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Ein wahnwitziges Täuschungsmanöver sorgt in Ivan Calbéracs Komödienhit »Jugendliebe« für allerhand unterhaltsame Turbulenzen
von Sophie Püschel
Foto: Jochen Quast
Nach dem großen Erfolg von Ivan Calbéracs preisgekröntem Stück »Weinprobe für Anfänger«, das 2022 mit Nils Brück in der Hauptrolle das Heilbronner Publikum begeisterte, folgt nun seine neueste Komödie »Jugendliebe«. Diesmal steht Nils Brück jedoch nicht als Schauspieler auf, sondern als Regisseur vor der Bühne.
Der erfolgsverwöhnte Antoine (Arlen Konietz) hat alles, was man sich nur wünschen kann, ein florierendes Unternehmen, das ihm enorm viel Geld einbringt, und eine attraktive Freundin, die weiß, was sie will: ein Schloss in der Dordogne! Das Leben könnte kaum schöner sein, da erscheint sein Anwalt Rougeron (Pablo Guaneme Pinilla) mit einem ominösen Brief. Darin teilt Antoines Jugendliebe Maryse (Sarah Finkel) ihm mit, dass sie ihre Arbeit als Krankenschwester für Ärzte ohne Grenzen in Malawi unterbrochen habe, um sich mit ihm in Paris zu treffen. Der Grund ihrer Reise ist, dass sie nach 20 Jahren die Scheidung einreichen möchte. Antoine fällt aus allen Wolken, denn er war sich nicht bewusst, dass ihre Spontanhochzeit in einem Aschram Rechtsgültigkeit besitzt. Als ihn sein Anwalt darauf aufmerksam macht, dass Maryse nach französischem Recht bei einer Scheidung die Hälfte seines Vermögens zusteht, läuten bei Antoine alle Alarmglocken. Es braucht schnell eine Lösung, denn Maryse darf auf gar keinen Fall sein luxuriöses Apartment in bester Pariser Innenstadtlage betreten. Da kommt ihm seine renitente Haushaltshilfe Chuang-Mu (Regina Speiseder) gerade recht, die sich neuerdings jeden Handgriff zusätzlich bezahlen lässt, nachdem sie gelesen hat, dass Antoine 637-mal mehr verdient als sie. Kurzerhand schickt er Chuang-Mu in den bezahlten Urlaub nach Marokko, um währenddessen heimlich ihre Plattenbauwohnung in einem Brennpunktviertel zu beziehen. Antoines Freundin Diane (Judith Lilly Raab), die aus einer alten französischen Adelsfamilie stammt und ein Leben im Luxus gewöhnt ist, lässt sich nur widerwillig zu dieser Maskerade überreden. Denn neben der Wohnung gilt es natürlich auch, Lebensstil, Kleidung und Sprache des vermeintlichen Prekariats zu kopieren. Ein wahnwitziges Spektakel nimmt seinen Lauf! Die Täuschung scheint perfekt, würde sich die Weltverbesserin Maryse nicht hartnäckig dazu bemüßigt fühlen, ihrem alten Freund den Weg aus der Arbeitslosigkeit zu ebnen. Zu allem Überfluss kehrt auch noch Chuang-Mu zu früh aus dem Urlaub zurück und lässt sich nun nicht mehr so einfach herumschubsen. Ergänzt wird dieses heitere Verwirrspiel von einer Reihe live vom Ensemble gesungener französischer Lieder und Chansons, die der Musiker und Komponist Johannes Mittl eigens für die Heilbronner Inszenierung einrichtet.
In seiner turbulenten Komödie »Jugendliebe« lässt Ivan Calbérac charmant-verschrobene Figuren aus ganz unterschiedlichen Welten aufeinanderprallen: Die High-Society-Lady Diane, die ihre innere Leere mit rauschhaftem Shopping kompensiert, trifft auf die Hippie-Krankenschwester Maryse, die ihre persönliche Berufung in der humanitären Hilfe in Afrika gefunden hat, während die aufmüpfige Hausangestellte Chung-Mu selbstbewusst auch ein Stück vom Kuchen fordert und die Ungerechtigkeit der Vermögensverteilung anprangert. Indessen zieht Antoine alle Register, um seine Komfortzone nicht verlassen zu müssen, denn seine hehren, kapitalismuskritischen Ideale der Studentenzeit sind längst von seinem hart erarbeiteten Reichtum korrumpiert. Trotz des lustvollen Spiels mit Klischees und Stereotypen gelingt es Calbérac die tiefsitzende und sehnsuchtsvolle Frage spürbar zu machen, die alle Figuren umtreibt: Was ist wirklich wichtig im Leben?
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Ein biografischer Abend von Regina Speiseder und Katrin Aissen
von Katrin Aissen
Kompromisslose Künstlerin, leidenschaftlich Liebende, begnadete Bildhauerin, von ihrer Zeit verkanntes Genie und am Lebensende an ihren inneren und äußeren Dämonen Zerbrechende: Camille Claudel führte nicht nur ein Leben wie in einem Roman – ihr unabhängiger Geist, ihr wildes Temperament und ihr bedingungsloser Schaffensdrang ließen sie auch immer wieder gegen die gesellschaftlichen Begrenzungen ihrer Zeit anrennen, die Frauen eher die Rolle der Muse, denn des Genies zubilligten.
Die Inszenierung beleuchtet schlaglichtartig wichtige Lebensstationen der innovativen Künstlerin: Ihre Kindheit in der französischen Provinz, in der wilden Landschaft des Tardenois, die sie prägt und wo sie schon früh anfängt, aus dem heimischen Lehm Skulpturen zu formen. Ihre Seelenfreundschaft zu ihrem Bruder Paul Claudel und ihre gemeinsame Auflehnung gegen die konservative Mutter, die der Tochter die Wildheit und dem Sohn den Hang zur Träumerei vorwirft. Ihre Zeit an der Akademie Colarossi in Paris, in der sie auch den Bildhauer Auguste Rodin kennenlernt, dem sie Schülerin, Muse, Geliebte und Arbeitspartnerin wird. Rodins Liebschaften zu anderen Schülerinnen und Modellen und besonders seine langjährige Beziehung zu Rose Beuret sowie ihr Wunsch, sich als eigenständige Künstlerin zu etablieren, treiben Camille Claudel zum Bruch mit ihrem Geliebten. Es folgt eine künstlerisch produktive Phase, die aber geprägt ist von Geldsorgen und dem Kampf, als Frau im etablierten Kunstbetrieb bestehen zu können. Besonders der fortwährende Verweis der Kunstkritik auf Rodin als Lehrer, Mentor und prägender Einfluss machen Camille Claudel zu schaffen und verhindern einen vorurteilsfreien Blick auf die Genialität ihrer Bildhauerei. Kompromisslos und voll Schöpferkraft bricht sie gesellschaftliche Tabus, etwa wenn sie sich gegen den antiquierten Geschmack von Ausstellungsbesuchern und Behörden zur Wehr setzt, die die Nacktheit ihrer Figuren als anstößig geißeln und ihr die Befähigung, Kunst zu schaffen, absprechen.
Eine außergewöhnliche Beziehung verbindet sie auch mit dem Komponisten Claude Debussy, deren besonderer Charakter bis heute nicht geklärt ist: War es eine rein platonische Freundschaft oder mehr? Wachsende Armut, der verzweifelte Kampf um Anerkennung und ein zunehmend zurückgezogenes Leben führen zur Vereinsamung und Nervenzerrüttung Camilles. Ihre künstlerischen und persönlichen Abgrenzungsversuche zu Rodin und ihr Kampf mit der öffentlichen Meinung werden zunehmend radikaler. Sie steigert sich in einen Verfolgungswahn hinein und ihr Hang zur Destruktivität kulminiert in der Zerstörung ihrer eigenen Werke.
Gegen ihren Willen wird sie von ihrer Mutter und ihrem Bruder – der sie auf diese Weise trotz ihres innigen Verhältnisses verrät – in eine Nervenheilanstalt eingewiesen. Dort verbringt sie die letzten 30 Jahre ihres Lebens, nur sehr selten besucht von ihrem Bruder – und kein einziges Mal von ihrer Mutter.
Rückblickend, nach über zwanzig Jahren in verschiedenen Nervenheilanstalten, beschreibt Camille Claudel ihr Leben als einen »Roman, gar ein Epos, Ilias und Odyssee. Um es zu erzählen, bedarf es wirklich eines Homer. Ich bin in den Abgrund gestürzt. Ich lebe in einer so merkwürdigen, so befremdenden Welt. Vom Traum, der mein Leben war, ist dies der Alptraum.«
In assoziativen Bildern und mit emotionalen Liedern – zwischen Traum und Wirklichkeit – führt die Inszenierung in den Kosmos Camille Claudels. In einer eigenen Fassung – angeregt von Briefen Camille Claudels – bringen Regina Speiseder und Katrin Aissen diese spannende Frauenfigur auf die Bühne des Salon3 – unterstützt von Manuel Heuser am Piano.
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Wann ist »Gott wartet an der Haltestelle« entstanden?
Ich habe »Gott wartet an der Haltestelle« 2013/14 geschrieben, direkt nach meiner Rückkehr aus den Niederlanden, wo ich sieben Jahre gelebt hatte. Die Premiere der Uraufführung fand 2014 am Habima Theater Tel Aviv statt, dem israelischen Nationaltheater – direkt nach dem Gaza-Krieg von 2014.
Hast Du das Stück mit einer bestimmten Intention geschrieben?
