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THEATERKASSE
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Herzensangelegenheit: Sarah Finkel und Lucas Janson gestalten einen Theaterabend über »Die Angst vor dem Fremden«
Zwei Menschen, eine junge Frau und ein junger Mann, sitzen gemeinsam auf einer Bank im Park und grüßen freundlich die vorübergehenden Passanten. Sie wird zurückgegrüßt. Er nicht. Beide haben dunkle, lockige Haare. Sie hat sehr blaue Augen und helle Haut. Seine Augen sind dunkelbraun und seine Haut hat einen warmen goldbraunen Ton. Es ist wegen seines Aussehens, da ist sich Lucas Janson sicher, dass die Vorbeigehenden ihn ignorieren. Eine Erfahrung, die er immer wieder in den unterschiedlichsten Facetten machen muss. Seine Kollegin Sarah Finkel, die eben Zeugin dieser Form von Alltagsrassismus geworden ist, mag sich damit nicht abfinden. Diese Begebenheit ist für die beiden Schauspieler des Heilbronner Ensembles zunächst Anlass für ein langes Gespräch, das schließlich in einem Beschluss gipfelt: Wir müssen die »Angst vor dem Fremden« zum Thema eines Theaterabends machen. »Das war lange vor George Floyd«, betont Sarah Finkel. Am 3. und 4. Juli zeigen sie ihre theatrale Erkundung in die Abgründe der Xenophopie in der Boxx@Night_Corona-Edition, zusammen mit Markus Herzer am Klavier.
Beide haben großen Respekt vor dem Abend, denn sie schlüpfen nicht nur in verschiedene Rollen oder singen Songs, sondern sie verantworten komplett das künstlerische Konzept und verarbeiten zudem ihre ganz persönlichen Erfahrungen in eigenen Texten. Sarah Finkel sagt: »Dass ich durch mein Aussehen, das keinen Migrationshintergrund verrät, privilegiert bin, empfinde ich als himmelschreiende Ungerechtigkeit.« Aufgewachsen in einem Stadtteil von Landshut, in dem Menschen aller Herren Länder zusammenleben, hat sie erfahren müssen, wie ihre Freunde, die aus dem Libanon oder aus der Türkei stammen, nicht die gleichen Chancen bekamen wie sie. Wenn sie versuche, sich hineinzuversetzen in ein permanentes Gefühl des ausgegrenzt Seins, des in Schubladen gesteckt Werdens, des weniger Chancen Habens, des immer ein bisschen härter arbeiten Müssens, dann bekommt sie Kopfschmerzen, erzählt sie und findet ein simples Beispiel. »Stellt euch den demütigenden Moment vor, wenn im Sportunterricht eine Mannschaft gewählt wird und man selbst bleibt bis zum Schluss stehen. Dieses Gefühl ist für Menschen, die rassistisch ausgegrenzt werden, nicht nur eine Momentaufnahme, sondern Dauerzustand.«
Lucas Janson, der in einer linksliberalen Bildungsbürgerfamilie großgeworden ist, hat indische und schwedische Wurzeln. Von der indischen Familie mütterlicherseits ist sein Aussehen geprägt, von der schwedischen Familie väterlicherseits hat er den Namen. Obwohl seine Vorfahren seit drei Generationen in Deutschland leben, Lucas in Hessen geboren und aufgewachsen ist, wird er immer wieder gefragt, aus welchem Land er komme oder wo seine Wurzeln liegen. Das ist häufig die allererste Frage. Nicht: Was machst du? Oder wie heißt du? Er ist äußerst höflich und zuvorkommend, sagt lieber dreimal danke, als einmal zu wenig. Das sei ein Ergebnis der mütterlichen Erziehung, meint Lucas Janson: Sei freundlich und höflich, falle nur nicht auf, passe dich an. »Als Migrantenkind der dritten Generation habe ich mich emanzipiert, bin selbstbewusst, stehe auf der Bühne. Dennoch wird mir immer wieder das Gefühl vermittelt, nicht hierher zu gehören.« Seit der Flüchtlingskrise 2015 habe sich das extrem verschärft. Auf ihrer Recherche zum Thema Fremdenangst sind die beiden in Theatertexten fündig geworden – etwa in Koltès Stücken »Der Kampf des Negers und der Hunde« und »Roberto Zucco«, in Heiner Müllers »Medea« oder in Dea Lohers »Unschuld«, aus denen sie Ausschnitte ausgewählt haben. Sie verflechten die Monologe mit philosophischen Einlassungen von Zygmunt Bauman, mit Songs von Hildegard Knef bis Faber und verbinden sie mit ihren eigenen Texten und Gedanken zu einer szenischen Collage. Sie wollen reflektieren, provozieren, ihr Herz ausschütten, ihre Gedanken teilen – über die Angst vor dem Fremden, aber auch über das Gefühl des Fremdseins. Es wird ein sehr persönlicher, ehrlicher Theaterabend der beiden Schauspieler: Eine Stunde im leeren Raum, ohne Requisiten, ohne Lichtdesign, aber mit brennenden Herzen und der Hoffnung, dass die Zuschauer hinterher rausgehen, diskutieren und sich die Frage stellen: Wo stehen wir eigentlich?
Der historische Faust als Symbolfigur im Wandel der Zeiten
Der historische Faust war ein Mann, um den sich schon zu Lebzeiten Legenden rankten. Er lebte von ca. 1480 bis 1540, in der Zeit der deutschen Bauernkriege, und war damit ein Zeitgenosse so revolutionärer Figuren wie Martin Luther, Thomas Müntzer und Ulrich von Hutten. Er hieß Johann Georg mit Vornamen und stammte aus Knittlingen in Württemberg, wurde also nur etwa 50 Kilometer von Heilbronn entfernt geboren. Es ist dieser Faust, auf den sich alle literarischen Versionen des Stoffes beziehen – ob vor Goethe nun die von Christopher Marlowe oder Gotthold Ephraim Lessing oder nach ihm beispielsweise die von Thomas Mann und Hanns Eisler. Glaubt man den Überlieferungen, so war dieser Doctor Faustus aber eher ein Scharlatan als ein Gelehrter, eher ein Quacksalber als ein Arzt, der ein unstetes Wanderleben im süddeutschen Raum führte. Angeblich hatte er sich auf der Hohen Schule zu Krakau zum »Meister aller mantischen Künste« ausbilden lassen, worunter die Wahrsagerei, die Magie und die Zauberei zu verstehen sind. Belege dafür gibt es aber keine. Dennoch machte er sich als Zauberer und Wahrsager einen Namen, zog durch die süddeutschen Städte, war als Bader tätig, unterrichtete und stellte Horoskope. Zudem scheint er ein brillanter Fabulierer gewesen zu sein, eine Art Münchhausen der Reformationszeit, der sein Publikum für sich begeistern konnte. Er liebte die leiblichen Genüsse, besonders das Zechen, und »nannte den Teufel seinen Schwager«, wie Klaus Völker schreibt. Kein Wunder also, dass seine Zeitgenossen – zumindest die klerikalen, feudalen und bürgerlichen – in ihm eher einen Landstreicher und Sittenstrolch sahen; wiederholt wurde er aus verschiedenen Städten ausgewiesen und ihm unterstellt, gemeinsame Sache mit dem Teufel zu machen. Das Volk hingegen ergötzte sich ebenso bewundernd wie schaudernd an seinen Kunststücken, die offenbar »philosophischen Eulenspiegeleien« (K. Völker) gleichkamen. Seit sich Luther angewidert von den »räuberischen und mörderischen« Bauernhorden distanziert hatte, die den Aufstand gegen das feudal-klerikale Herrschaftssystem unternahmen, war auf den Protestantismus als Unterstützer der sozialen Kämpfe nicht mehr zu hoffen. In dieser Situation entdeckte man die Magie als eine geistige Gegenkraft, mit der man neue Hoffnung verknüpfen konnte. So entwickelte sich der »Schwarzkünstler Faust« zu einer neuen volkstümlichen Symbolfigur.
Die offizielle Stigmatisierung einer schillernden Figur wie der des Faust als »Teufelsbündler« ist keine Überraschung in einem Zeitalter, das alle seine bedeutenden Wissenschaftler – von Agrippa von Nettesheim über Paracelsus bis hin zu Galilei Galileo und Giordano Bruno – als Ketzer brandmarkte. »Noch wurden [nämlich die] Superbia, die Anmaßung, und [die] Curiositas, die Neugier, als Sünden angesehen«, suchten sie doch »die von Bibel und Kirche gesetzten Grenzen des Menschlichen« (S. Demmer) zu überschreiten. 1587, 47 Jahre nach Fausts Tod, erschien beim Frankfurter Buchhändler Spieß die »Historia von D. Johann Fausten, dem weitbeschreyten Zauberer und Schwartzkünstler«, gedacht – so der Untertitel – als »abscheuliche[s] Exempel und treuherzige[] Warnung« vor dem verruchten Unhold. Im protestantischen Kontext stand der maßlose Forscher Faust, den sich letztlich der Teufel holt, somit dem redlichen Gottesmann Luther als verderbtes Gegenstück gegenüber. Allerdings bewirkte die Schrift, wie oft in solchen Fällen, genau das Gegenteil: Innerhalb etwa eines Jahrzehnts erfolgten 22 Nachdrucke, woran sich deutlich die Faszination und der Schauder der Zeitgenossen an der Faustlegende zeigen. Goethes spätere Umdeutung des Stoffes zeigt sich schon allein darin, dass er in seiner Faust-Figur schließlich charakteristische Facetten des Gottesmanns Luther mit denen des Magiers und Schwarzkünstlers Faust zu einer ambivalenten Gestalt verschmilzt.
