Erek wichtig, dass der Funke überspringt und die Zuschauer eine intensive Beziehung zu den Produktionen des zeitgenössischen Tanzes aufbauen können. »Mein Interesse als Künstlerin und Kuratorin gilt zuallererst der kommunikativen Komponente. Wie nimmt ein Stück zum Publikum Kontakt auf, hält die Verbindung und gestaltet einen Dialog?«, fragt sie. Das »Wie« einer ästhetischen Konzeption könne sich mit dem »Was« der inhaltlichen Auseinandersetzung auf vielfältigste Weise verbinden. Für Canan Erek ist es wichtig, dass alle Stücke eine Einladung an das Publikum aussprechen, mit seiner Vorstellungskraft aktiv ins Geschehen einzusteigen und sich auch emotional begeistern zu lassen. So, wie ihr es damals ging, als sie auf einer Videokassette die Stücke von Pina Bausch sah, die so viel Energie in ihr freisetzten, dass sie sich auf den Weg nach Deutschland machte, um es einfach zu versuchen.
Hier gibt es nähere Informationen zu den diesjährigen Programmpunkten von »Tanz! Heilbronn«:
Am Sonntagnachmittag treffen sich die 20 Freiwilligen, die im Stück „Free fall“ mittanzen werden, zum ersten Mal. Vor ihnen liegt ein viertägiger Workshop als Vorbereitung für den Auftritt zur Eröffnung von Tanz! Heilbronn. Die Altersspanne erstreckt sich von 15 bis 60plus, Frauen und Männer, manche mit viel Tanzerfahrung, andere mit wenig. In kürzester Zeit werden sie miteinander in engen Kontakt treten. Tänzerin Maite Larrañeta von der Companie Sharon Fridman leitet den Workshop. Nach einer Begrüßung und einer Vorstellungsrunde erläutert sie Rolle und Funktion der Freiwilligen im Stück: eine Landschaft, ein Schwarm von Seesternen, die Gesellschaft, Mittler zum Publikum …
Danach geht es gleich mit einer Paarübung los. Eine/r liegt entspannt auf dem Boden und wird vom anderen massiert, bewegt, hin und her gerollt, zur Skulptur geformt. Menschen, die sich gerade erst kennen gelernt haben, begegnen einander über den Körperkontakt anstatt durch Worte. Es folgen Einzelübungen auf dem Boden. Die Tänzerinnen und Tänzer probieren, im Liegen flüssig den Raum zu durchqueren, Hände, Füße und das Körperzentrum dabei geschickt einzusetzen. Maite lobt, gibt Anregungen, demonstriert andere Bewegungen, und ist mit ihrer Aufmerksamkeit überall. Es wird zwischendurch gelacht, auch mal gestöhnt, aber alle sind ganz und gar dabei. Allmählich werden die Aufgaben anspruchsvoller. Für die „Baumübung“ steht eine/r standfest wie ein Baum, die/der andere gleitet, sich festhaltend, an dem stehenden Körper zu Boden. Aus einem Baum wird ein kleines Wäldchen, zu sechst in der Gruppe muss man schon gut aufeinander reagieren.
Nach einer Pause wird schließlich die erste Stückszene geprobt, zuerst nur eine bestimmte Bewegung in kleinen Gruppen, dann ruft Maite alle zusammen zum Kreis, arrangiert die Formation, erläutert den Ablauf. Bewegung für Bewegung wird erklärt, ausprobiert, besprochen. Dabei geht es nicht darum, dass alle genau synchron dasselbe ausführen. Die Tänzer/innen sollen statt dessen lernen, einem Bewegungsimpuls von außen zu folgen, ihn aufzunehmen, aufeinander zu reagieren wie bei einer Kettenreaktion, dabei führt jede/r die Bewegung individuell aus. Zwischendurch kommt Theaterfotograf Thomas Braun. Auf der Suche nach der besten Perspektive wirft auch er sich schließlich zu Boden, robbt mit den Tänzern, die Kamera klickt im Zehntelsekundentakt. Als dann die Musik des Stücks dazukommt, sieht es schon wie eine richtige Szene aus. Maite lobt und strahlt. Am Ende haben alle mit nur einer kurzen Pause fünf Stunden durchgeprobt, konzentriert, freundlich, und mit viel Mut, Dinge zum ersten Mal zu tun.