Es war ein Auftragswerk. Das Habima Theater war damals Mitglied der Union des Théâtres de l’Europe (UTE), die ein Projekt zum Thema »Terrorisms« initiiert hatte, an dem sich alle sechs Mitgliedstheater weltweit beteiligten: das Habima in Tel Aviv, ein Theater aus Reims in Frankreich, das National Theatre in Oslo, ein Theater aus Belgrad. Zu Beginn war sogar ein Theater aus Palästina Teil des Projekts, doch nach Druck aus dem BDS-Umfeld zog sich der Autor dort von dem Projekt zurück. Die Ausschreibung war offen und wir waren sehr frei in unserer Herangehensweise. So beschloss ich, über die zweite Intifada (2000–2005) zu schreiben, die 2002 einen Höhepunkt erreichte. Ich war damals Studentin in Jerusalem, wo etwa dreimal wöchentlich Bomben in Bussen und Restaurants explodierten. Ich lebte im Stadtzentrum und hörte all die Detonationen der großen Anschläge und die Sirenen der Krankenwagen. Glücklicherweise war ich selbst nie betroffen, aber die Angst davor war sehr groß. Ich nahm niemals den Bus, stattdessen fuhren wir im Taxi zur Universität. Wir waren in unseren Zwanzigern, und natürlich gingen wir in Cafés und Bars – allerdings immer verbunden mit dem Risiko, nicht mehr nach Hause zu kommen. Als ich also den Auftrag bekam, über »Terrorismus« zu schreiben, wusste ich, dass ich mich mit dieser Zeit befassen wollte, da ich aus persönlicher Erfahrung genau weiß, was Terrorismus bedeutet. Ich denke, dass nicht nur die direkten Opfer, die bei einem Anschlag ums Leben kommen, oder deren Familien Opfer des Terrorismus sind, sondern dass es eine Art kollektives Opfertum gibt, weil es der Sinn des Terrorismus ist, dass die Menschen in Furcht davor leben, was passieren könnte. Das ist zwar nicht das Hauptthema des Stücks, aber es ist das, wofür der Chor in »Gott wartet an der Haltestelle« steht.
Gab es ein bestimmtes Ereignis, das Dich auf Thema und Struktur des Textes gebracht hat?
Es gab 2003 in Haifa einen ganz bestimmten terroristischen Anschlag in einem Restaurant mit Namen »Maxim«, auf den ich mich beziehe, auch wenn ich kein Dokumentartheaterstück über dieses Ereignis geschrieben habe. Ich habe mich stark auf dieses Attentat gestützt, obwohl ich auch zusätzliches Material von anderen Terroranschlägen verwendet habe, um einen nuancierten Blick auf alle Aspekte des Themas zu erhalten. Das Attentat in Haifa war aber der zentrale Ausgangspunkt.
Warum hast Du diese spezifische Form für den Text gewählt?
Wahrscheinlich beziehst Du Dich mit der Frage auf die Tatsache, dass wir von der ersten Szene an um die Explosion der Bombe wissen und dann in der Zeit zurückwandern, um herauszufinden, wie wir an diesen Punkt gelangt sind. Auf diese Weise wollte ich den Mechanismus von Hass, Rache and Gewalt in seine Einzelteile zerlegen. Ich wollte herausfinden, wie man diesen fatalen Kreislauf neutralisieren kann. Dafür brauchte ich zunächst die Annahme, dass die Tat geschehen ist, um danach sorgfältig alle Schichten abtragen und an jeder Abzweigung untersuchen zu können, was die Rädchen in dem Mechanismus antreibt. Wie könnte man ihn aufhalten, wer hätte eine andere Entscheidung treffen können?
Wie wurde das Stück in Israel aufgenommen?
Das Habima Theater in Israel hat das Stück sehr wohlwollend aufgenommen, sowohl das Publikum als auch die Kritiker. Es war damals nicht üblich – und ist es heute noch viel weniger –, dass sich Theaterautoren direkt mit diesem Thema auseinandersetzen. Es war die Zeit, in der die Art von Regierung, die wir heute haben, an die Macht kam. In Israel spielen wir mindestens 30 Aufführungen – das ist bei uns sehr wenig –, und diese Inszenierung wurde sehr schnell vom Spielplan genommen, nach etwa 30 Aufführungen, und das nicht, weil das Publikum nicht gekommen wäre. Das Theater war voll. Erst Jahre später, anlässlich einer Konferenz über Zensur und Theater – denn damals traute ich mich nicht zu fragen –, habe ich herausgefunden, dass das Stück aus politischen Gründen vom Spielplan genommen wurde.
Die Fabel des Stücks erinnert mich immer an eine griechische Tragödie – »Antigone« oder »Elektra« beispielsweise …
Ich bin mir nicht sicher, was Du mit »tragisch« meinst, da man sich damit auf eine ganze Reihe von Dingen beziehen kann. Aber ich würde mich auf Tragödie vielleicht im Sinne Hegels beziehen. Die Hauptfigur versucht etwas Berechtigtes zu tun und verletzt dabei ein anderes berechtigtes Gesetz oder einen Wert. In diesem Sinn, denke ich, dass jeder nationale oder religiöse Konflikt, der mit zwei Gruppen von Identitäten gleich welcher Art zu tun hat, tragisch sein muss. Denn sobald Individuen ihre nationale oder religiöse Funktion ausagieren, müssen sie etwas verletzen, das zu einer darunterliegenden Schicht gehört. Ich glaube, was ich in meinen Stücken immer zu tun versuche, ist, die Schichten der Identität abzutragen, bis ich den Kern des Menschlichen erreiche. In diesem Sinne versuche ich in allen meinen Stücken die Kräfte und Werte der Zugehörigkeit aufzusuchen, die sich gegenseitig widersprechen. Yael in »Gott wartet an der Haltestelle« beispielsweise ist ein Mensch, sie ist eine Frau und sie ist Israelin, sie besitzt also drei Schichten von Gruppenzugehörigkeit. Was sie mit Amal verbindet ist, dass beide Menschen sind und dass beide Frauen sind; was sie trennt, ist, dass Yael eine Israelin ist und Amal eine Palästinenserin. Wenn Yael am Checkpoint steht, muss sie sich also entscheiden, welche Loyalität mit Blick auf die Gruppenzugehörigkeit stärker ist. Sie entscheidet sich für das Mensch-Sein und für das Geschlecht. Dadurch fühlt sie sich mit Amal verbunden. Dann stelle ich diese Entscheidung in Frage, weil sie einen Fehler gemacht hat – und das ist das Tragische daran.
Können wir von der Tragödie heute mit Blick auf politische Konflikte etwas lernen?
Eines der größten Probleme unserer Zeit ist der binäre Diskurs. Man muss sich im Diskurs für eine Seite entscheiden und sobald man sich für eine Seite entschieden hat, hat man sich für eine ganze Reihe weiterer Meinungen mitentschieden, da man nun einer bestimmten ideologischen Gruppe angehört. Das Ergebnis ist ein sehr flacher Diskurs. Und dann passiert, was wir gerade gesehen haben, nämlich dass die Leute einfach »From the River to the Sea« schreien, ohne zu wissen, welchen Fluss und welches Meer sie meinen und welche Konsequenzen ihre Forderung haben würde. Und dass diese Konsequenzen eigentlich ihren humanistischen Werten, den Menschenrechten widersprechen. So wird gegen das eine Töten mit dem Ruf nach einem anderen Töten protestiert, ohne dass sich die Menschen dessen bewusst sind. Es scheint fast, als wären die Menschen nicht mehr im Besitz ihrer eigenen Meinung. Vielleicht sind das nicht die aktuellen politischen Konflikte, nach denen Du gefragt hast, sondern eher die sozialen Herausforderungen, denen wir aktuell gegenüberstehen. Die Oberflächlichkeit des Diskurses ist eine sehr ernste Herausforderung für das Theater und die Kunst im Allgemeinen. Aber besonders das Theater kann diese Minenfelder analysieren und in ihre Einzelteile zerlegen. Es könnte unsere Rolle in der Öffentlichkeit sein, auf die Nuancen, die Ambivalenzen der Konflikte hinzuweisen, und das Erreichen größerer menschlicher Wahrheiten anzustreben.
Wie denkst Du heute über das Stück?
Du weißt ja, dass wir in der zweiten Woche nach dem Massaker vom 7. Oktober Kontakt aufgenommen haben und ich sehr traumatisiert war – wie jeder in Israel. Und dass ich damals dachte, dass es nicht möglich sei, das Stück so aufzuführen, wie es ist. Interessanterweise habt Ihr nicht gleich verstanden, warum. Und das zeigt nur, was ein Trauma mit einer Person macht: Innerlich bricht alles zusammen, das Weltbild eingeschlossen. Zunächst einmal dachte ich, dass es ein sehr schwieriger Zeitpunkt ist, das Stück aufzuführen. Zudem wäre es für mich ein großes Problem, wenn Amal vom deutschen Publikum in einen Zusammenhang mit den Terroristen gebracht würde, die das Massaker verübt haben. Ich würde heute kein Stück schreiben, das nach dem Menschlichen in der unmenschlichen Tat vom 7. Oktober sucht. Wenn ich das täte, würde ich lügen. Es ist sehr wichtig für mich, zumindest zu glauben, dass ich nach Wahrheiten suche. In diesem Fall würde es sich wie eine Lüge anfühlen, überhaupt nach einem menschlichen Aspekt bei diesen Leuten zu suchen. Inzwischen ist Zeit vergangen. Und nach dem langen Dialog, den wir geführt haben, bin ich sehr neugierig, wie wir das in der Inszenierung transparent machen können. Im Moment aber ist es für mich noch zu früh, Deine Frage zu beantworten. Dadurch, dass mehr Zeit vergangen ist und auch angesichts der furchtbar vielen Opfer im Gazastreifen – was für eine ungeheure Zahl von Menschen –, wird es drängender für mich, darüber zu sprechen. Und ich realisiere, wie wichtig es ist, wieder über den Kreislauf der Gewalt zu sprechen und darüber, wie wir ihn stoppen können.
Wann hast Du die»17 Schritte« geschrieben? Worum ging es Dir dabei?