Der Stoff gelangt zu Goethe durch seine – oft sensationslüsterne – Überlieferung in Volksbüchern, auf Wanderbühnen und in Puppenspielen, die ihn durch das 16. und 17. Jahrhundert trägt. In der Aufklärung setzt sich schließlich die Auffassung durch, dass Fausts Erkenntnisdrang durchaus als Teil der göttlichen Gabe der Vernunft zu verstehen sei und somit nicht der göttlichen Strafe anheimfallen dürfe. Die Dichter des Sturm und Drang wiederum erweitern dieses neue Faust-Bild um ein »leidenschaftliches Bekenntnis zur Natur« (S. Demmer) und zur menschlichen Empfindungsfähigkeit, dem sich Goethe spürbar anschließt. Ganz im Sinne des Sturm und Drang erkennt auch er in der Faust-Legende eine Identifikationsfigur des Zeitgeistes, einen »mutige[n] Außenseiter, der die Horizonte des Denkens und Fühlens« (S. Demmer) zu erweitern sucht und nimmt sich ihr in diesem Sinne an. Was zu Beginn der 1770er-Jahre beginnt, wird für Goethe zu einer literarischen Obsession, die ihn ein ganzes Leben lang nicht loslässt.
Die ungeheure Fülle und Geräumigkeit der Motive und ästhetischen Formen, die Goethes Weltgedicht der Nachwelt zur Verfügung gestellt hat, hat in den vergangenen 200 Jahren zu einer ebenso ungeheuren Fülle von Auseinandersetzungen mit seinem »Faust« geführt. Die Interpretationen des Stoffes allerdings wandeln sich mit den Zeitläufen. Jedes Land und jede historische Epoche, so scheint es, schafft sich nach Goethe ihren eigenen Faust, um an ihm die jeweiligen gesellschaftlichen Fragen zu spiegeln. Im 19. Jahrhundert steigt der »Faust« so als »Repräsentant der deutschen Seele, die freilich auf Welteroberung aus ist« (K. Völker), zum Nationaldrama auf – und bildet seither das Zentrum des deutschen Bildungskanons.
Quellen:
Sybille Demmer: »Faust« – Stoff und Spiegel eines Dichterlebens. In: Johann Wolfgang Goethe: Faust. Eine Tragödie. Erster und Zweiter Teil. 9. Auflage. München 2006, S. 355–370.
Klaus Völker: Die Geburt einer Legende und ihr Fortleben in den Köpfen. In: Faust. Ein deutscher Mann. Die Geburt einer Legende und ihr Fortleben in den Köpfen. Lesebuch von Klaus Völker. Berlin 1981, S. 181–188.
Die Schauspielerin Anja Bothe spielt in Delphine de Vigans »No und ich« die Pariser Schülerin Lou Bertignac, die die 18-jährige Obdachlose No von der Straße holt, um ihr ein Zuhause und Geborgenheit zu schenken. Während der Probenarbeit hat Anja Bothe sich literarisch mit dem Thema (soziale) Obdachlosigkeit beschäftigt.
Wir alle brauchen Familie. Egal ob groß oder klein. Ob erwachsen oder ein Kind. Wir alle brauchen Familie. Und wer sie nicht hat, hat die Arschkarte. Wer sie nicht hat, der muss schauen wo er bleibt.
Ich fühle mich manchmal obdachlos. So als hätte ich keine Heimat. Als ob ich immer auf der Suche wäre. Nach meinem Zuhause. Einen Vater haben. Eine Mutter. Vielleicht Geschwister. Ist es das? Ist es eine gute Kindheit? Was erlebt man in seiner Kindheit? Wie lebt man, um ein Zuhause zu haben? Um sich, wenn man erwachsen ist, nicht wie eine Obdachloser zu fühlen? Obdachlos. Man hat kein Obdach. Aber das kann man sich doch leisten. Das kann sich doch jeder in Deutschland leisten. Wegen Hartz IV und so. Da gibt es doch Möglichkeiten. Aber was ist mit dem ganz persönlichen Erleben? Mit den ganz persönlichen Erlebnissen und Gefühlen?
Und dann gibt es die gesellschaftlichen Einordnungen. Die Normen. Wie man zu sein hat. Was man zu machen hat. Die Strukturen. Aber was ist, wenn man in eine solche Struktur nicht passt? Sein ganzes Leben versucht man sich anzupassen. Sich hinein zu formen. Umzuformen. Sich von seinem eigentlichen Wesen, seinem Urinstinkt zu verabschieden. Aber kann man das überhaupt? Sich so losreißen. Man wird geboren in eine Umgebung, in ein Umfeld. Man kann sich seine Familie nicht aussuchen. Man kann sich auch nicht aussuchen, ob sie für den Monat genug zu essen hat. Man kann sich die Liebe seiner Eltern nicht aussuchen. Man kann sie nicht erzwingen. Man könnte meinen sie wäre von Grund auf da. Wie ein unausgesprochenes Band. Aber was ist, wenn ein Elternteil dich nicht liebt? Was ist, wenn es diese angeblich grundlegende unanfechtbare Liebe nicht geben kann? Und du schreist nach ihr. Weil es ein Grundbedürfnis ist. Du schreist wie ein Löwe. Und du weiß nicht, warum du diese Liebe nicht erhältst. Und dann veränderst du dich und wächst heran. Aber dieses Grundbedürfnis wurde nicht gestillt. Du hast es einfach nicht erlebt.
Und diese Seelen wandern in einer Gesellschaft, in der man sich gegenseitig nicht mehr brauchen will. In der es einfacher scheint, für sich zu leben. In einer Gesellschaft, in der man nebeneinander her lebt. In der man hinter verschlossenen Türen Schwäche zeigt. Eine Gesellschaft, in der am besten alles gleich bleibt: neutral und steril. In der der »gute« Schein gewahrt wird. Weil alles andere wäre anstrengend. Soziale Obdachlosigkeit ist für mich ein Symptom. Ein Mangel an Liebe. Eine Verkümmerung. Ein Nicht-Helfen, ein Unverständnis der Umwelt. Was ist, wenn man anders ist? Wenn man vielleicht nicht laut, sondern leise ist. Wenn man nur schreien kann statt normal zu sprechen. Hören wir uns trotzdem? Warum müssen wir alle einer bestimmten Norm entsprechen? Wer hat die festgelegt und warum? Ich will Diversität in einer Gesellschaft, die sich nur noch unter einem Deckel befindet.
Was ist, wenn man kein Zuhause hat? Wenn dieses Grundbedürfnis von einem auf den anderen Tag wegfällt? Wenn sich plötzlich ein Mensch von dir trennt. Deine Mutter, dein Vater, dein Bruder, deine Schwester, deine bester Freundin, deine Freund*in. Wenn ein Band zerbricht. Wenn es eine Verkettung von Umständen gibt. Ein Unglücksfall in der Familie. Manche Dinge kann man erklären und manche nicht. Das Leben verlangt keine Erklärung. Menschen schon. Wir wollen die Hintergründe wissen. Denn alles hat doch seinen Grund. Aber es gibt keine Erklärung. Keinen Wegweiser. Manchmal schwebst du und musst entscheiden wohin. Oder zumindest denkst du das. Aber Sicherheit gibt es nicht. Viele Menschen konstruieren sich ein Sicherheitspaket und kommen ihr Leben scheinbar damit zurecht. Aber gibt es Gehör und Empathie für diejenigen, die diese Sicherheit nicht haben?
Zu Hause. Was ist das für dich?
Noch bis zum 8. Juli 2020 könnt ihr Anja Bothe als Lou in »No und ich« erleben.
Der Berliner Publizist und Dramatiker Thomas Martin hat eigens für das Theater Heilbronn den Debütroman von Lukas Rietzschel »Mit der Faust in die Welt schlagen« bearbeitet. Dafür hat er einen ganz eigenen sprachlichen und theatralen Zugriff auf den Stoff gefunden.
Die hier veröffentlichte Szene 13 ist in dieser Form nicht auf der Bühne zu sehen, sie hat sich im Lauf der Probenarbeit verändert. Statt der Figur des Tobias‘ ist es in Axel Vornams Inszenierung der ältere Bruder Philipp, der seinen Mitschüler Ramon auf dem ehemaligen LPG-Hof aufsucht. Die hier veröffentlichte Szene 13 ist in dieser Form nicht auf der Bühne zu sehen, sie hat sich im Lauf der Probenarbeit verändert. Statt der Figur des Tobias‘ ist es in Axel Vornams Inszenierung der ältere Bruder Philipp, der seinen Mitschüler Ramon auf dem ehemaligen LPG-Hof aufsucht. Die Lektüre der ursprünglichen Szene 13 von Thomas Martin ermöglicht nicht nur einen Eindruck seines Schreibansatzes, sondern hinterfragt auch die Form des Erzählens im Theater und damit sich selbst.