„Männer unter sich – Aspekte von Männlichkeit“ war das Thema des diesjährigen Tanzfestivals. Nach einer mit Veranstaltungen und Aktivität vollgepackten Woche kann ich nun die Eindrücke nachklingen lassen.
Entwickelt hatte sich das Motto bereits im Sommer 2014 – so lang ist der Vorlauf für das Festival immer, denn die großen Kompanien planen ihre Gastspiele mindestens ein bis anderthalb Jahre im Voraus. Ich hatte – zunächst eher zufällig – mehrere Stücke von reinen Männerkompanien gesehen. Daraus entstanden die Fragen, was denn eigentlich das Besondere daran sei und welche Art von Männertypen auf der Bühne dargestellt werden. Letztere bezieht sich einerseits auf die sozialen Rollen – Männer als Väter, als Konkurrenten, als Liebhaber, als Kumpel etc. – und andererseits auf die dargestellte Körperlichkeit.
Im Tanz findet sich naturgemäß ein sehr schlankes, muskulöses Körperbild, weil die Tänzer einerseits schon in der Ausbildung daraufhin selektiert werden und sie andererseits durch ihr ständiges Training diese Physis erhalten.
Dennoch kann der Tänzerkörper so oder so inszeniert werden. Die Bewegungen können betont athletisch sein und viel Kraft erfordern, also das klassische Männerbild oder Stereotyp betonen. Das konnte man im Festival insbesondere in dem Stück „The hidden men“ von Pál Frenák sehen. Sie können aber auch weich und fließend sein und weniger durch Kraft als durch gute Technik oder geschickten Energieeinsatz erzeugt werden, woraus bei Männern und Frauen eine ähnliche Bewegungsqualität möglich ist (z.B. im Eröffnungsstück von Emanuel Gat oder im zweiten Teil des BalletBoyz-Programms).
Als mein „Such-Radar“ dann auf das Männerthema eingestellt war, fanden sich erstaunlich viele Arbeiten, die sich direkt mit dem Thema befassten oder indirekt sehr gut dazu passen würden. In der Kunst spiegeln sich ja immer auch gesellschaftliche Veränderungen wider. Nachdem sich die Frauen in der Folge der Emanzipationsbewegung über Jahrzehnte mit der Neudefinition von Selbstbildern und Rollenverständnis beschäftigt haben, ist auch das Mann-Sein schon lange nicht mehr selbstverständlich. Das gewachsene Wissen um Trans- oder Intersexualität und die Gender-Queer-Bewegung haben der Diskussion zusätzlich eine neue Richtung gegeben und frühere vorgebliche Gewissheiten weiter infrage gestellt.
Neben den allgemeinen Aspekten forderte das Thema auch persönliche Antworten: Welche Männer interessieren mich am meisten? (die Untypischen mit vielen sogenannten weiblichen Anteilen) Zu welchen Frauen fühle ich mich hingezogen? (zu den Untypischen mit vielen „männlichen“ Anteilen). Was macht für mich Frau-Sein oder Mann-Sein aus? Welche Einflüsse haben mein Männerbild geprägt? (Kindheit, Schule, die westdeutsche Frauenbewegung der 80er Jahre, Erfahrungen mit mehr oder weniger subtiler Diskriminierung, Begegnungen mit selbstreflektierten Menschen beiderlei Geschlechts, eine glückliche Ehe…). Im Dezember 2014 starb mein Vater und es wurde mir nochmal neu bewusst, wie mein Männerbild auch durch diesen freundlichen, humorvollen, intellektuellen Menschen geprägt wurde, der dennoch (natürlich) nicht frei war von herkömmlichen Vorstellungen und den Prägungen seiner Generation.