Ich habe die »17 Schritte« etwa sieben oder zehn Tage nach dem Anschlag geschrieben – ich weiß nicht ganz genau wann, da mir das Zeitgefühl in den ersten Wochen nach dem 7. Oktober vollkommen verloren gegangen ist. Wir waren sehr an unsere Häuser und an die Kinder gebunden, mussten einige Male am Tag zum Schutzraum rennen. Es gab nicht wirklich Zeit zum Nachdenken. Das ist tatsächlich eine Frage, die mir oft gestellt wird: Wie konnte ich mich dazu bringen, mich hinzusetzen und zu schreiben? Fakt ist ja, dass ich Dir sehr schnell geschrieben habe, um zu fragen, was wir tun, weil »Gott wartet an der Haltestelle« in diesem Moment vielleicht nicht das richtige Stück sein könnte. Ich hatte das gleiche Problem mit meinem Stück »Bomb«, das hier in Israel im Juni Premiere haben sollte. Ich dachte, dass es nicht möglich wäre, im nächsten Juni hier über Bombardements aus der Luft und deren Konsequenzen zu diskutieren, weil für lange Zeit niemand etwas darüber hören wollen würde. Anhand der Tatsache, dass ich gerade nicht mehr hinter meinen alten Stücken stehe, habe ich aber auch gemerkt, dass mit mir etwas passiert ist. Wie kann ein Ereignis eine Weltsicht so dramatisch verändern? So habe ich begriffen, dass das ein Trauma ist. Und um mich meiner selbst zu erinnern, habe ich den Text geschrieben, weil ich weiß, dass meine Stücke genau danach suchen, nach dem Menschlichen, dem Humanistischen, danach, alle Menschen als Menschen zu sehen. Ich habe mich selbst gefragt: »Wie bleibst Du Humanistin nach einem Massaker?« Meine Stücke sind meine Art mit einem Publikum zu kommunizieren. Und dann ist die Frage, wer ist das Publikum. In diesem Fall war das Publikum in erster Linie ich selbst, an zweiter Stelle die Menschen hier in Israel, die im Moment überhaupt nicht in der Lage sind, über die andere Seite nachzudenken, aber auch das westliche und insbesondere das deutsche Publikum. Zuallererst wollte ich den Menschen zu verstehen geben, dass es nicht trivial ist, dass es ein Kampf ist, dass es sehr, sehr schwer ist, menschlich zu bleiben, wenn Du in diesem Kreislauf der Gewalt steckst, und besonders, wenn du in diesem Ausmaß traumatisiert bist.
Gab es eine literarische Gattung, an die Du beim Schreiben gedacht hast?
Ich hatte gar nichts im Kopf, als ich den Text schrieb. Ich war wirklich noch nie in so einer geistigen Verfassung. Ich hatte große Angst. Wir wussten nicht, wie es weitergehen würde. Zu diesem Zeitpunkt schien es, als ob das Massaker erst der Anfang wäre, dass es wieder geschehen könnte, dass es auch in Tel Aviv wieder geschehen könnte. Meine Aufgabe war es, meine Kinder davor zu bewahren, zu viel zu wissen, und davor, psychischen Schaden von der Situation zu nehmen. Sie gingen natürlich nicht zur Schule und mir mussten viele Male am Tag zum Schutzraum rennen. Und sie waren – auch wenn ich das nicht wollte – einer ganzen Reihe von Informationen ausgesetzt, von denen Kinder nichts wissen sollten. Es war eine sehr angespannte Situation. Wir schliefen auf dem Boden bei unseren Nachbarn, weil wir keinen Schutzraum zu Hause haben. Dazu die kollektive Trauer und die Sorge um die Geiseln … Es ist fast unmöglich, das Ausmaß der Trauer, Angst und Unsicherheit zu beschreiben. In dieser geistigen Verfassung schrieb ich den Text. Ich weiß nicht mal genau, warum ich ihn geschrieben habe. Ich hatte das dringende Gefühl, ihn schreiben zu müssen. Ich habe ihn in ein paar Stunden geschrieben und später kaum überarbeitet. Er ist, was er ist. Ich finde das sehr interessant. Vielleicht ist das meine Rolle als Dramatikerin: Ich habe die Werkzeuge, Zeugnis abzulegen, nicht retrospektiv, sondern hier und jetzt, aus meiner eigenen subjektiven Erfahrung heraus, die sehr kollektiv ist. Die Identität zwischen dem Kollektiven und dem Persönlichen ist extrem. Ich erinnere mich nicht, so etwas schon einmal erlebt zu haben. Natürlich außer den Menschen, die alles direkt erfahren haben, an die ich den Ruf nach Humanität nicht richte. Nicht die Geiseln, nicht die Familien der Geiseln, nicht die Opfer, nicht die Menschen, die unmittelbar irgendetwas von dem Horror erleiden mussten. Aber als eine Nation, als Volk haben wir etwas sehr Intensives erfahren. Und ich konnte Zeugnis ablegen, ich konnte einen historischen Moment einfangen. Ich schrieb den Text – und das ist wichtig – bevor die Bodenoffensive der israelischen Armee im Gaza-Streifen begann. Zu diesem Zeitpunkt war die Zahl der Opfer im Gaza-Streifen noch gering. Doch mir war klar, dass die Reaktion in diesem Fall sehr groß sein würde, dass es keine kurze Sache, keine kleine Aktion sein würde, weil ich das Trauma sah. Ich dachte, dass ich mich selbst erinnern müsste, dass ich eine Erinnerung haben müsste, und andere ebenfalls erinnern müsste. Als ich den Text schrieb, waren die Theater in Israel noch geschlossen, und daher kam er zuerst auf die deutsche Bühne, bevor er auf der israelischen Bühne gespielt wurde. Letztlich war das eine positive Sache, weil die Menschen noch vor einem Monat nicht in der Lage gewesen wären zu hören, was ich zu sagen habe. Ich denke, dass es immer noch eine Minderheit ist und viele Menschen immer noch Schwierigkeiten haben. Aber graduell, je mehr die Distanz zu den Geschehnissen zunimmt, sind die Menschen mehr dazu in der Lage.
Ich möchte mit einem Satz über die Geiseln enden: Ich denke, solange es Geiseln gibt, Kinder, Babys, alte Menschen, junge Männer, Männer im Allgemeinen, solange es unschuldige Zivilisten in den Tunneln der Hamas gibt, werden die Menschen nicht dazu in der Lage sein, über andere Mütter irgendwo nachzudenken. Es ist nicht möglich, zum Alltag überzugehen, wenn Menschen wie Du und ich in einer solchen Situation sind und wir nicht einmal wissen, was sie durchmachen. Wir wissen nur, dass es furchtbar ist. Ich weiß, dass in anderen Ländern oft die Vorstellung herrscht, dass die Tragödie in Israel am 7. Oktober geschehen ist und dass sie nun vorüber ist. Und dass die Palästinenser in Gaza täglich eine Tragödie erleiden. Für die Israelis sind die Geiseln die Tragödie. Jeder Tag, der vergeht, ohne dass die Geiseln befreit sind, ist ein weiterer Tag des Horrors. Auch für die Menschen, die sie nicht kennen. Es ist nicht so, dass nur die Familien leiden, und alle anderen inzwischen mit ihren Leben weitermachen. Israel ist entsetzt über die Tatsache, dass Zivilisten dort sind. Ich denke, das ist sehr wichtig.
Liebe Maya, vielen Dank für unser Gespräch!
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Stefan Eichberg ist ein Zugpferd. Nicht nur auf der Bühne, sondern auch, wenn es darum geht, Theaterfreunde reiferen Alters am Nachmittag ins Obere Foyer zu locken, um wieder eine neue Facette des Heilbronner Theaters näher kennenzulernen. Einmal im Monat lädt das Seniorenbüro zu einem Theaterkreis ein. Und Steffi Gal, die Leiterin des Seniorenbüros, freut sich, dass es von Veranstaltung zu Veranstaltung mehr Interessierte sind, die sich eine launige Stunde im Theater gönnen und auf unterschiedlichste Weise hinter die Kulissen blicken.
Diesmal war es also Stefan Eichberg, der sich Löcher in den Bauch fragen ließ. Zum Einstieg interviewte ihn Sophie Püschel, Schauspielleiterin und Dramaturgin, zu seiner Herkunft und Ausbildung. So erfuhren die Damen und Herren, dass der beliebte Mime nicht, wie viele andere, schon sein ganzes Leben zum Theater wollte, sondern durch Zufall auf diese Option stieß. Die Leipziger Schauspielschule »Hans Otto« hatte damals aufgerufen, sich zu bewerben. Obwohl Stefan Eichberg vorher nur ungefähr viermal im Theater war, fand er das interessant. Als er erzählte, dass er am liebsten nach dem ersten Ausbildungsjahr wieder gegangen wäre, reagierten die Zuschauer erleichtert, dass er durchgehalten hat, sonst wäre er ja nicht da, wo er jetzt ist. Im Nachhinein ist er sehr dankbar für seine gute Ausbildung in Schauspiel, Sprache und Bewegung, von der er jetzt noch jeden Tag profitiert, erzählt er. Spannend war auch sein historischer Exkurs in die Wendezeit, die er noch als Student in Leipzig erlebte. Er gehörte mit zu den Demonstranten, die am 9. Oktober 1989 – als noch alles auf der Kippe stand – in Leipzig demonstrierten. In diesem Sommer hat er sich in seiner alten Studienstadt eine Ausstellung zu diesem Thema angeschaut und erst jetzt deutlich gespürt, was er damals als junger Mann sehr gut verdrängen konnte: Die Angst, dass der Mut der demonstrierenden DDR-Bürger in eine Unterdrückung des Aufstandes mit Waffengewalt münden könnte. Er liest gerade jetzt sehr viele Bücher über jene Zeit und das schwierige Zusammenwachsen Deutschlands, erzählt er. Sein erstes Engagement führte ihn 1990 an sein Wunschtheater, das »Hans-Otto-Theater« in Potsdam. Gebannt hörten die Damen und Herren des Theaterkreises zu und fragten, wie es war, nach der Wende Theater zu spielen. »Die Säle waren leer, die Leute hatten andere Sorgen«, erinnert sich Stefan Eichberg. Aber er hatte tolle Kollegen und durfte langsam in immer größere Rollen hineinwachsen. Spannend war für ihn, die unterschiedlichen Arbeitsweisen aus Ost und West kennenzulernen, als die ersten Regisseure aus den alten Bundesländern mit ihren Teams in Potsdam arbeiteten.
Besonders wichtig war seine Potsdamer Zeit für ihn privat, erzählt er liebevoll, weil er hier seine Frau Sabine Unger kennenlernte. Zehn Jahre blieb er in Potsdam, wechselte dann für zehn Jahre ans Schleswig-Holsteinische Landestheater – gemeinsam mit seiner Frau, die zwischendurch in Thüringen engagiert war. In Schleswig-Holstein arbeitet er viel mit dem damaligen Chefregisseur Axel Vornam, der als Intendant das Paar Unger/Eichberg schließlich nach Heilbronn holte. Hier sind die beiden jetzt im 13. Jahr, die längste Zeit, die sie je an einem Theater verbracht haben. Stefan Eichberg genießt es, an einem Haus zu arbeiten, das viel Wertschätzung beim Publikum erfährt. Hier spielte er eine große Rolle nach der anderen. Nach seiner Lieblingsrolle gefragt, nennt er den Walter Faber in »Homo faber«, auch weil er da mit seiner Frau Sabine so intensive Szenen spielen durfte. Nicht immer ist es leicht als Paar am Theater und man muss sich manchmal zwingen, nicht pausenlos darüber zu reden, berichtet er. Die Zuschauer überschütten ihn an diesem Nachmittag mit Sympathie und Wertschätzung, loben sein Spiel, egal, ob er nun in Komödien oder Tragödien zu erleben ist, und finden es auch toll, dass er so gut singen kann.