13. LPG
Ramons Hof.
Tobias, Ramon. Elli.
Ramons Mutter.
CHOR Ein Feld, ein Weg, ein Feld. Dann wieder ein Feld. Abgeerntet, Spuren von Traktoren, die Sonne frei, der Himmel wolkenlos. Ein Gelb, ein Blau.
ELLI War van Gogh je in der sächsischen Oberlausitz? In Sorbien?
CHOR Steine auf der Straße an den Feldeinfahrten. Lehmfarbener Acker soweit du sehen kannst, bis Tschechien, bis Polen. Zwischen den Feldern die Höfe. Alte Höfe, große Tore, meistens morsch. Alte Höfe, leere Höfe. LPG-Höfe.
TOBIAS EllPeGE, was heißt das eigentlich?
CHOR Die Gärten klein, zur Straße hin von Maschendraht begrenzt. Ramons Häuschen grün gestrichen. Er und seine Mutter plus Geschwister wohnen in einem der drei Häuser, die der Hof mal waren. Der Hof daneben: ZU VERKAUFEN. Ramons Mutter hält Kühe. Kühe und Kinder, sonst hält sie nichts.
TOBIAS unschlüssig am Tor,
klopft.
CHOR Nase zu Wie das stinkt!
ELLI Aber die geben doch die gute Milch.
CHOR Und warum ist die so billig, daß der Bauer nicht mal leben kann davon?
ELLI Weil ihr in der Schule nicht aufgepaßt habt, Honks, darum!
TOBIAS Weil die uns plattmachen hier in unserm Freilichtmuseum.
CHOR Ah, Philipp der Kluge. Er spricht! Quatsch, sieh doch mal hin, das ist Tobias. Der kleinere von beiden. Und was will der beim großen Ramon? Ist doch egal, wer das ist, bei Brüdern spielt das keine Rolle. Genau, ganz egal, wer wen hier spielt, solang wir fantasieren. Tobi oder Philipp, eh alles nur Theater. Wie bei den Räubern. WIE BEI DEN RÄUBERN. Und sie sehn sich so ähnlich, zwei Jahre Altersunterschied, was macht das schon. WIE BEI DEN RÄUBERN. Ganz gewöhnliches Theater. Genau. Bretter und der elektrische Mond und dahinter die Fleischbank, die allein echt ist. WIE BEI DEN RÄUBERN. Aber Rindfleisch muß es sein. WIE BEI DEN RÄUBERN, WIE BEI …
ELLI Chöre, mein Gott!
CHOR Wir haben Chöre gesehen der Arbeiter Haben Chöre gesehen des Proletariats Chöre der kommunistischen Genossen Sogar Chöre auf dem Land, Bauernchöre Haben wir gesehen, aber noch keinen Chor, der den Kapitalismus repräsentiert.
ELLI Was für ein Chor sollte das denn sein, bitte?
CHOR Wir!
TOBIAS Obzwar ich schon Bauklötzer staune, ganz glauben kann ich das nicht.
ELLI Hör nicht hin, ist der blanke Populismus.
TOBIAS Hör ja gar nicht hin.
CHOR Die alte Form des Dramas ermöglicht es nicht, die Welt so darzustellen, wie wir sie heute sehen!
ELLI Ganz recht, schließlich dramatisieren wir Romane. Neue Romane! Romane einer ganz neuen Generation. Und nicht nur das: Wir dramatisieren ein Volk. Gut, gut: ein ehemaliges, ein halbes. Aber was red ich, wo wir doch seit … ja seit wann eigentlich? ein Volk sind, ein einiges, echtes, das sein Volksein leben will, verstehen will, versteht sich. Die Sehnsucht nach Echtheit wächst natürlich mit dem Fortschritt digitaler Welten, in der Kunst vor allem. Seht euch doch um, wenn ihr euch umseht. Trotzdem hat die zeitgenössische Dramatik derzeit keinen leichten Stand. Selbst an den Theatern nicht. Erst recht an den Theatern nicht. Das Drama: ein Relikt. Die Postdramatik löst sich im Performativen auf wie Silber in der Säure, Stadtteilprojekte, Recherchen, Bürgerbühnen und offene Formate reagieren schneller und politischer. Das Vertrauen in das Miteinander von Regie und Dramatik schwindet, auch bei uns. Dabei gibt es doch beim Publikum eine Sehnsucht nach Erzählungen, nicht wahr. Das steht sogar in der Zeitung. Und kein Unterschied zu sehen zwischen Ost und West … und da können wir nun konstatieren: Hier ist die Einheit nach nur 30 Jahren doch erreicht, im Dramatisieren von Romanen. Hut ab, kann ich da nur sagen, wenn ich einen hätte.
TOBIAS sitzt auf dem Boden und flickt an seinem BMX herum Wenn das eine Regieanweisung wäre, würde ich lesen: „Sitzt auf der Erde und flickt an seinem BMX-Rad rum.“ Ich habs verstanden.
CHOR Aber wem gehört der Roman, und wem das Drama? Wem gehört das Theater?
ELLI Wo ihr fragt, da sollt ihr Antwort haben: 80 Prozent der, jawohl, 140 öffentlichen Theater in Deutschland sind renovierungsbedürftig. Es gab zwei Bauwellen von Theatern, zwischen 1890 und 1910 und dann die schönen Häuser nach dem Weltkrieg, dem zweiten. Und ihr könnt eben nicht 50 Jahre lang nichts an einem Bauwerk machen, denn dann fällt es zusammen. Und das ist bei uns hier der Fall. Ich kann nur sagen, seht euch um. Jeder Hausbesitzer weiß, er muß fünf bis zehn Prozent der Bausumme jährlich für Reparatur und Sanierung aufwenden. Das ist wie auf einem Bauernhof, weil Eigentum, ihr habts gehört, verpflichtet, auch und erst recht das geistige. Bei den Theatern hat man das gespart. Weggespart. Mit erheblichen Folgekosten, liebes Publikum, neutral bleiben nützt hier gar nichts. Schlägt ja alles zurück auf die Preise, die Öffentliche Hand. Wir subventionieren den eigenen Verfall, kann ich dazu nur sagen. Außerdem sind unsere Theater zu klein geworden: Lüftung, Klima, Brandschutz, Werkstätten, Fundus, all das braucht heute viel mehr Platz. Vom Publikum, das uns die Buden einrennt, gar nicht zu reden, da habt ihrs.
CHOR Die Theater sind also von heute aus betrachtet gar nicht zukunftsfähig, meinst du das?
ELLI In der Tat, das meine ich, sie sind nicht zukunftsfähig. Wir haben ein Drittel weniger Festangestellte als noch vor elf Jahren, und mit dieser knappen Personaldecke spielen wir 69.900 Vorstellungen, fast 300 pro Tag, das ist Weltrekord! Im künstlerischen Bereich bekommen auch immer weniger von uns Festverträge, ich weiß, wovon ich rede. Alle im Theater werden ausgequetscht wie die Zitronen. Ich bin nicht sicher, ob das Bild trägt, aber ihr wißt, was ich meine. Das Theater ist doch der Ort, an dem Visionen entwickelt werden, an dem die gesellschaftlichen Zustände kritisch hinterfragt werden, stimmts nicht? Da fangen wir am besten gleich bei uns selber an.
CHOR uneins mit sich selbst Es handelt sich hier offensichtlich aristotelische Einfühlungs-Dramatik. Die Nachteile dieser Technik könnten bis zu einem gewissen Grad ausgeglichen werden, wenn man das Stück zusammen mit einem Dokumentenfilm, der die Vorgänge in Spanien zeigt, oder irgendeiner propagandistischen Veranstaltung aufführen würde … was meint ihr?
TOBIAS zwischen verträumt und zu doof am Fahrrad Spanien? Ich war noch nie in Spanien …
RAMON aus dem Off hinter dem Bretterzaun Du kannst nicht neutral bleiben, Theresa!
RAMONS MUTTER Off Für dich immer noch Mutti, mein Sohn!