All dies kann sicher nicht Gegenstand eines Festivalprogramms sein, aber das Theater ist ja ein wunderbarer Ort, um Gedanken und Diskussionen anzustoßen. Daher fanden sich in diesem Festivalprogramm besonders viele Publikums- und Künstlergespräche und zwei Workshops für Menschen auch ohne tänzerische Vorkenntnisse.
Ein wirkliches Experiment war die Aufteilung in Männer- und Frauengruppe bei den Publikumsgesprächen. Ko-Moderator Andreas Frane und ich waren zunächst recht unsicher, ob die Männer daran teilnehmen würden. Es fanden sich aber mehr Männer als erwartet sowie zahlreiche Frauen in den jeweiligen Gruppen ein, und die getrennten Diskussionen waren ergiebiger und offener als die in der anschließenden gemeinsamen Runde.
Die Latte ist jetzt allerdings hoch gehängt: mal sehen, ob uns im nächsten Jahr wieder ein so vielseitiges Thema gelingt.
Mann oder Frau? Die philippinische Tänzerin Eisa Jocson hat sich für ihr Solo das Bewegungsrepertoire der Macho Dancer angeeignet, das sind junge Männer, die auf den Philippinen in heißen Shows tanzen. Sie sind Verführer und Objekte der Begierde und ihre durchtrainierten Körper sind ihr größtes Kapital. Die Tänzerin und Choreografin liefert ein zugleich lustvolles wie verwirrendes Spiel mit den Geschlechteridentitäten.
Ahmed Khemis zählt zu den charismatischsten Tänzern und Choreografen der jüngeren Generation in Tunesien. Sein Solo Trans-e ist inspiriert von einer in Tunesien immer noch populären Geschichte. Er schlüpft in die Figur des „Bou Saâdia“, die auf der Legende eines nordafrikanischen Königs basiert. Dessen Tochter wurde von französischen Sklavenhändlern geraubt, und jahrelang tanzt er mit Tiermasken, zerlumpter Kleidung und Schellen an den Beinen auf der Suche nach ihr durch die Straßen. Zu zwischen traditionellen Klängen und Jazz changierender Musik inszeniert Ahmed Khemis ein tranceartiges, gleichzeitig physisch-dynamisches Solo, in dem er folkloristische Tanzelemente in eine zeitgenössische Ästhetik überführt. Die Legende wird zum Sinnbild für die künstlerische Suche des Choreografen
Sonntag, 10. Mai 2015, 18 Uhr, BOXX
Zusatzvorstellung: Sonntag, 10. Mai 2015, 20.30 Uhr, BOXX
Zum ersten Mal sind auf diesem Festival die Londoner BalletBoyz in Deutschland zu erleben, eine reine Männerkompanie, bestehend aus zehn hervorragenden Tänzerpersönlichkeiten. Namhafte Choreografen kreieren für sie außergewöhnliche Werke an der Schnittstelle zwischen klassischem Ballett und zeitgenössischem Tanz. Sie kommen mit einem zweiteiligen Abend nach Heilbronn, der im Auftrag des Royal Ballet in London entstanden ist. Der erste Teil „The Murmuring“ wurde inspiriert von „murmur“ (Murmeln) und „murmuration“, einem Flugmuster von Vogelschwärmen. Nachwuchschoreograf Alexander Whitley kreierte dieses zeitgenössische Stück zum pulsierenden Elektro-Sound des Duos „Raime“. Der zweite Teil „Mesmerics“ ist ein abstraktes Ballett von vollendeter Schönheit. Christopher Weeldon, Associate Artist des Royal Ballet, schuf das Werk nach Musik von Philipp Glass.
“Pour Ethan“ ist ein feinsinniges, authentisches Porträt eines außergewöhnlichen Teenagers: Der Choreograf Mickaël Phelippeau begegnete in der Bretagne vor einigen Jahren dem heute 15jährigen Ethan, der ihn sofort mit seiner großen Bühnenpräsenz beeindruckte. In diesem Tanzstück untersucht er den fragilen Zustand zwischen Kindheit und Erwachsensein auf zugleich leichte und eindringliche Weise.