Was für ihn gutes Theater ausmache, wollen sie wissen. Die gesellschaftliche Relevanz, die man sowohl in alten als auch in neuen Stücken finde. Und er weiß, dass dieser Aspekt bei der Entwicklung des Spielplans immer eine große Rolle spiele. Die Fragen nehmen kein Ende. Wie sein Gehirn funktioniere, um sich die Mengen an Text von so unterschiedlichen Stücken zu merken? Ob er mit seiner Frau zusammen die Texte lerne? Welche Autoren in der DDR gespielt wurden? Ob er sich inzwischen in Heilbronn heimisch fühlt? Was er gern in der Freizeit unternehme? Und schließlich: »Essen Sie gern Spätzle?« – Nein, antwortet Stefan Eichberg. Er mag gern Soljanka, aber am allerliebsten »Tote Oma«, das ist warme Blutwurst (die kann man jeden Donnerstag auf dem Markt kaufen) mit Kartoffeln und Sauerkraut. »Siehst du, da haben wir heute wieder viel gelernt«, sagt eine der Besucherinnen am Ende zu ihrer Nachbarin. Sophie Püschel, die diese Nachmittage am Theater Heilbronn organisiert, präsentiert hier die gesamte Vielfalt dessen, was das Theater Heilbronn ausmacht. So gab es schon Veranstaltungen mit Regisseuren, mit Kollegen aus dem Malersaal, der Requisite, der Maske und der Schneiderei, mit anderen Kollegen aus dem Schauspielensemble, mit dem Künstlerischen Betriebsbüro, mit dem Intendanten, ja sogar mit einem Theaterfotografen. Und jede dieser Veranstaltungen eröffnet eine neue Perspektive auf die Wunderwelt Theater.
TREFFPUNKT LEHRERZIMMER. Wenn wir zu einem Workshop in eine Schule gehen, ist das meist der Ort, der als erstes angesteuert wird. Oft ist noch Zeit für eine kurze Unterhaltung und eine Tasse Kaffee. Ab und zu kennt man den einen oder die andere Kollegin auch schon gut. Gerade in dieser Spielzeit verbringen wir viele Stunden für Workshops in Schulen, um Vorstellungsbesuche für die Prüfungsthemen zu »Nach vorn, nach Süden« (UA) und zu »Woyzeck« vorzubereiten. Wir kommen mit einem Fahrplan in die Schule, wie wir uns den Ablauf des jeweiligen Workshops vorstellen – oft müssen wir aber auch flexibel sein und davon abweichen, je nach dem, ob die Klasse schon ganz tief im Stoff steckt oder noch gar nicht, ob es morgens um 8 Uhr oder nachmittags um 15 Uhr ist. Schreibt die Klasse im Anschluss noch eine Klassenarbeit oder war der Tag vorher schon lang für alle? Deshalb gibt es immer Plan A, B und C. Wir nehmen Sie mit in zwei unserer Workshops, Sie dürfen Mäuschen sein.
Montag, kurz nach halb 10. Die erste große Pause ist vorbei an einem Heilbronner Gymnasium. Nach und nach tröpfeln die Schüler des Leistungskurses Deutsch ins Klassenzimmer. Manche freuen sich, manche sind ob des Unbekannten, was sie in der nächsten Doppelstunde erwartet, etwas unsicher. Andere haben völlig vergessen, dass ich wie ein Ufo im Klassenzimmer gelandet bin und erschrecken sich fast. 16 Augenpaare schauen mich an. Die Klasse hat den »WOYZECK« schon gelesen, aber noch nicht komplett besprochen, sie sehen sich eine Woche später die Inszenierung bei uns an und schreiben im Frühjahr ihr Abitur über den Stoff. Meine Aufgabe für diese Doppelstunde ist es nun, zum einen unsere Inszenierung, also vor allem den konzeptuellen Zugriff und die Ästhetik, zu vermitteln, zum anderen aber auch, den Text, der für die Schüler ggf. ganz weit weg, eben in einem kleinen gelben Buch steht, plastisch und greifbar zu machen.
Wir starten mit einem kurzen Spiel im Kreis: Ähnlich wie beim Uno-Spiel gibt es verschiedene Anweisungen, die Originalzitate aus dem »Woyzeck« sind. Mit einem kräftigen »Jawoll, Herr Hauptmann« gibt man mit einem Klatschen einen Impuls reihum. Ein »Langsam Woyzeck!« markiert einen Richtungswechsel und mit einem »Marie!« kann man sich einen anderen Spielpartner als den links und rechts von sich aussuchen. So wird zum einen der Körper, aber auch der Kopf warm gemacht. Und alle haben was zum Lachen. In einer weiteren Übung haben Zweierteams die Aufgabe, sich wie Marionetten durch den Raum zu führen. Diese Übung wird gesteigert, wenn im weiteren Verlauf dann drei Leute gleichzeitig an den Fäden der jeweiligen »Puppe« ziehen. Ich stelle danach die Frage in die Runde, warum ich wohl diese Übung ausgesucht habe: damit uns nichts peinlich ist, damit wir mit anderen zusammenarbeiten als mit unseren Sitznachbarn, damit wir lernen, zu vertrauen, damit wir erfahren, wie es Franz Woyzeck wohl ergeht, wenn er versucht, es gleichzeitig allen recht zu machen – aha! Darauf wollte ich hinaus, auch wenn alle anderen Antworten auch richtig sind. Wobei es mir immer sehr wichtig ist, im Workshop zu betonen: Ihr könnt nichts wirklich falsch machen, hier gibt es nicht die eine Lösung. Ein Workshop bietet die tolle Möglichkeit, sich auf eine andere Art und Weise mit dem Text, den man im Unterricht liest, mit der Inszenierung, die man, vermeintlich passiv im Zuschauerraum sitzend, erlebt, auseinanderzusetzen. Und er öffnet auch die Augen dafür, dass es nicht die eine Interpretation eines Stoffs gibt, sondern noch viele weitere Lesarten als die, die im Lektüreschlüssel vorgestellt wird.
Zu sehen ist das auch in der letzten Übung, in der die Schüler in Kleingruppen Szenen aus dem Stück erhalten, etwa wenn Woyzeck Marie ersticht oder wenn der Tambourmajor und Marie aufeinandertreffen. Die Aufgabe nun: Übersetzt das, was hier steht, in eure Sprache. Wie würdet ihr das heute sagen, würde diese Szene z. B. auf dem Schulhof, auf einer Wiese am Neckar, auf dem Parkplatz vor der Tankstelle stattfinden? Zuerst gibt es ratlose Gesichter, doch dann geht es in den jeweiligen Gruppen rund. »Nein, das heißt doch, dass er sie klarmachen will!« Es wird gelacht, diskutiert, über die semantische Auslegung eines einzigen Wortes gesprochen; eigentlich gar nicht so viel anders als bei den Proben in unserem Probenzentrum. Den Schülern wird klar, so weit weg von ihnen ist Büchners Text gar nicht. Zum Schluss zeigt jede Gruppe ihre Übersetzung in einer kurzen Szene vor der Klasse und die Zuschauer dürfen raten, mit welcher Szene sie sich beschäftigt haben. »Das war cool, hätt ich gar nicht gedacht – ich freu mich jetzt, das Stück zu sehen«, kommt danach aus einem Mund. Ich wünsche der Klasse viel Spaß in der Vorstellung und viel Erfolg beim Abi, beim Verabschieden winkt mir im Gang ein Schüler zu, wir kennen uns aus einem vorherigen Workshop.
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von Simone Endres
»NACH VORN, NACH SÜDEN« wird in den meisten Realschulen erst im Lauf des Schuljahres gelesen und einige Lehrkräfte hatten uns schon zu bedenken gegeben, dass sie die Inszenierung erst nach der Lektüre besuchen wollen. Die Klasse, die heute vor mir steht, ist mutig und stürzt sich ins Unbekannte. Gleichzeitig bietet meistens gerade der offene, unverstellte Blick auch die Möglichkeit, sich neu und unverkrampft auf die Inhalte und Figuren des Romans einzulassen und eigene persönliche Bezüge herzustellen. So auch heute.
Die Klasse hat noch nie einen Workshop mitgemacht und keine Ahnung, was sie erwartet. Die Ankündigung, den Klassenraum freizuräumen, damit wir Platz zum Bewegen und Arbeiten haben wird mit großer Anspannung und wenig Begeisterung aufgenommen. Die meisten Teilnehmer vergraben sich tief in ihre Anoraks und halten die Arme verschränkt. Keiner möchte seinen Stuhl verlassen.
Lena, genannt »Entenarsch«, die als Protagonistin des Romans von Sarah Jäger durch die Geschichte von »Nach vorn, nach Süden« führt, sucht auch ihren Platz auf dem Hinterhof eines Penny-Marktes. Damit ist das erste Spiel zur Eröffnung des Themas gesetzt. Alle Stühle sind im Raum verteilt und die Aufgabe der Gruppe lautet, durch strategische Platzwechsel »Entenarsch« den letzten freien Platz streitig zu machen. Durch das Spiel löst sich die anfängliche Skepsis.