ELLI Jawohl, denn es gibt eine Sehnsucht nach tragischen Konflikten. Nach Gesprächskatalysatoren. Nach Dialog. Absurderweise aber wird danach nicht in der Dramatik gesucht, sondern im Roman. Ist zeitgenössische Dramatik zu komplexeren Erzählungen nicht mehr in der Lage? Wer, wenn nicht die Theater, kann professionellen Begleitschutz dafür bieten, frage ich? Sprechen wir über die Besitzverhältnisse! Zurück zu den Wurzeln, back to the roots! Und dem Zeitgeist auf den Fersen! Die nichtdramatische Form wird gern auch deshalb in Kauf genommen, weil Romaninszenierungen zu publikumsgenerierenden Wiedererkennungseffekten führen. Titel, die in der SPIEGEL-Bestsellerliste vorkommen, sind einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Theaterstücke kommen – wenn überhaupt – nur noch als hochspezialisierte Nischengattung auf dem Buchmarkt vor. Versucht es selbst: findet erstens einen Buchladen, zweitens dort eine Ausgabe mit Stücken, viel Glück! Aber genug jetzt, weiter im Text, dem Roman hinterher, Leser, mir nach: Tobias legt also sein BXM-Rad endlich auf dem Feldweg ab und stellt sich vor das Tor von Mutter Mehlschwitz, da kommt sie. Er sieht durch das rissige Holz auf den Hof. Ablauf: immer der gleiche. Fragen, ob derjenige rauskommen dürfe, von dem man hoffe, daß …
TOBIAS technisch auf der Höhe der Zeit: Ist Ramon da? Darf er mal raus?
CHOR Ist Ramon da? Darf er mal raus?
TOBIAS Darf er?
ELLI Und wenn die Eltern die Tür öffnen, auch immer das Gleiche.
CHOR DARF RAMON RAUS? NEIN, DARF ER NICHT. JA, DARF ER DOCH.
RAMONS
MUTTER erscheint in der Türe wie im Folgenden exakt beschrieben:
ELLI Ramons Mutter: rotgefärbte Haare, fett geschminkt, mit Schmuck behängt, Typ polnische Friseuse, und immer eine Fluppe zwischen den auch rotgefärbten Lippen, hat wohl grad Suppe für die jüngsten auf dem Herd.
TOBIAS Ich kenne Sie von BILLIGLAND, wo sie an der Kasse sitzen, weil sie den Hof allein nicht halten können. Ist ja nicht mehr LPG, nein, Besitz, das haben wir gelernt, verpflichtet, Frau Mehlschwitz.
RAMONS MUTTER Genau. Wer hat, der kann machen, was er will damit. Verpißt euch.
CHOR Wir wollen nichts lernen.
RAMONS MUTTER Ja, weil ihr viele seid. Aber wieviel seid ihr noch?
CHOR Genug.
RAMONS MUTTER Und was habt ihr?
CHOR Nicht viel.
RAMONS MUTTER Woher sollt ihr von Besitz was wissen, woher ich? Hat uns keiner in die Hand gegeben. War Volkseigentum das alles, privat war eher Staatsvergehn, hast kaum mehr davon gehabt als Ärger. Nur Unterricht, das war das einzige. Lernen, lernen, nochmals lernen. Tag, Tobi, Ramon ist im Schuppen.
TOBIAS Danke, Frau Mehlschwitz.
RAMONS MUTTER Aber nicht rauchen, das fliegt sonst alles in die Luft hier wegen dem vielen Altöl von früher.
CHOR Er wollte noch fragen, wo der Schuppen und wie er dorthin, aber da schloss sie von innen die Tür ab. Drehte den Schlüssel zwei Mal und ein drittes Mal.
TOBIAS Stille. Und Gestank. Und Fliegen, sie verfolgen mich.
CHOR Hab dich nicht so, kleiner Mann. Sind bloß Fliegen, gewöhnliche Fliegen. Und die stechen nicht. Sie erinnern nur an das, was zu tun ist, Tobias.
TOBIAS Wie das aussieht hier …
ELLI Zerbrochene Betonplatten im Hof. Als ob hier Panzer durchgefahren wärn oder der Schaufelbagger vom Tagebau nebenan. Korrigiere mich wie folgt: Zerbrochene im was ein Hof gewesen war … ein Baumstrunk in der Mitte, eine Plastebank davor. Nur eine von drei Hausfassaden gestrichen, sonst grauer Putz, der fröhlich bröckelt. Die Fenster offen oder fehlen ganz. Buntes Spielzeug, ein Bagger, ein Traktor umgekippt auf dem Boden neben Pflanzenkübeln.
CHOR Ramon hat auch einen Bruder oder zwei sogar, der weiß, was das heißt. Immer einen Kleinen an den Hacken.
TOBIAS Und überall der Gestank und die Fliegen.
ELLI Dafür hat die Garage ja gottseidank kein Dach, ist also immer schön Durchzug.
RAMON Hey.
TOBIAS Scheiße.
RAMON Was?
TOBIAS Daß ich einfach mal Hallo sagen wollte und du erschreckst mich.
CHOR Wie erbärmlich er aussehen muss in Ramons Augen. Wie der totale Untermensch. Die Flasche. Aber Ramon!
ELLI An die Werkbank gelehnt, unter weißen Neonröhren, eine flackert, ein Moped, frisch lackiert.
RAMON Meine Mutter lässt jeden rein, der die Klingel findet. Ich sag ihr, dass sie da aufpassen soll, ich bin ja auch nicht immer da. Ist gefährlich hier draußen, Zigarette?
TOBIAS Nein, danke muß nicht sein.
RAMON raucht Ist gut gegen die Fliegen.
ELLI An den Wänden Blechschilder RADEBERGER PILSNER, eine verblasste Dynamofahne und das Poster einer Frau, die ihre Beine spreizt, das sich an zwei Ecken gelöst hat und sich im Zugwind hinundherbewegt …
CHOR Oh, und das viele Werkzeug ringsherum, Hammer und Sichel …
RAMON Hier sind manchmal Leute unterwegs, ich sag dir. Willst du was trinken?
TOBIAS Was hast du denn?
CHOR Klasse Antwort, TobiasPhilipp, gut gemacht. Mach weiter so.
RAMON Radeberger und noch nen Kasten Zeckenbier.
TOBIAS Radeberger, das ist gut.
RAMON Kalt wär besser.
TOBIAS Bier ist Bier.
CHOR Hört, hört! Bier ist Bier!
ELLI Ramon grinst, Tobias unterdrückt ein Würgen. Ein schlaffer Wind ergreift das Poster, läßt es an den losen Enden träge flattern. Das Papier so dünn, dass es sich anhört, als könnte eine Fliege sich nicht von der Wand lösen, wo der klebrige Leim von der Falle sie hält.
CHOR „Fliegen“ Ssssssss…chnlllzsch…p…lopp!
TOBIAS Na dann: Prost, Ramon.
RAMON Tobi, prost!
ELLI Tobias sieht, wie es reißt, das Poster, an den Beinen der Gespreizten entlang … Ramon nimmt einen Schluck aus der Flasche, die freie Hand fährt lässig über den gepolsterten Sitz seines Mopeds. Und ich, ich mach mich vom Hof jetzt.
Ab.
RAMON Deine Alte arbeitet doch im Krankenhaus. Da verdient die doch bestimmt ganz gut.
TOBIAS Alte?
RAMON Mutti, Mensch.
TOBIAS Weiß nicht, kann sein.
RAMON Habt ihr ein Auto?
TOBIAS Renault.
CHOR Das ist doch kein Auto! Oder denkt er etwa auch: Auto ist Auto?
RAMON Warum bist du hergekommen?
TOBIAS Was du alles hast hier, ganz schön alt.
RAMON Mein Vater hat den kompletten Scheiß hier gelassen. Richtig gutes Werkzeug aus der DDR. Kein Billigscheiß, den du bei OBI kaufst.
CHOR Was er jetzt plötzlich gegen OBI hat? OBI ist doch super, OBI sind die besten.
TOBIAS Wo ist dein Vater eigentlich?
RAMON Hat sich verpisst und fickt sich drüben durch.
CHOR Ein Vaterproblem. Da macht auch Ramon keine Ausnahme.
TOBIAS Im Westen?
RAMON In Polen, du Blödmann.
CHOR Im Westen! Der ist gut!
TOBIAS Aber du hast ihn noch gekannt, oder?
RAMON Der hat meine Mutter sitzen lassen, da war ich zwei drei Jahre alt. Da hatten wir auch noch mehr Kühe.
CHOR Nase zu Puh, wie das gestunken haben muß!
RAMON Wir kommen auch ohne ihn klar. Und ich hab Freunde.
TOBIAS Du bist der Vater hier.
RAMON Menzel ist der Führer.
TOBIAS Hier?
RAMON Von der Bande.
TOBIAS Bande, wie das klingt.
RAMON Gut klingt das, und nicht jeder darf das sagen.
CHOR Nicht jeder darf dabei sein, nein. Und nicht jeder ist wie Ramon. Jetzt sitzt er auf dem Moped. Sein Haar ist ganz kurz. Das Gel drin läßt es glänzen. Er riecht nach dem Deo aus der Werbung, wie hieß das noch, vergessen …
RAMON Zigarette?
CHOR Der Kuhmist stinkt und Ramon duftet.
RAMON Glaub bloß nicht, man kann damit verdienen. Was die für die Milch zahlen, ist ein Witz. Wenn man das rechnet, machen wir minus. Mit jedem verschissenen Liter. Ich lass mich von meiner Mutter auf gar keinen Fall bezahlen, außer Taschengeld natürlich, prost, sonst könnten wir uns das alles nicht leisten. Scheiß-EU. Der deutsche Bauer ist hier nichts mehr wert. Den haben die Großbetriebe und die Ökos ruiniert. Zigarette?
