Hamburger Ballettchef John Neumeier setzt in der Nazizeit verfolgten Tänzern ein Denkmal
von Silke Zschäckel
Es war für John Neumeier, Intendant des Hamburg Ballett und ebenso des Bundesjugendballetts (BJB), ein Herzensprojekt: Er wollte Tanzschaffenden, die in der Nazizeit verfolgt wurden, ein Denkmal setzen. Viele von ihnen gehörten zur Avantgarde des Tanzes in den 1920er-Jahren. Als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen, blieb jedoch von der Pionierarbeit vieler Tänzerinnen und Tänzer nicht viel übrig. In seinem Ballett »Die Unsichtbaren«, das John Neumeier zusammen mit dem Bundesjugendballett erarbeitet hat und für das er mit dem Rudolf-Mares-Preis ausgezeichnet wurde, setzt er ihnen ein Denkmal.
Anhand der Biografien von Mary Wigman, Rudolf von Laban, Gret Palucca, Harald Kreuberg und Alexander von Swaine verdeutlichen die zehn jungen Tänzerinnen und Tänzer der Compagnie mit Unterstützung von Schauspielern, wie die Nazis die Kunst politisch steuerten und nationalistisch instrumentalisierten, wie jüdische Tanzschüler und Künstler ausgegrenzt und verfolgt wurden – ebenso Angehörige von Minderheiten wie Sinti und Roma und homosexuelle Künstler. Der Hamburger Ballettchef hat, unterstützt vom Tanzhistoriker Ralf Stabel, eingehende Recherche betrieben, um die »Unsichtbaren«, jene Tänzerinnen und Tänzer, Choreographen und Tanzjournalisten wieder sichtbar zu machen, die während des Nationalsozialismus ausgegrenzt, vertrieben, deportiert oder umgebracht wurden. Mit einem Mosaik aus insgesamt 16 kurzen Szenenfolgen werden sie in ihren jeweiligen Besonderheiten, aber auch in ihrer Einsamkeit, Verzweiflung und Not gezeigt. Die Grundlage bilden historische Texte und
Dokumente. Spiel- und Tanzszenen wechseln sich ab, durchdringen und ergänzen einander.
»Dabei ist die tänzerische Formensprache Neumeiers mittlerweile unglaublich komplex, selbst flüchtige innere Regungen werden von beredten Körpern miterzählt. Die jungen Tänzerinnen und Tänzer des Bundesjugendballetts liefern einen hochengagierten, meisterhaften Abend in ständig wechselnden Bildern, die illustrieren, wie die engstirnige, faschistische Ideologie als Welle über der freien Kunst zusammenschlägt und sie ertränkt.« (Die WELT)
Das Stück gibt keine Antworten. Stattdessen stellt es Fragen an die Künstlerinnen und Künstler jener Zeit und an die Nachgeborenen. Es ist diese Begegnung von Tanzhistorie und jungen Leuten von heute, die John Neumeiers Tanz-Collage so berührend und spannend macht. Mit diesem Abend holt das Bundesjugendballett ans Licht, was im Schatten lag, um es für unsere Gegenwart und Zukunft sichtbar zu machen. Das Stück ist nicht nur Vergangenheitsbewältigung, Erinnern und Gedenken, sondern mahnt eindringlich vor der Wiederholung dessen, was sich nie mehr wiederholen darf.
Seit 1973 leitet der gebürtige Amerikaner John Neumeier das Hamburg Ballett und brachte es mit seiner einzigartigen Handschrift zwischen visionärem Tanz und klassischer Ballett-Tradition zu Weltruhm. Mit nur 30 Jahren war er bereits jüngster Ballettchef Deutschlands, damals noch in Frankfurt am Main. Heute ist er der dienstälteste Ballettdirektor der Welt. Zum Ende der Spielzeit 2023/2024 hört er als Intendant des Hamburg Ballett auf.
Alle Informationen und Karten zu »Die Unsichtbaren« finden Sie HIER