Es folgen Assoziations- und Dissoziationsübungen zur Etablierung eines wertungsfreien Raums. Assoziation bedeutet, dass alles, was wir hören, zu Bildern im Kopf führt. Dissoziationsübungen helfen dabei, sich frei zu spielen und den inneren Zensor auszuschalten. Die Erfahrung, nichts falsch machen zu können, ist für den Rest der Lektion eine entscheidende, damit jeder Teilnehmer sich traut, den Zustand der Fehlervermeidung hinter sich zu lassen und sich vor der Klasse mit den eigenen Ansichten »zu zeigen«. In 2er-Gruppen werden nun kleine Geschichten improvisiert. Beginnend mit dem Satz: »Sag mal, weißt du noch was gestern auf der Landstraße passiert ist?«, haben alle Teams zur Aufgabe, eine kleine gemeinsame Szene zu entwickeln, die anschließend vor der Klasse präsentiert wird. Mich begeistert die Vielfalt des Themenspektrums. Zwei Jungs zeigen, wie sie ohne gültigen Personalausweis die Einreise aus dem Kosovo zu managen versuchen, drei Teilnehmer sind nach einem Banküberfall auf der Flucht und andere versuchen sich gegenseitig bei der Autopanne behilflich zu sein. Alle sind stolz auf ihre Präsentation. Nebenbei ergibt sich auch die Möglichkeit, darüber zu diskutieren, wie ein Schauspieler sich auf der Bühne fühlen würde, wenn es im Zuschauerraum unruhig wird oder das Handy klingelt. Alle verstehen plötzlich, wie wichtig es ist, den Theaterbesuch als gemeinsames Erleben zu verstehen, und dass Publikum und Bühne keine so starr abgegrenzten Bereiche sind, wie allgemein vermutet. Weiter geht es nun mit den Stationen, die »Entenarsch« mit den Insassen ihres VW Polos erlebt. Es gilt, sich aus sechs Schauplätzen des Stücks drei auszusuchen und diese zu einer kurzen Reiseszene zu verbinden. Beispielsweise geht es so vom Schlossgarten in Fulda über den Kreisverkehr von Oer-Erkenschwick zum »Feld-Wald-Wiesen-Festival« in Bimbach. Diese Ausflüge nutzen wir, um das Prinzip der »Heldenreise« zu besprechen, also vom Loslassen von Sicherheit und dem daran anschließenden Aufbruch, der Krise nach anfänglichem Scheitern, der Heldeninitiation durch Konfrontation mit auftretenden Problemen bis zur Rückreise nach Läuterung. Erhitzt ziehen die Schüler Vergleiche zu Roadtrips aus Film und Fernsehen, und Parallelen zu »The Fast and the Furious« bis hin zum »Herrn der Ringe«.
Als mir die Klasse wenige Tage später wieder im Zuschauerraum begegnet, frage ich anschließend, wie es ihnen in der Vorstellung ergangen ist. »War echt cool… aber beim nächsten Mal spielen wir selbst mit«, schallt mir als Echo entgegen.
Die israelische Autorin Maya Arad Yasur hat ihr Stück »Gott wartet an der Haltestelle« 2013/14 geschrieben – kurz vor dem Beginn des letzten Gaza-Kriegs. Es spielt in den Wirren der zweiten Intifada (2000 bis ca. 2005) und spürt in fast antik anmutender Manier einem Selbstmordattentat nach, das eine junge Frau in einem israelischen Restaurant verübt hat. Maya Arad Yasur studierte zu dieser Zeit in Jerusalem, das aufgrund der besonderen Bedeutung der Stadt für Juden und Palästinenser Ziel besonders vieler Anschläge war. Damals, so erzählt sie, habe sie nie den Bus genommen, sondern sei nur zu Fuß oder mit dem Taxi unterwegs gewesen, um nicht selbst Opfer eines Selbstmordattentats zu werden. Zehn Jahre später recherchierte sie im Rahmen des »Terrorismus«-Projekts der Union des Théâtres de l’Europe zu den Selbstmordanschlägen während der Intifada und stieß dabei auf die Geschichte der 28-jährigen Attentäterin Hanadi Jaradat, die am 4. Oktober 2003 einen Anschlag auf das Restaurant »Maxim« in Haifa verübt hatte. Dabei kamen 21 Israelis jüdischer und palästinensischer Herkunft ums Leben, 50 Menschen wurden verletzt. Der Fall der Studentin Jaradat, die zum Zeitpunkt der Tat kurz vor ihrem juristischen Examen stand, interessierte Arad Yasur derart, dass er zum Ausgangspunkt ihres Dramas wurde. Dabei war das Besondere hier nicht nur, dass die Attentäterin eine Frau war – insgesamt gab es unter den Selbstmordattentätern während der zweiten Intifada nur sechs Frauen –, sondern dass Jaradat unter diesen Frauen die einzige war, die keinen persönlichen Grund hatte, ihr Leben zu beenden. Ihr Motiv war vielmehr Rache, ein Beweggrund der, so Arad Yasur, per se politisch und somit auch dramatisch ist. Zudem hatte Jaradat mit dem »Maxim« ein Ziel gewählt, das von Juden und Palästinensern gleichermaßen besucht wurde, und als Symbol friedlicher Koexistenz galt – der besonders perfide Anschlag richtete sich also explizit gegen jede Form des Ausgleichs und der Versöhnung zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen.
Arad Yasurs Stück zeichnet sich durch einen fragmentierten Erzählstrang mit zahlreichen Vor- und Rückblenden aus, der das Attentat in seine Einzelteile zerlegen will. Was ist geschehen? Wie konnte es dazu kommen? Wäre der Anschlag an irgendeinem Punkt zu verhindern gewesen? Das sind die Fragen, die die Figuren umtreiben – vor allem in den chorischen Passagen, in denen die Stimmen von Toten und Überlebenden des Anschlags auf die von Menschen treffen, die Angst haben, das nächste Opfer zu sein. Sie alle sind auf der Suche nach einer »Lücke im System«, die es ermöglichen könnte, den tragischen Ablauf der Ereignisse zu unterbrechen. Das Stück entpuppt sich so als nahezu antike Tragödie, in der ganz klassisch zwei Ansprüche aufeinandertreffen, die sich gegenseitig auszuschließen scheinen: Wo es für beide Seiten ums blanke Überleben geht, haben das Bedürfnis nach Empathie und Menschlichkeit wie die Einhaltung der Menschenrechte keinen Ort. Während der Proben zur Uraufführung des Stücks, die im August 2014 am Habima in Tel Aviv, dem israelischen Nationaltheater, stattfinden sollte, leiteten die israelischen Streitkräfte als Reaktion auf den anhaltenden Raketenbeschuss aus dem Gaza-Streifen die Operation »Protection Edge« ein, die den Beginn des letzten Gaza-Kriegs im Juli/August 2014 markiert. Über 2200 palästinensische Zivilisten wurden damals durch die Bomben der israelischen Luftwaffe getötet. Im Rückblick zeigt sich, dass die Reaktion der Armee auf die Angriffe durch die Hamas damals unverhältnismäßig war. Im Moment der kriegerischen Operation aber war es dem Theater unmöglich, sich mit dem Stück von Arad Yasur auseinanderzusetzen. Die Proben am Habima mussten unterbrochen und die Premiere von August auf Dezember verschoben werden, u. a. deshalb, weil die israelischen Techniker sich weigerten, für das Stück zu arbeiten. Arad Yasur hat diese Situation, in der ihr Stück bereits das erste Mal vom Zeitgeschehen eingeholt wurde, rückblickend so kommentiert: »Die Menschen denken nicht mehr klar, wenn ein Anschlag passiert.« Wie schnell sich der Wind damals wieder drehte, zeigt sich daran, dass sie nach der Uraufführung im Dezember desselben Jahres für »Gott wartet an der Haltestelle« den Habima Award für Nachwuchsdramatiker erhielt.
Nun ist es ein weiteres Mal passiert. Das Massaker der Hamas an der israelischen Bevölkerung im Hinterland des Gaza-Streifens am 7. Oktober und die seit Wochen tobende israelische Bodenoffensive drohen, Arad Yasurs großartigen ästhetischen Entwurf erneut auf einen bloßen Kommentar zur gegenwärtigen Lage zu reduzieren – und diesmal sogar auf einen, der angesichts der aufgeheizten aktuellen Debatten völlig falsch verstanden werden könnte. Leider lässt sich diese Gefahr bei einem literarischen Text, der sich vermeintlich so klar zeithistorisch verortet wie dieser, schwer umgehen. Das Stück beschäftigt sich mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt, das ist nicht zu leugnen, aber gleichzeitig macht es einen wesentlich weiteren ästhetischen wie historischen Raum auf, der bis in die Antike zurückreicht; und es stellt Fragen, die deutlich darüber hinaus gehen. Der Nahostkonflikt ist nur ein Exempel – wenn auch ein für Arad Yasur naheliegendes –, um sich einer Gesellschaft zu nähern, in der Gefühle wie Angst, Schmerz, Hass und Rache regieren und starken Einfluss auch auf politische Entscheidungen nehmen. Das tragische Scheitern der beiden Hauptfiguren Amal und Yael, sich in diesem Umfeld an Prinzipien der Menschlichkeit zu orientieren, hat menschheitsgeschichliche Dimension. Dem aktuellen Kommentar dagegen widmet sich Maya Arad Yasur in einem neuen Text, in dem sich ihr verzweifeltes Ringen um Haltung und Sprache angesichts der furchtbaren Ereignisse der vergangenen Monate eindringlich niederschlägt. Auf der nächsten Seite finden Sie einen Auszug aus diesem Text, der auch Teil unserer Inszenierung von »Gott wartet an der Haltestelle« sein wird.
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Das ist der Stoff, aus dem Komödien gestrickt werden: Ein alter Mann begehrt ein junges Mädchen und noch viel mehr dessen Geld. Ein junger Mann erobert ihr Herz und schnappt sie ihm mit Hilfe zahlreicher Finten des örtlichen Barbiers Figaro weg. Wenn man diese turbulente Geschichte mit ihren zahlreichen Verwicklungen und Intrigen noch mit einer gleichermaßen betörend schönen und mitreißenden Musik untermalt, dann hat man eine komische Oper, die an sprudelndem Temperament und Witz kaum zu überbieten ist: »Der Barbier von Sevilla« von Gioachino Rossini. Der junge italienische Komponist war erst 23 Jahre alt, als er dieses Meisterwerk der leichten Unterhaltung mit seinen Ohrwurmmelodien schrieb. Die Vorlage war die gleichnamige Komödie von Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais.