Sirene
von fern, näher … vorbei.
CHOR Und während Tobi rätselt, was jetzt Scheiß-EU bedeuten soll und ob er schon wieder eine rauchen soll, rast die Feuerwehr vorbei. Wenn man nichts macht, dann brennt der Wald.
TOBIAS Was Eisen nicht heilt, heilt Feuer.
RAMON Was?
TOBIAS Sagt Philipp immer.
RAMON Ich muß jetzt, machs gut.
TOBIAS Wohin?
RAMON Sehn, wos brennt.
CHOR Ramon zum Beispiel, seht ihn euch an. Sieht aus wie ein Kanake, heißt wie ein Kanake, ist katholisch wie ein Kanake, hört Kanakenkaraoke und ist trotzdem deutsch total und komplett von hier. Solche suchen wir.
Feuer.
Übergehend in Traumbild: Regen/Dusche/Tropen/Italienische Oper …
RAMONS MUTTER schwarzam weißen Pfahl der Kolonisatoren: „Der Hof war verlassen, außer von dem Geier, der An ein Wagenrad gekettet mit den Flügeln schlug. Im Keller zwischen den Leichen wartete er auf mich Der mir aus der Hand lesen wollte. Diagnose NOSTALGISCHER KREBS. Flucht in den Hof verfolgt vom Lächeln des Handlesers. Der Geier von seinen Flugversuchen an der Kette gänzlich auf das Wagenrad geflochten, hackte nach dem Himmel. Die Wolken sanfte, gewaltige Tiere in dem schwarzen Blau, das in den Hof fiel.“
Wolkenbruch
und Blitzschlag.
TOBIAS einziger Zuschauer des Dramas, nimmt sein BMX-Rad auf und radelt ab in Szene 14.
Wenn er über sein Ideal vom Schauspielberuf spricht, hat Pablo Guaneme Pinilla ein bestimmtes Bild vor Augen: Von spielenden Kindern im Sandkasten. Mit großer Ernsthaftigkeit und Unbekümmertheit sind sie ganz versunken in das, was sie gerade tun und schaffen mit Phantasie und Gestaltungswillen ganz neue Welten. So wünscht sich der Schauspieler den Probenprozess am Theater – sich ausprobieren, den Text ausloten, tief in die Arbeit eintauchen, das Drumherum ausblenden ohne das, was draußen geschieht, als Impuls für die Arbeit aus den Augen zu verlieren.
Pablo Guaneme Pinilla, der seit September fest zum Heilbronner Schauspielensemble gehört, sieht das Theater als Ort des öffentlichen Nachdenkens und Entdeckens, der nichts Geringeres leisten soll, als die Dinge in ihrer Differenziertheit und Zerrissenheit zu zeigen. »Ich bin ein Freund des Widerspruchs«, sagt er. Einfache, plakative Antworten und Parolen von der Bühne herunter interessieren ihn nicht.
Vielleicht war, weil er die Welt immer in ihren Gegensätzen sieht, der Weg ans Theater zwar nicht stringent aber doch irgendwie zwangsläufig. Aufgewachsen ist der Sohn einer deutschen Mutter und eines kolumbianischen Vaters in Bonn. Während der Kindergarten- und Grundschulzeit war er in der Musikschule und spielte hier Theater. Dann kam erst mal eine ganze Weile nichts dergleichen. Erst in der 12. Klasse absolvierte er einen Theaterkurs und wurde Statist an der Oper in Bonn. »Das hat mir großen Spaß gemacht und war für mich wichtiger als das Abitur«, blickt Pablo Guaneme Pinilla augenzwinkernd zurück. Nach dem Abi ging er für ein freiwilliges soziales Jahr nach Lima in Peru. Hinterher wollte er unbedingt nach Berlin, und er schrieb sich an der Humboldt-Universität für die Fächer Geschichte, Kunstgeschichte und Kulturwissenschaft ein, hatte aber das Gefühl, da nicht wirklich hinzugehören. In seiner Freizeit schloss er sich freien Theatergruppen an und fasste schließlich den Mut, an Schauspielschulen vorzusprechen. Er bestand das strenge Auswahlverfahren an der Schauspielschule »Hans Otto« in Leipzig und stellte sich den Herausforderungen seines neuen Lebens. Nach zwei Jahren geschützter Arbeitsatmosphäre an der Schauspielschule ging es die letzten beiden Jahre ins Schauspielstudio des Theaters Halle. Hier spielte er unter anderem die Titelfigur in Wolfgang Herrndorfs »Tschick« – eine Rolle, die er in ihrer Mischung aus Humor, Ernsthaftigkeit und Abgründigkeit bis heute liebt. Sein erstes Engagement führt ihn für 6 Jahre nach Neuss, wo er in vielen großen und wichtigen Rollen zu sehen war u. a. als Sigfried in Friedrich Hebbels »Die Nibelungen«, als Orlando in Shakespeares »Wie es euch gefällt« sowie als Wurm in Schillers »Kabale und Liebe«. In diesem Jahr war er im Juni mit dem Monolog-Stück „Tāwle – am Kopf des Tisches“ beim Westwind-Festival in Oberhausen eingeladen. Das von Julia-Huda Nahas geschriebene und inszenierte Stück greift die Perspektive eines Deutschen mit syrischen Wurzeln auf, der versucht, seinen im Kriegsgebiet lebenden Verwandten zu helfen. Das war eine sehr schöne, fordernde und intensive Arbeit, die ihm immer als eine seiner liebsten im Gedächtnis bleiben wird.
Jetzt, mit Mitte 30, hatte er Lust auf eine Veränderung ̶ ein neues Haus, neue Kollegen, andere Regisseure, die Chance weiter zu reifen und eben nicht mehr der junge Schauspielabsolvent zu sein. »Ich freue mich darauf, neu gefordert und neu gesehen zu werden«, sagt er. Er ist gespannt auf die Rollen, die er spielen darf. Bestimmte Wünsche oder Träume hat er nicht: »Ich bin auf alles neugierig, was kommt.« Um zu seiner Wohnung zu gelangen, musste Pablo Guaneme Pinilla bis vor kurzem noch einen Ausweis vorzeigen. Denn der Schauspieler ist stolzer Bewohner von Deutschlands größtem Holzhochhaus auf dem BUGA-Gelände. Heilbronn habe ihn positiv überrascht, sagt er: »Die Stadt ist sehr lebendig, mitten in einem positiven Umbruch, das kann man überall spüren.«
Dass das Leben mitunter dramatischer ist, als es sich
Bühnenautoren in ihren kühnsten Phantasien ausdenken können, hat Winnie Ricarda
schon früh erfahren. Noch während der Ausbildung am Wiener Max Reinhardt Seminar
bekam sie eine Rolle am Akademietheater, der Kammerbühne des Burgtheaters (was
für ein Traum!), in dem Schauspiel »Liebe und Information« von Caryl Churchill. Am Nachmittag des Premierentages wollte sie
noch schnell eine Überweisung bei der Bank erledigen. Da hielt ihr plötzlich
jemand eine Pistole an den Kopf. Das war kein Theater, sondern ein Banküberfall ̶ Todesangst statt Premierenfieber. Irgendwann
richtete der Räuber die Waffe auf die Bankangestellte, die den Notknopf
bestätigte. Winnie Ricarda Bistram und einigen anderen gelang die Flucht. Dann
war auch schon die Polizei da, aber der Weg zu ihrem Auftritt war versperrt.
Sie sollte als Zeugin vor Ort bleiben und kein Polizist wollte verstehen, dass
sie unbedingt ins Theater musste, weil ohne sie diese Premiere nicht
stattfinden würde. Erst als ihre Professorin, die verständigt wurde, an den
Tatort kam und mit der Polizei verhandelte, durfte sie gehen.
Schon manchmal hatte ihr das Leben auf dem Weg zum Traumberuf ein Bein gestellt. Wie im ersten Vorsprechen an ihrer Lieblingsschauspielschule, dem Max Reinhardt Seminar. Sie war bereits in die zweite Runde gekommen und ignorierte ihre Bauchschmerzen, bis sie schließlich mit einem lebensgefährlichen Blinddarmdurchbruch ins Krankenhaus kam. Aber im drauffolgenden Jahr klappte es sofort. Dabei wollte sie als Jugendliche in ihrer Heimatstadt Hamburg alles, nur keine Schauspielerin werden. Ihr Vater arbeitete in diesem Beruf. Sie hatte die Unsicherheiten, die so ein Leben mit sich bringt am Rande mitbekommen. Ihr Vater, der in der DDR lebte, gehörte zum legendären Ensemble von Frank Castorf während dessen »Verbannung« an das winzige Theater Anklam in Vorpommern. Ganz Theater-Ostdeutschland pilgerte damals an diesen kultigen Ort, wo es im Schutz der Provinz aufregende Inszenierungen zu sehen gab. Umso erstaunter ist Winnie Ricarda Bistram, ausgerechnet in Heilbronn auf Kollegen zu treffen, die ihren Vater und den Großvater von der Bühne und von gemeinsamen Arbeiten kannten.