»Der Barbier von Sevilla« kommt in zwei verschiedenen Inszenierungen als Gastspiel nach Heilbronn. Die wunderbar leichtfüßige und warmherzige Inszenierung vom Staatstheater Meiningen lag in den Händen von Brigitte Fassbaender. Hier stehen zwischen dem 17. und 27. Januar vier Vorstellungen auf dem Programm. Am 15. Februar feiert die kunterbunte und vor skurrilem Humor nur so strotzende Inszenierung von Inga Levant vom Theater und Orchester Heidelberg Premiere, die bis zum 2. März fünfmal in Heilbronn zu sehen ist. Vielleicht ist es für manchen Musiktheaterfreund ein besonderes Vergnügen, sich beide Bearbeitungen dieser Oper anzuschauen und zu erfahren, wie unterschiedlich man ein und denselben Stoff interpretieren kann. Es lohnt sich in jedem Fall.
Die Grundzüge der Handlung sind in beiden Inszenierungen gleich: Graf Almaviva ist schwer in die junge, schöne Rosina verliebt. Er nähert sich ihr heimlich, denn sie wird eifersüchtig von ihrem Vormund Doktor Bartolo bewacht, der selbst ein Auge auf sie geworfen hat und sie vor allem wegen ihrer Mitgift heiraten will. Almaviva besticht den ihm gut bekannten Figaro, der als Barbier auch im Hause des Dr. Bartolo arbeitet. Figaro schmuggelt die eine oder andere Liebesbotschaft hin und her. Damit Rosina ihn um seinetwillen und nicht wegen seines Adelstitels liebt, gibt sich der Graf als armer Student aus, und es gelingt ihm, die junge Frau für sich zu gewinnen. Um den alten Bartolo zu überlisten und näher an seine Angebetete heranzukommen, rät Figaro dem Grafen, sich zu verkleiden. Zunächst erscheint er als betrunkener Soldat mit einem gefälschten Einquartierungsbefehl, das geht gründlich schief. Der nächste Versuch ist schon wesentlich raffinierter: Als vermeintlicher Gesangslehrer erhält Almaviva alias Lindoro ungehindert Zugang zu Rosina. Am Ende siegt die Liebe. Zumindest fürs Erste.
Denn dass das Eheglück dem Paar Almaviva und Rosina nicht allzu lange erhalten bleibt, erfahren wir im zweiten Teil der Figaro-Trilogie von Beaumarchais, die Wolfgang Amadeus Mozart als Vorlage für »Die Hochzeit des Figaro« diente. Almaviva begibt sich schon bald auf amouröse Abwege und steigt Figaros Verlobter Susanna hinterher. Diese Oper lief mit großem Erfolg in der vergangenen Spielzeit am Theater Heilbronn.
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»Wenn ich allein bin, spreche ich mit den Dingen. Vielleicht kennen Sie das: Wenn Sie eine ganze Nacht lang arbeiten müssen, dann bekommen auch die Geräusche etwas ganz Bedrohliches. Und ich habe mich dann gefragt: Was wäre eigentlich, wenn die Dinge antworten würden.« Martin Suter
Reto ist mal wieder allein zu Hause. Seit seiner Trennung von Susi hat er ein wiederkehrendes abendliches Ritual: die Tiefkühlpizza in den Ofen schieben, sich ein Glas Rotwein einschenken und ein »kultiviertes After-Work-Selbstgespräch führen«. Dabei spornt er seinen automatischen Staubsauger zum eifrigen Arbeiten an, sein Topfhandschuh mutiert im ausgelassenen Spiel zum bissigen Hund und auch die Pizza wird launig angesprochen. Soweit business as usual, bizarr wird es erst, als die Pizza in das Gespräch einsteigt. Und als sich auch noch der Hugo Boss-Anzug, der Topfhandschuh, das Blumenkissen und der psychologisch geschulte Sessel – er stand früher jahrelang in der Praxis eines Psychiaters – einschalten, gerät Retos Lebenswelt ins Wanken: Hat er ein Gläschen Wein zu viel getrunken? Ist er einsam und bildet sich Dinge ein? Hat er Wahrnehmungsverschiebungen? Kann er seinem eigenen Verstand noch trauen? Doch damit nicht genug: Die Gegenstände können scheinbar nicht nur sprechen, sie haben auch die Beziehung zwischen dem selbstbewussten Produktmanager Reto und seiner Ex-Freundin Susi genau beobachtet und analysiert – und Reto kommt dabei gar nicht gut weg. Wähnt er sich doch als derjenige, der Schluss gemacht hat und der sein Single-Leben genießt, sind die Dinge da vollkommen anderer Meinung. Auch als das Blumenkissen zögerlich davon berichtet, wofür Susi es in Retos Abwesenheit bei ihren Männerbesuchen verwendet hat, erhöht das nicht gerade Retos Selbstwertgefühl …
Martin Suter, bekannt vor allem durch seine hintergründigen – mehrfach ausgezeichneten und verfilmten – Romane, in denen die Protagonisten durch unvorhersehbare, manchmal surreale Ereignisse aus ihrer Lebensroutine gerissen werden, setzt in seinem scharfsinnigen und unglaublich komischen Schauspiel die Beschäftigung mit Figuren im Ausnahmezustand fort. Pointiert, pfiffig und mit bösem Witz erweckt er die Gegenstände zum Leben: Mit dem schwäbisch sprechenden Hugo Boss-Anzug, dem aggressiv-bissigen Topfhandschuh, der launenhaften Pizza, dem schüchternen Blumenkissen, dem therapeutisch bewanderten Sessel oder dem ewig stichelnden Pouf, um nur einige zu nennen, hat er wunderbar plastische Charaktere mit amüsanten menschlichen Eigenschaften entwickelt.
Am Theater Heilbronn wird Regisseur Kay Neumann diese spitzzüngige Komödie mit Unterstützung des Figurenspielers Lukas Schneider als ein Stück für vier Schauspieler in 13 Rollen auf die Bühne bringen. Die Hauptfigur des vermeintlichen Gewinnertypen Reto, dessen falsche Selbsteinschätzung im Laufe des Stücks lustvoll dekonstruiert wird, verkörpert Pablo Guaneme Pinilla. Judith Lilly Raab, Tobias D. Weber und Lukas Schneider spielen nicht nur jeweils einen menschlichen Charakter, sondern kreieren auch als Figurenspieler einen zum Schmunzeln anregenden Bühnen-Kosmos, eine Gesellschaft der Dinge!
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Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. Davon kann die junge Schauspielerin (Juliane Schwabe), die in Georg Ringsgwandls musikalischem Theaterstück »Die Donauprinzessin« durch den Abend führt, im wahrsten Sinne ein Lied singen. Einst war sie die große Nachwuchshoffnung des deutschen Theaters: Ihr erstes Engagement führte sie an ein Staatstheater der Oberliga, wo ihr einer der angesagtesten Regisseure Europas die Rolle der Nina in seiner »Möwe«-Inszenierung von Tschechow verschafft. Einladungen zu internationalen Festivals und Lobeshymnen der Presse folgten. Doch nach dem ersten großen Triumph bleibt ihr das Glück nicht lange treu! Wie Tschechows Nina muss auch Georg Ringsgwandls Protagonistin immer tiefer in die Niederungen des Künstlertums steigen und sich so mancher Bewährungsprobe stellen.
Aus Gastverträgen an kleinen Theatern werden schlecht bezahlte Auftritte bei Firmenevents und schließlich bleibt nur der Kellnerjob. Neben dem beruflichen Erfolg verabschiedet sich zu allem Überfluss auch ihr Freund Tim sang- und klanglos aus ihrem Leben. Da Jammern nichts hilft und Miete, Strom und Essen bezahlt werden müssen, landet die Schauspielerin schließlich auf dem Kreuzfahrtschiff »Donauprinzessin«, wo sie zusammen mit zwei Musikern die Passagiere mit Coverhits unterhält. Die »verkannte« Schauspielerin nimmt das Publikum in Georg Ringsgwandls ebenso komischem wie lebensklugem Stück mit auf den Donaudampfer, auf dem die Tage nach einem immer festen Rhythmus verlaufen. Die einzige Abwechslung bieten die ungewöhnlichen Lebensgeschichten und Schicksale der Mitreisenden, die sich nach den Auftritten zu ihr und der Band an die Bar setzen. Die skurrilen Erzählungen füllen mühelos einen ganzen Theaterabend. Während die Schauspielerin das eigene Leben mit den Geschichten der Mitreisenden abgleicht, verleiht sie ihren Gefühlen und Gedanken mit live gesungenen Songs Ausdruck, die von den Beatles bis zu den Dire Straits, von Tina Turner bis Friedrich Holländer, vom Country-Klassiker bis zum Volkslied reichen. Unterstützt wird Juliane Schwabe bei dieser musikalischen Reise von den Multiinstrumentalisten Erik Biscalchin und Micha Schlüter.
Mit bittersüßem Humor und entlarvend genauem Blick für die tragikomischen Details des Lebens blättert der vielfach ausgezeichnete Liedermacher, Kabarettist und Autor Ringsgwandl in »Die Donauprinzessin« die sozialen und seelischen Abgründe einer Künstlerbiografie auf. Analog zu Tschechows Nina erfährt auch Georg Ringsgwandls Schauspielerin am eigenen Leib, dass in der Kunst »nicht der Ruhm, nicht der Glanz die Hauptsache ist, sondern die Fähigkeit zu dulden. Wenn ich an meinen Beruf denke«, so lässt es Tschechow seine Nina formulieren, »habe ich keine Angst mehr vor dem Leben.« Georg Ringsgwandls musikalisch-heitere Dampferfahrt des Lebens wird von der Regisseurin Luise Leschik, die zuletzt Nick Hornbys »NippleJesus« in Heilbronn inszeniert hat, am 5. Januar 2024 im Salon3 zur Uraufführung gebracht.
Der bayerische Ausnahmekünstler und musikalische Tausendsassa Georg Ringsgwandl (*1948) hat sich als »Karl Valentin des Rock’n’Roll« mit seinen literarisch-skurrilen Liedtexten einen Namen gemacht, wofür er u. a. mit dem »Salzburger Stier«, dem Deutschen Kleinkunstpreis und dem Bayerischen Kabarettpreis in der Kategorie Musik ausgezeichnet wurde. Neben zwölf Alben veröffentlichte er mehrere Theaterstücke und Erzählungen. 2023 erschien sein erster Roman »Die unvollständigen Aufzeichnungen der Tourschlampe Doris« über Glanz und Grusel des Rock’n’Roll. Aktuell ist er gemeinsam mit seiner Band mit dem Programm »Arge Disco« auf Tour in Deutschland und Österreich.