Nach dem Abitur studierte sie zunächst Psychologie und Kunstgeschichte in Heidelberg. Doch irgendwann hat sich offenbar das väterliche Erbe bei ihr durchgesetzt, denn der Wunsch, diesen unvorhersehbaren, aufregenden Weg zur Schauspielerei einzuschlagen, brach sich massiv Bahn. »Das Schauspielstudium fühlte sich richtig an. Auch das ganze Auf und Ab, die Selbstzweifel, die einen dabei ständig begleiten, das gehört mit dazu.« Sie spielte in dieser Zeit auch am Volkstheater Wien und im Theater in der Josefstadt. Nach dem Studium gastierte sie in Berlin und Wilhelmshaven, stand in Kurzfilmen vor der Kamera und nahm an einem großen Kunstprojekt in Berlin teil. Zuletzt spielte sie 180 Vorstellungen der französischen Komödie »Die Lüge« von Florian Zeller im Zimmertheater Heidelberg. Ihr Partner war Peter Volksdorf, ehemaliges Ensemblemitglied in Heilbronn und gerade wieder als Gast am Neckar. Der machte Winnie Ricarda Bistram darauf aufmerksam, dass das Theater Heilbronn gerade junge Schauspielerinnen suchte. Weil der Norddeutschen gerade in Heidelberg die große Liebe über den Weg gelaufen war, wollte sie gern im Süden bleiben und bewarb sich. »Ein Festengagement ist auch mal ganz schön«, sagt sie und hofft darauf, dass sie hier waches, spannendes, politisches Theater machen darf. So, wie es die Aufgabe von Theater seit der Antike ist. Nicht von ungefähr ist Antigone eine ihrer Lieblingsfiguren, eine 2500 Jahre alte Vorläuferin von Greta Thunberg.
Zusehen ist Winnie Ricarda Bistram aktuell in der Komödie »Drei Männer und ein Baby« und dem Weihnachtsmärchen »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel«.
Sie weiß bis heute nicht warum, aber Johanna Sembritzki hat schon als kleines Kind behauptet, dass sie einmal Schauspielerin wird.
»Da kann ich alles mal ausprobieren und muss mich nicht für einen Beruf entscheiden, war damals meine Begründung«, erinnert sich die dunkelblondgelockte Frau mit dem Schalk in den Augen. So richtig Feuer fing sie bei einem Theaterbesuch in ihrer Heimatstadt Bochum. Da sah sie im Theater »Dantons Tod« in der Inszenierung von Leander Haußmann und dachte: Das will ich auch. Die Lucile aus Büchners Revolutionsdrama, die ihrem Mann letztlich bis in den Tod folgt, hat sie tief beeindruckt. Ohnehin war sie bereits als Jugendliche in der Welt der Dramen zu Hause. Noch lieber als Romane las sie Goethe, Schiller, Büchner und Shakespeare, aber auch moderne englische Dramatik wie z.B. Sarah Kane, deren Stücke sie bis ins Mark trafen. In jedem dieser Texte hatte sie eine Figur, die sie besonders liebte und mit der sie sich identifizierte. »Das Gretchen war es komischerweise nie«, sagt sie. Eher so starke und radikale, aber auch gleichermaßen brüchige Charaktere wie Maria Stuart oder Lucile. Den Wunsch, Schauspielerin zu werden, setzte sie dann aber eher zögerlich um. Der Grund: Ihr Bruder Henning war gerade an der Schauspielschule angenommen worden. »Ich kann doch nicht das gleiche machen wie mein Bruder«, dachte sie.
Die Heilbronner werden sich noch an Henning Sembritzki erinnern, denn er gehörte einige Jahre zum Schauspielensemble des Heilbronner Theaters. Johanna studierte zunächst Polonistik und Afrikanistik in Berlin und bewarb sich schließlich doch heimlich an Schauspielschulen. Wieder war es Büchners Lucile, die sie bei den Vorsprechen begleitete. Von 2001 bis 2005 studierte sie dann in München an der Bayerischen Theaterakademie »August Everding« und stand schon ab dem ersten Studienjahr im Residenztheater München auf der Bühne in Inszenierungen von Dieter Dorn und Thomas Langhoff. Während dieser Zeit spielte sie auch in Doris Dörries Film »Der Fischer und seine Frau« mit. »Es war eine total aufwendige Szene im strömenden Regen auf einem Müllplatz mit einem Baby, die dann aber herausgeschnitten wurde, weil das Kind ununterbrochen schrie.« Heute kann sie darüber lachen.
Nach dem Studium führte ihr erstes Festengagement sie wieder in ihre Heimatstadt ans Schauspielhaus Bochum. Ein Traum, auf der Bühne stehen zu dürfen, auf der sie früher die Darsteller bewundert hat. Als Tochter der Stadt wurde sie besonders vom Publikum und auch von vielen Kollegen ins Herz geschlossen. »Bis heute kennen mich die Leute, wenn ich dort zu Besuch bin und meine Mutter wird oft nach mir gefragt«, sagt sie. Die nächsten Jahre führten sie nach Lübeck, wo sie drei Jahre lang mit ihrem Bruder Henning zusammen auf der Bühne stand. »Wenn wir zusammen spielen, verbindet uns ein Urvertrauen, das nicht vieler Verabredungen bedarf«, sagt sie. In die Lübecker Jahre fiel auch die Geburt ihrer beiden Kinder – Johanna Sembritzki hat einen Sohn und eine Tochter. Fortan musste sie ihren Beruf mit dem Familienalltag unter einen Hut bringen. »Das geht mit viel Selbstdisziplin, einem straffen Tagesplan und einer guten Infrastruktur an Leuten, die einem helfen.« So sehr sie ihren Beruf auch liebt, die Kinder sind ihr größtes Glück. »Sie erden mich und machen mir immer wieder klar, dass es neben den Brettern, die die Welt bedeuten, noch viele andere wichtige Dinge gibt. « Ihr nächstes Engagement führte sie nach Neuss, wo sie die jungen weiblichen Hauptrollen hoch- und runterspielte. »Klar ist es schön, wenn man so jung besetzt wird«, sagt sie. Aber jetzt werde es Zeit für einen Fachwechsel, schließlich hat sie die Mitte 30 schon überschritten – auch wenn man es ihr überhaupt nicht ansieht. Nun also Heilbronn. »Ich liebe diese Bühne«, schwärmt sie. Eine ähnlich schöne Bühne hat sie zuletzt in Bochum erlebt. Sie mag die schiere Größe, aber auch das Gefühl, dass alle, die auf der Bühne und hinter den Kulissen arbeiten, unbedingt wollen, dass es gelingt.
Die Statistinnen von »Hexenjagd« erzählen über ihre Erfahrungen.
Anfang Januar 2019
sind 27 junge Mädchen und Frauen im Alter von 13 bis 24 Jahren dem Aufruf des
Theaters gefolgt, um an dem Statistinnen-Casting für die Inszenierung von
Arthur Millers »Hexenjagd« teilzunehmen. Regisseurin Uta Koschel und
Dramaturgin Sophie Püschel suchten für die Inszenierung eine Gruppe junger
Mädchen, die die Schauspielerinnen Stella Goritzki und Ipek Özgen bei verschiedenen
Szenen als »Mädchen aus Salem« unterstützen.
Wir haben einige der Statistinnen
über ihre Motivation, sich für das Casting zu bewerben, befragt:
Anna Lena Knecht: »Theaterspielen macht mir extrem viel
Spaß. Ein paar aus dem Kolpingtheater und mein Vater haben mich auf einen
Artikel der Heilbronner Stimme aufmerksam gemacht, in dem stand, dass
Statistinnen gesucht werden. Daraufhin habe ich mich für das Casting
angemeldet.«
Lilly Eichberg: »Ich war wahnsinnig interessiert, wie die
Entwicklung von der ersten Probe, bis hin zum komplett fertigen Stück abläuft.
Ich wollte wissen, wie es ist ein Teil des Ganzen zu sein.«
Anna Laukhuf: »Ich liebe Theater und mich reizte die
Vorstellung, eine andere Perspektive und Rolle einzunehmen und mich aktiv am
Schauspielgeschehen zu beteiligen, anstatt die Position der Zuschauerin zu
bekleiden. Außerdem fand ich es verlockend, so Einblicke in die Prozesse hinter
der Bühne zu bekommen und ein Stück von der Idee bis hin zur fertigen Inszenierung
zu begleiten.«
Die Mädchen aus Salem
spielen in »Hexenjagd« eine entscheidende Rolle, denn ihr Vergehen: nachts im
Wald zu tanzen, setzt die Ereignisse in dem kleinen Ort in Gang. In der streng
puritanischen Gemeinde Salem sind solch weltliche Vergnügen wie Tanzen oder das
Lesen von Büchern strengstens verboten. Als die Mädchen beim Tanzen entdeckt
werden, brechen einige von ihnen ohnmächtig zusammen, aus Angst vor der ihnen
drohenden Strafe. Unter ihnen ist auch die Tochter des Pfarrers Parris, als sie
nicht mehr aus ihrer Ohnmacht erwachen will, keimt schnell das Gerücht von
Hexerei auf. Auf der Suche nach Schuldigen werden die Mädchen ins Verhör
genommen und unter Druck gesetzt, zu gestehen bzw. der Hexerei Schuldige zu
benennen. Von nun an greifen Denunziationen und Misstrauen um sich. Die Bezichtigung,
ein Werkzeug des Teufels zu sein, eignet sich bestens, um unliebsame Gegner aus
dem Weg zu räumen. So wird Salem im Zuge der Hexenprozesse in eine Art
Massenhysterie aus Lügen, Angst und Machtmissbrauch versetzt.
Aus dem Casting sind zwei
Gruppen von je fünf Statistinnen hervorgegangen. Die meisten brachten bereits
erste Erfahrungen aus Theater-AGs und -clubs oder früheren Statistinnenrollen
mit.
Doch der
professionelle Theaterbetrieb hielt für sie neue Eindrücke und einige Überraschungen
bereit.
Anna Laukhuf: »Vor allem ist mir aufgefallen, wie
leidenschaftlich die Schauspieler oder auch andere Mitarbeiter ihre Arbeit
ausüben. Man spürt eine Atmosphäre, die davon geprägt ist, dass jeder seine
Arbeit als Berufung und nicht bloß als Job ansieht.«
Christiane Staudacher berichtete: Ȇberrascht haben mich die vielen und
unterschiedlichen Abteilungen, die ein so großes Haus besitzt und den für eine
Produktion notwendig sind. Angefangen bei den Kostümen, die alle selbst genäht werden,
hin zum Bühnenbild, das exklusiv für jede einzelne Produktion angefertigt wird,
bis zur Gesamtorganisation einer solch großen Produktion, vor und hinter der
Bühne.«
Einen neuen Blick, was eine Inszenierung alles umfasst,
gewann auch Leonie Decker:
»Überrascht hat mich, wieviel Wert auf jedes Detail in Make-up, Bühnenbild und
Text gelegt wurde. Unsere Kostüme wurden alle maßgeschneidert und es galt zu
unserem Leid striktes BH-Verbot, nur um auch wirklich den Eindruck der Zeit
einzufangen, welcher von der Regisseurin gewünscht wurde. Als Zuschauer hatte
ich nie bemerkt, wie viele Ideen von verschiedenen Seiten in ein einzelnes
Stück fließen, um dieses komplett werden zu lassen. Darauf werde ich zukünftig,
wenn ich ins Theater gehe, mehr achten.«
Im März begann für die
Schauspielerinnen und Schauspieler die sechswöchige Probenzeit und natürlich
auch für die Statistinnen. Für die Mädchen war es eine bereichernde und
zusammenschweißende Zeit.
Matilda Martinez über die Proben: »Es gab so viele kleine
Momente, Momente mit den anderen Statistinnen, den Schauspielern: Es waren alle
so offen und nett, die Atmosphäre war einfach jedes Mal so unbeschreiblich.«
Leonie Decker verriet uns: »Wir als Statistinnengruppe untereinander hatten Backstage wahnsinnig viel Spaß und ich habe jede einzelne meiner Mitstatistinnen als Freundin lieb gewonnen. Zudem wurde durch dieRegisseurin und die anderen Darsteller auf der Bühne eine Atmosphäre kreiert, welche mich motiviert hat auf der Bühne mein Bestes zu geben. Im Kopf geblieben ist mir, als wir das erste Mal unsere „Vogelszene“ probten, welche sehr intensiv war. Es hat uns einiges an Mimik und Stimme abverlangt, aberda alle hochmotiviert mitmachten, in mir auch ein Hochgefühl ausgelöst. Somit würde ich das als „schönsten Probenmoment“ bezeichnen.«
Am 4. Mai 2019 ging es dann für das Ensemble und die erste Gruppe der Mädchen aus Salem auf die Bühne des Großen Hauses. Seitdem spielen abwechselnd die beiden Gruppen in den Vorstellungen.
Für Anna Laukhuf war gerade der Abend der Premiere ganz
besonders: »Mein schönster Moment waren die letzten gemeinsamen Erlebnisse
hinter der Bühne vor der Premiere. Fast jeder hat dem anderen ein kleines
Glücks-Präsent überreicht, was mich sehr gerührt hat. Alle Geschenke enthielten
auch – direkt oder indirekt – eine Botschaft, die mit dem Stück zu tun hatte.
Mich hat begeistert, wie viel Gedanken sich alle darüber gemacht haben und wie
viel Wertschätzung auch uns als Statistinnen entgegengebracht wurde.«
Wie viel Arbeit und Disziplin hinter den Proben und den
Vorstellungen steckt, hat Lilly Eichberg beeindruckt: »Auf den Proben oder in
den Pausen während Vorstellungen wird manchmal rumgealbert. Trotzdem müssen
dann alle zum richtigen Zeitpunkt wieder konzentriert sein und ihre Arbeit
machen, wenn es weiter geht. Das war eine gute Erkenntnis.«
Ob sich die Erwartungen, mit denen sich die Mädchen beim Casting beworben haben, in Erfüllung gingen wollten wir natürlich auch von ihnen wissen.
Anna Lena Knecht: »Ich hatte keine konkreten Erwartungen,
sondern viel mehr die Hoffnung, dass auch wir Statistinnen gut in die
Schauspielgruppe integriert werden. Dies hat sich definitiv erfüllt.«
Leonie Decker: »Ich hatte die Erwartungshaltung als
Statisten wäre man »nur« eine Hintergrundfigur und würde auch dementsprechend
behandelt. Jedoch die freundliche und auch unterstützende Art, welche die
anderen Darsteller und Mitarbeiter gegenüber uns Statistinnen hatten, hat dafür
gesorgt, dass ich mich sofort wertgeschätzt gefühlt habe.«
Matilda Martinez: »Um ehrlich zu sein, wusste ich gar nicht,
was auf mich zukommen würde und ich habe viel mehr daran gedacht, das Casting
aus Spaß zu machen. Mittlerweile bin ich mehr als froh, dass ich diese
Erfahrung machen durfte.
Und wie fühlt es sich an, auf der Bühne im Großen Haus zu stehen?
Matilda Martinez: »Es ist unbeschreiblich, auf der großen Bühne
stehen zu dürfen. Mit den »Großen« zu spielen, zu sehen, wie sie die Charaktere
verkörpern, von ihnen zu lernen … . Man kann dieses Gefühl nicht beschreiben,
es ist einfach ein pures Glücksgefühl, das so viele verschiedene Emotionen
freisetzt.«
Lilly Eichberg: »Es macht total viel Spaß! Während der
Vorstellung ist man auf der Bühne meistens sehr konzentriert. Man vergisst
fast, dass man auf der Bühne im Großen Haus steht und einem so viele Leute zusehen. Ich realisiere das meist erst,
wenn ich wieder von der Bühne runter bin.«
Christiane Staudacher: »Auf einer Bühne zu stehen, ist für
mich ein unbeschreibliches Erlebnis. Ich fühle mich dort einfach wohl. Ein
Traum ist für mich in Erfüllung gegangen.«
Für alle war es eine aufregende und
besondere Zeit. Auf die Frage ob sie es noch mal machen würden, haben alle sofort
mit JA! geantwortet.
Leonie Kurz: »Auf jeden Fall würde ich es nochmal machen! Es
macht einfach unglaublich viel Spaß, und kein Abend ist wie der andere!«
Christiane Staudacher: »Meine Erfahrungen am Theater Heilbronn
möchte ich auf keinen Fall missen, und wer weiß, was die Zukunft für mich
vorhat?«
Lilly Eichberg: »Auf jeden Fall! Es hat sehr viel Spaß
gemacht, und ich habe viele neue Erfahrungen gesammelt.«
Matilda Martinez: »Ich würde es jederzeit wieder tun. Das
Casting, die Proben, die Vorstellungen würde ich nicht mehr missen wollen.«
Leonie Decker: » Die Erfahrung am Theater hat mich viele
Dinge gelehrt und in meinem Leben weitergebracht, des Weiteren hat es Spaß
gemacht und mich mit neuen Menschen zusammengeführt. Meine Antwort lautet: 100% Ja!«
Wir danken allen Statistinnen von »Hexenjagd« für ihre Unterstützung und Spielfreude. Wer sie noch mal auf der Bühne erleben möchte hat noch am 6., 12. & 14. Juli die Gelegenheit.