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Die Heilbronner und ihr Theater: 40 Jahre Theaterneubau am Berliner Platz in Heilbronn »Ein Theater-Neubau ist kein Ereignis, sondern eine Verpflichtung zu einem Ereignis, das nur durch tägliche harte Arbeit erzielt werden kann: Theater.« – Friedrich Dürrenmatt
»Liebe Theaterfreunde! Heute habe ich Ihnen nichts Programmatisches zu sagen – nichts Ihnen ans Herz zu legen – Sie um nichts zu bitten. Keine Sorgen habe ich vor Ihnen auszubreiten – habe um nichts zu kämpfen, das bewahrt, durchgesetzt oder verhindert werden sollte – habe nicht um Ihre Aufmerksamkeit zu werben, um Ihre Behütung oder Ihre Mithilfe. Das wird sicher wiederkommen, liebe Theaterfreunde, wenn das neue Haus erst einmal Normalität und Arbeitsalltag geworden ist, und dann werde ich wieder vor Ihnen stehen mit Nöten und Notwendigkeiten. Heute habe ich nur eines – Ihnen zu danken, daß Sie alle – mit so viel Vertrauen – in so großer Zahl auf uns zugekommen sind, um dabeizusein, wenn wir um und für Leben spielen werden im neuen Theater Heilbronn. Ich würde Ihnen gerne applaudieren – wie Sie so oft uns – wenn die Feder Hände hätte. Ich werde arbeiten, daß Sie Grund haben, bei uns bleiben zu wollen in den kommenden Jahren im neuen Theater, verspricht Ihnen Ihr Klaus Wagner.« So schreibt der 1979 in sein Amt gewählte Intendant in der ersten Ausgabe der Theaterzeitung nach der Eröffnung des Theaterneubaus am Berliner Platz, dessen Geburtstag wir am 16. November 2022 zum vierzigsten Mal feiern dürfen. Er wusste, an wen er sich dankend zu wenden hat, nämlich an all jene, deren vehementer Arbeitseifer in ideeller wie in materieller Hinsicht diesen Theaterbau in einem entscheidenden Maße überhaupt erst ermöglicht hatte. Und das nicht zum ersten Mal in der Geschichte, nein, die Geschichte des Heilbronner Theaterlebens lässt sich nicht ohne die Geschichte seiner außergewöhnlich engagierten Bürgerschaft erzählen, die nicht etwa ein neues, sondern vielmehr alledrei zentralen Theaterbauten der Stadt – ganz zu schweigen von den unzähligen kleineren Bühnen, die als Übergangsstationen fungieren mussten – mit aufgebaut und mitgestaltet hat. Und Klaus Wagner wusste ebenso, auf wen er sich auch im schlimmsten Falle bittend verlassen kann: auf all jene, die in lebendiger Partnerschaft mit dem Theater gemeinsam das Bühnengeschehen dieser Stadt gestalten sollten.
Man sagt, dass der Schwabe mit dem Eintritt ins Schwabenalter, also mit vierzig Jahren, g’scheit würde. Nehmen wir also den vierzigsten Geburtstag des Theaterneubaus zum Anlass, zurückzublicken und zu prüfen, ob der vermeintliche Spätzünder wirklich erst jetzt ins Alter vernünftiger Reife eintritt – oder ob er nicht vielmehr, trotz des »Theaters um das Theater«, das integraler Bestandteil seiner Geschichte ist, schon weitaus früher weise war: Vor allem dann, wenn das Theater wagte, in dankende, bittende, sich gegenseitig fordernde und fördernde Beziehung mit seinem lebendigen Partner, der Heilbronner Bürgerschaft, zu treten.
Ein historischer Blick zurück, der immer auch ein lehrreicher Blick in die Zukunft sein kann.
Text und Recherche: Clemens Miersch Fotoauswahl und Recherche: Kea Leemhuis, Rebekka Gogl
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Heilbronn kann zurückblicken auf eine bis ins späte Mittelalter zurückreichende Theatertradition, die hier nur schlaglichtartige Betrachtung anhand der drei zentralen Bauten der Heilbronner Theatergeschichte – des Aktientheaters, des Fischer-Theaters und des Theaterneubaus am Berliner Platz – erfahren kann. Wurde Theater hier anfangs vor allem durch die Kirchen und die Zünfte belebt, gastierten spätestens seit dem Dreißigjährigen Krieg viele Wanderschauspieltruppen in Heilbronn, die sich zunehmend und gegen das Misstrauen der Obrigkeit in der Stadtgesellschaft etablieren und der Bevölkerung Bühnenkunst bieten konnten. Entscheidend zur Entwicklung der Theatergeschichte in Heilbronn trug die Erweiterung der Stadt nach Osten bei: Der Heilbronner Bürger Carl Christoph Braunhardt legte im Jahre 1817 jenseits der Stadtmauer – dort, wo sich heute die Harmonie befindet – einen Biergarten an, der 1819/20 um einen Gartensaal erweitert wurde. Dieser wurde zu einer wichtigen Spielstätte für die Wanderbühnen. In der Folge kauften die Bürgerschaft und die Stadt mit aus Aktien gewonnenem Kapital dieses Anwesen. Für Theaterkunst allerdings waren die baulichen Verhältnisse unzulänglich und so wurde erstmals der Ruf nach dem Bau eines Theatergebäudes laut, der an der Westseite des Aktiengartensaales erfolgen sollte. Im Jahre 1842 wurde die Stadt Heilbronn ersucht, diesen Bau nicht nur zu genehmigen, sondern auch finanziell mit zu stemmen. Gleichwohl der Stadtrat das Bauvorhaben genehmigte, stellte sich die Obrigkeit gegen eine Subventionierung vonseiten der Stadt. Erstmals in der Geschichte des Heilbronner Theaterlebens wird in ganz besonderem Maße deutlich, was immer wieder entscheidender Einflussfaktor sein sollte: das besondere Engagement der Heilbronner Bürgerschaft, wenn es darum geht, Theater als notwendigen infrastrukturellen und ideellen Bestandteil ihrer Stadtgesellschaft zu etablieren und zu bewahren. Selbst nach Absage finanzieller Unterstützung durch die Stadt ließen sich die Bürgerinnen und Bürger nicht von dem Vorhaben abbringen. Sie kauften die Anteile der Stadt am Aktiengarten auf und übernahmen den Betrieb in ihre Hände. Damit räumten sie den Weg frei für die Genehmigung des Theaterbaus. Am 9. November 1844 wurde das Aktientheater schließlich eingeweiht. Hier konnte nicht nur eine Intendanz und ein festes Ensemble etabliert werden. Schauspiel-, Opern- und Operettenaufführungen sorgten für regen Publikumsverkehr und Heilbronn gewann nach und nach den Ruf, über ein herausragendes Stadttheater zu verfügen. Regelmäßigkeit kehrte in den Folgejahren in das Theatergebäude ein. Doch schnell wurde auch klar: Der Theaterbau, nun »Rumpelkasten« genannt, reichte in architektonischer Hinsicht nicht mehr aus, um den Ansprüchen neuzeitlicher Theaterkunst gerecht zu werden. Aus Brandschutzgründen wurde das Aktientheater 1903 geschlossen. Die das Gebäude verwaltende Harmonie-Gesellschaft konnte den Bau aufgrund hoher Kosten nicht selbstständig renovieren. So ging das Theater schließlich wieder in städtische Hand über. Doch der bereits im Jahre 1902 entstandene Wunsch nicht nur nach einem Umbau, sondern nach einem Theaterneubau, scheiterte vor allem am mangelnden Geld.
Im Mai des Jahre 1908 ruft der damalige Oberbürgermeister Paul Göbel schließlich zu Stiftungen und Darlehen für die Realisierung eines neuen Baus auf. Innerhalb kürzester Zeit sind 500 000 Mark zusammengetragen. Wiederum wird die enorme Spendenbereitschaft der Bevölkerung sichtbar. Selbst als die kalkulierten Kosten während der Bauphase nach oben korrigiert werden mussten, scheute man nicht zurück und auch die nun notwendigen 625 898 Mark werden zusammengetragen. »Erbaut von der Bürgerschaft 1912/1913« sollte am Ende ganz treffend die Inschrift am Theaterneubau lauten. Der Bau nach den Entwürfen des Architekten Theodor Fischer konnte beginnen: Am 9. Mai 1912 erfolgte die Grundsteinlegung; am 30. September 1913 wurde das Haus eingeweiht. Ihm sollte jedoch eine viel zu kurze Geschichte beschert sein: Nur 31 Jahre sollte es als Schauspielhaus dienen und dann sein Dasein gute 26 Jahre weitgehend als Ruine fristen. Nicht nur der im Jahre 1914 beginnende Erste Weltkrieg markierte eine Zäsur. Auch die Machtübernahme der Nationalsozialisten und der damit einhergehende Zweite Weltkrieg ließen die Blütejahre der Zwischenkriegszeit, die man am Fischer-Theater erlebte, verblassen. Am 28. Juni 1944 erfolgte die letzte Vorstellung. »Von jetzt ab gehört ihr mir!« sind die Worte, mit denen NSDAP-Kreisleiter Richard Drauz die Theatermacher im Anschluss an die »Nabucco«-Vorstellung zur Kriegsdienstpflicht ruft.
4. Dezember 1944, 19:22 Uhr: »Come in and bomb red TI’s as planned« – »Fliegen Sie ein und bombardieren Sie die roten Zielmarkierer nach Plan«. Der Funkspruch von Maurice A. Smith befiehlt die Bombardierung Heilbronns. 1260 Tonnen Bomben fallen und verursachen einen Vernichtungsgrad der Stadt von 62 Prozent. Auch wenn das alte Fischer-Theater die Luftangriffe vergleichsweise glimpflich überstand, unbrauchbar für den Spielbetrieb wurde es dennoch. Damit kündigte sich bereits eine lange Phase des Theaterspiels in Provisorien und Übergangsbauten wie auch des jahrzehntelangen »Theaters um das Theater« an. Auch wenn die Sehnsucht nach Theater die Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg schnell wieder ergriff und sich auch in konkreter Arbeit realisierte – zum Teil unter widrigen, aber auch die Kreativität notgedrungenermaßen beflügelnden Bedingungen, die der Qualität des Theaters nicht zwangsläufig einen Abbruch taten –, der Streit um die baulichen wie finanziellen Bedingungen eines Neu- oder Wiederaufbaus sollte sich vom Zeitpunkt der Zerstörung des Fischer-Theaters im Jahre 1944 bis zur Eröffnung des Theaterneubaus am 16. November 1982 beinahe so lange ziehen, wie wir heute Geburtstag des Neubaus feiern.