Uta Koschel verabschiedet sich als Chefregisseurin aus Heilbronn und wird Schauspieldirektorin in Schwedt
Es ist eine Mischung aus Vorfreude und Wehmut, die Uta
Koschel gegenwärtig durch den Tag begleitet: Vorfreude auf die neuen Aufgaben,
die sie in ihrer neuen Funktion als Schauspieldirektorin an den Uckermärkischen
Bühnen Schwedt erwarten. Wehmut, weil ihr der Abschied vom Theater Heilbronn,
das sie seit Beginn der Intendanz von Axel Vornam mitgeprägt hat, nicht leicht
fällt. Seit 11 Jahren gehört Uta Koschel zum Team von Regisseuren, die hier
regelmäßig arbeiten. In den vergangenen drei Spielzeiten war sie fest als
Chefregisseurin am Haus. Mit ihren beiden letzten, ganz unterschiedlichen Inszenierungen
in dieser Funktion setzte sie noch einmal unvergessliche Akzente: Mit »Harper
Regan«
von Simon Stephens, der Tragödie einer Frau, die vor lauter Warten auf das
Leben das Leben an sich vorbeiziehen lässt. Und mit »Hexenjagd«
von Arthur Miller, einer Inszenierung, die zwar in einer puritanischen Gemeinde
des Jahres 1692 angesiedelt ist, die aber als Parabel für eine Gesellschaft, in
der Toleranz und Vernunft im öffentlichen Diskurs immer stärker einem
hysterisch geführten, gefährlichen Disput weichen, mit aller
Deutlichkeit ins Hier und Heute weist.
Erinnert sei auch an ihre Heilbronner Inszenierungen wie »Das
Fest«,
»Die
Katze auf dem heißen Blechdach« oder »Der Besuch der alten Dame« oder
den Komödienhit »Der nackte Wahnsinn« – da werden Bilder wieder lebendig. Ihr
Markenzeichen als Regisseurin ist, dass sie kein Markenzeichen hat. Uta Koschel
entwickelt die Inszenierung immer
aus dem jeweiligen Stoff heraus gemeinsam mit ihrem Team, mit einer klugen, fein
ziselierenden, die handelnden Figuren genau untersuchenden Arbeitsweise und
einem guten Gespür für Timing und Rhythmus. Da vereinen sich in der Tochter
einer Schauspielerin und eines Dramaturgen offenbar beide elterliche Talente.
Vermissen wird Uta Koschel das großartige, äußerst vielseitige Heilbronner Ensemble, mit dem es Freude macht zu arbeiten: »Mit jedem einzelnen«. Auch die Mitarbeiter in den Werkstätten seien ganz besonders: »Sie arbeiten immer für die Kunst und machen ALLES möglich.« Überhaupt sei das ganze Haus außergewöhnlich gut organisiert und von einem hohen Arbeitsethos geprägt. Heilbronn als Stadt werde immer quirliger und dynamischer, und das Publikum sei wach und dem Theater sehr zugetan. Aber einen Wermutstropfen hatte ihr Engagement im Südwesten immer: Ihren Lebensgefährten Jon- Kaare Koppe, Schauspieler in Potsdam, hat sie viel zu selten gesehen. Schon seit der Schauspielschule sind die beiden ein Paar.
Von Schwedt, ihrer neuen Wirkungsstätte, sind es nur rund 70 Minuten bis zur gemeinsamen Wohnung in Berlin. Aber nicht nur deshalb freut sie sich auf die Arbeit in den Uckermärkischen Bühnen. »Das Theater ist das kulturelle Zentrum einer spannenden Region«, beschreibt Uta Koschel. Früher abseits am äußersten östlichen Rand der DDR gelegen, findet sich die Stadt jetzt mitten im Herzen Europas wieder – zehn Kilometer von Polen entfernt. Das Theater in Schwedt überwindet hier im wahrsten Sinne des Wortes die Grenze, ist federführend in der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit. Die Uckermärkischen Bühnen arbeiten mit der Musicalhochschule in Gdynia zusammen und realisieren zweimal im Jahr große Musicals. Im traditionellen Weihnachtsmärchen kommt ein Drittel der Besucher aus Polen. Es gibt zweisprachige Schauspieler im Ensemble, so dass Stücke mit polnischen Versatzstücken aufgeführt werden. »Eine wunderbar ungezwungene Art, um sich mit der Sprache des jeweiligen Nachbarlandes zu beschäftigen.« Schwedt bringt auch Deutschsprachige Erstaufführungen polnischer Stücke heraus. »Das alles finde ich sehr aufregend“, beschreibt Uta Koschel. Das Theater bekennt sich auch zu seiner politischen Verantwortung. Darin setzt der neue Intendant André Nicke, unter dessen Leitung Uta Koschel in Schwedt beginnt, die Arbeit seines langjährigen Vorgängers Rainer Simon fort.
Einen
Vorteil hat Schwedt außerdem: Zwei Wochen Winterpause, weil das Theater auch im
Sommer spielt. Einen Teil davon wird sie, so überlegt Uta Koschel,
wahrscheinlich in Heilbronn verbringen, um nach ihrem alten Theater zu schauen.
Außerdem wird sie sich jedes Vierteljahr eine Kiste mit Heilbronner Weinen in
die Uckermark schicken lassen, genießen und sich mit dem Geschmack auf der
Zunge an ihre intensive Zeit in Heilbronn erinnern.
Liebe Uta: Die Träne im Knopfloch, mit der Du Dich
verabschiedest, die haben wir auch.
Wir sagen DANKE – einer tollen Regisseurin und einem feinen Menschen.
Die Inszenierung »Hexenjagd« ist noch bis zum 14. Juli 2019 im Großen Haus zu sehen. Allle Termine gibt es HIER –>.
Der Schwarze Rollkragenpullover lenkt den Blick auf das Wesentliche – den Kopf
Schwarzer Rollkragenpullover, schwarze Hose, so sind Harry Haller, sein Alter Ego Hermine und die Unsterblichen, in »Der Steppenwolf« in der Inszenierung zu sehen. Harry Haller ist ein familienloser, heimatloser, hochsensibler Intellektueller von annähernd 50 Jahren, dem alles Bürgerliche zuwider ist. In seinem Erscheinungsbild erkennen wir den Intellektuellen, den Künstler sofort, unterstrichen durch die Kleidung, die er trägt.
Was steckt dahinter, woher kommt dieses Bild, das wir der Figur Harry Haller zuschreiben?
Mit dem Leiter unserer Kostümabteilung blicken wir auf die
Tradition, die dahinter steht, wenn wir uns entscheiden, Schwarz zu tragen.
Wer sich für Schwarz entscheidet, tut das heute oft aus ganz
praktischen Gründen, sagt Manuel-Roy Schweikart. Denn Fragen wie: welche Farben
kombiniere ich heute miteinander, ist die Farbe meiner Kleidung dem Anlass
angemessen, stellen sich nicht. Schwarz passt immer. Schwarz war in der
Bekleidung lange eine Farbe des Wohlstands. Sie wurde nur zu besonderen
Anlässen getragen, erläutert Manuel-Roy Schweikart. Die Herstellung schwarzer
Kleidung war ein teurer, aufwendiger Prozess. Ein tiefes Schwarz konnte nur
durch mehrere Färbeprozesse erzeugt werden, nur Purpurstoffe waren teurer.
Die Verbindung der schwarzen Kleidung mit dem vergeistigten Menschen,
hat ihren Ursprung in der spanischen Hofmode des 16. Jahrhunderts. In den
schwarzen Roben mit ihren stark stilisierenden Formen verschwindet alles
Körperliche und der Kopf des Trägers wird zum Zentrum, erklärt Manuel-Roy
Schweikart. Dagegen kommt die anschließende Renaissancemode fast freizügig
daher. Die tellerförmige Halskrause rückte nicht nur den Kopf als Sitz des
Geistigen in den Fokus. Die sonst ausschließlich Schwarze Kleidung nivellierte
das Körperliche bis zur Unsichtbarkeit. Bis heute stehen die Roben von
Geistlichen und Juristen in dieser Tradition.
Zum Glück entwickelte sich auch das Tragen schwarzer Kleidung weiter. Der berühmte Sonntagsanzug, das Sonntagskleid blieben lange hochwertig, hochgeschlossen und zeitlos, denn oft waren dies die besten Kleidungsstücke, die zu jedem Anlass tragbar sein sollten. Oft wurden sie in den Familien weitergegeben oder vererbt. In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts jedoch wird der schwarze Rollkragenpullover zu einem Statement der Intellektuellen und Künstler, um sich vom Establishment abzugrenzen. Denn Hemd und Krawatte gehörten zum offiziellen Dresscode. Mit dem Rollkragenpullover lenken sie den Blick wieder auf den Kopf.
Dies alles schwingt in dem Bild des Harry Hallers mit, wenn
wir ihn auf der Bühne sehen und vor allem seinen Kopf wahrnehmen. Der
hochgeschlossene schwarze Pullover und die schwarze Hose lassen die Figur vor
dem schwarzen Hintergrund der Bühne zurücktreten. Der Intellektuelle wird für
uns in diesem Kostüm deutlich erkennbar. Dass dahinter jedoch ein antiquiertes
Modephänomen des 16. Jahrhunderts steht, dem das Streben nach Züchtigkeit und
Unschuld zu Grunde liegt, dürfte dem »Steppenwolf« ebenso zuwider sein wie die
bürgerliche Gesellschaft.