Bereits am 1. November 1945 gab das Heilbronner Künstlertheater, das vorrangig aus Mitgliedern des alten Stadttheaters bestand, im neubezogenen Trappensee-Saal seine erste Vorstellung. Die Tatsache, dass Brennholz als Eintrittspreis diente, verdeutlicht beispielhaft die missliche Lage kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Lange sollte der Trappensee-Saal auch nicht als Spielstätte dienen können: Das Theater musste einer Schule und Filmvorführungen weichen. In der Folge bezog das Theater den Saalbau »Zur Sonne« in Sontheim. Die Zuschauergunst minderte dies keineswegs. Ganz getreu dem damaligen Spielzeitmotto »Und neues Leben blüht aus den Ruinen« kamen in unmittelbarerer Nachkriegszeit allein in der ersten Spielzeit 75 202 Besucher, um eine der 214 Vorstellungen zu sehen. In den folgenden Jahren wandelte sich das Heilbronner Künstlertheater zum Neuen Theater Heilbronn. Doch auch im Sontheimer Provisorium endete am 2. April 1949 der Theaterbetrieb. So ganz ohne Theater wurden nun erneut die Stimmen lauter, die die Neugründung eines Theaters wünschten und die Hoffnung auf einen Wiederaufbau des alten Stadttheaters hegten. Auf der Suche nach weiteren Übergangsspielstätten trat eine Gruppe Theaterbegeisterter 1951 schließlich an den Ortsausschuss des Deutschen Gewerkschaftsbundes heran: Denn der große Saal des Gewerkschaftshauses war eine der wenigen verbliebenen, für Theateraufführungen geeigneten Räumlichkeiten. Der DGB gestand den Theaterenthusiasten sowohl Mittel wie Räumlichkeiten zu, die man – neben weiteren kleinen Ausweichbühnen – lange Jahrzehnte bespielten sollte. Der hohe Zuschauerandrang führte schließlich zur Gründung des Vereins »Kleines Theater Heilbronn e.V.« Der Spielplan wurde diverser; Gastspiele konnten gegeben werden. Zur Spielzeit 1954/55 wurde Walter Bison Oberspielleiter des Theaters, der ab der Spielzeit 1956/57 Intendant werden und die kommenden Jahrzehnte bis 1980 entscheidend prägen sollte.
Und das alte Fischer-Theater am Nordende der Allee? Entsprechend finanziellen Möglichkeiten lediglich teilweise wieder instandgesetzt, diente es als Probenort für das »Kleines Theater Heilbronn e.V.«, vorrangig aber auch als eine Unterkunft für die städtischen Ämter. Bereits 1952 forderten Mitglieder des Kleinen Theaters die Kommunalpolitik zum Wiederaufbau des Alten Theaters auf: Während eines Spektakels geisterten sie in den Trümmern des zerstörten Hauses und begannen symbolisch mit dem Wiederaufbau. Doch nicht nur ihre Stimmen wurden in den folgenden Jahren von Gemeinderat und Stadtverwaltung nicht gehört. Auch gegenüber einem Großteil der Bevölkerung, der sich einen Wiederaufbau wünschte, blieb man zunächst taub. Zunehmend entwickelte sich jedoch das Bewusstsein für die Frage nach einer Wiederbelebung eines zentralen Theaterbaus in der Stadt. Auch die kursorische Berichterstattung öffentlicher Medien wie der Heilbronner Stimme schärfte darauf ein. Unter diesem Druck gestand 1958 der damalige Oberbürgermeister Paul Meyle: »Der Wiederaufbau des Theaters kann nicht länger aufgeschoben werden.« Doch dem prinzipiellen Einverständnis des Gemeinderats musste er schon im Folgejahre entgegenhalten, dass kein für einen solchen Bau hinlänglich erfahrener Architekt gefunden werden konnte.
1960 nahm man schließlich zum auf Theaterbauten spezialisierten Hannoveraner Architekten Gerhard Graubner Kontakt auf. Ortsbesichtigungen der Ruine sowie die Erstellung eines Gutachtens erfolgten, das Graubner Mitte 1961 dem Gemeinderat vorstellte. Er sprach sich gegen einen Wiederaufbau aus und lieferte stattdessen das Modell für einen Theaterneubau an gleicher Stätte. Die FDP-Fraktion durchkreuzte diese Pläne und brachte einen anderen Standort am Bollwerksturm ins Rennen, was heftige Debatten zwischen ihr und der für den alten Platz am Nordende der Allee kämpfenden SPD lostrat. Freie Wähler, Christdemokraten und Liberale setzten sich schließlich 1962 gegen den Oberbürgermeister und die SPD durch: Graubner erhält keinen Planungsauftrag für den Bau – eine Entscheidung, die nur geringe Zeit später gekippt werden sollte. Ein kommunalpolitisches Hin und Her verzögerte die Entscheidung bis zur Vergabe des Planungsauftrags an Graubner Ende 1962. Kostenschätzung damals noch: 10,8 Millionen Mark. Doch einem zeitnahen Bau-, geschweige denn Spielbeginn erteilte Baudezernent Karl Nägele eine klare Absage. Absagen, die sich auch in den folgenden Jahren wiederholen sollten, und den Baubeginn stetig vertagten. Weitere Planungsentwürfe folgten: Einer inzwischen sowohl den Abbruch, die Außenanlagen und die Tiefgarage umfassenden 22,3-Millionen-Mark-Version folgte 1966 der abgespecktere 15,8-Millionen-Mark-Entwurf Graubners. »Ein guter Plan, aber für die Schublade«, so der Stadtrat der Freien Wählervereinigung Willy Schwarz. Im Jahre 1967 befeuerte erneut eine Umfrage der Heilbronner Stimme die Debatte, die ergab, dass eine klare Mehrheit der Befragten für einen Wiederaufbau und weniger für die Realisierung des Graubner-Baus votiere. Dem hielt Oberbürgermeister Hans Hoffmann entgegen: »Die Politik der Gemeinde sollte im Rathaus und nicht im ‚Heilbronner-Stimme‘-Haus gemacht werden!« Den ungebremsten Enthusiasmus der Heilbronner Bürgerschaft, in den Jahrzehnten nach dem Kriegsende bis zum schlussendlichen Neubau unermüdlich Spenden zu sammeln sowie Vereine und Initiativen zu gründen, die sich dem Ziel verschrieben hatten, ein eigenes Stadttheater fest im Stadtbild zu etablieren – etwa den Theater-Förder-Verein im Jahre 1968 unter Vorsitz des Kulturbürgermeisters Erwin Fuchs – , schmälerte dieses Politikdrama zu keiner Zeit. Bis November 1982 sammelte allein der Theater-Förder-Verein 2,6 Millionen Mark für einen neuen Theaterbau.
Im Jahre 1969 erfolgte dann per Gemeinderatsentscheidung die Auftragsvergabe an Gerhard Graubner. Der Weg zum Abriss des Alten Theaters war endgültig freigeräumt: Am 18. Juli 1970 um 16:40 Uhr wurde der Fischer-Bau gesprengt. Weit über 1000 Schaulustige erlebten, wie das Gebäude zu einem riesigen Schutthaufen zusammensackte. »Eine Stunde der Wehmut«, konstatierte der unermüdlich für das Theater kämpfende Bürgermeister Erwin Fuchs. Die Sprengung des alten Gebäudes blieb umstritten, der Wiederaufbau keine Option mehr. Und auch die weitere Planung und Umsetzung des Neubaus sollte noch die ein oder andere städteplanerische Hürde nehmen und viel kommunalpolitischen Zank über sich ergehen lassen müssen. Nur sechs Tage nach der Sprengung des alten Baus folgte die nächste Hiobsbotschaft: Architekt Gerhard Graubner ist tot. Die erneute Verzögerung des Bauvorhabens musste hingenommen werden.
Der Finger lag durchgehend mahnend im Finanzbuch der Stadt: Und so provozierten auch die steigenden Kosten, die Oberbürgermeister Hoffmann inzwischen auf 25 bis 30 Millionen bezifferte, weiter die Ablehnung des Graubnerschen Konzepts vonseiten der FDP, CDU und FWV; die Freien Wähler erhoben gar die Forderung nach einem Bürgerentscheid. Während die beiden Fronten stritten, starb der nächste »Vater« des Graubner-Baus: Thomas Münter, der schon unter Graubner für die Bühnentechnik verantwortlich zeichnete, schied 1972 aus dem Leben. Die weitere Planung oblag nun den beiden Architekten Rudolf Biste und Kurt Gerling.
In den beiden darauffolgenden Jahren legten die Fraktionen jeweils unterschiedliche Alternativkonzepte für den Theaterbau vor: Die CDU wollte kostengünstiger das Gelände der Kelter in der Gymnasiumstraße bebauen, die Freien Wähler das Gelände der Weingärtner-Genossenschaft. Mit den Stimmen der SPD, des Oberbürgermeisters sowie der FDP wird 1974 jedoch der Bau des Graubner-Entwurfs am Berliner Platz vom Gemeinderat beschlossen. Für eine weitere Verzögerung sorgte allerdings die mit der Bauplanung verbundene und 1976 abgesegnete Geradeausführung der Allee auf die Weinsberger Straße. Plötzlich erregte die kolportierte Gesamtkostensumme von 60 Millionen Mark Ärger – erneute Kostenrechnungen und Vorschläge günstigerer Theaterpläne zirkulierten. Ausgerechnet der Oberbürgermeister Hoffmann selbst trat 1977 mit einer neuen Idee eines Theater- und Kongresszentrums Harmonie auf. Der Graubner-Plan sei veraltet. Doch auch er, dafür heftig gescholten, konnte es nun nicht mehr ändern: Die Realisierung des Baus nach den Plänen Graubners – oder nun besser: den Plänen Graubners, Bistes und Gerlings – wird im Dezember 1977 knapp, aber mehrheitlich, beschlossen. Nach jahrzehntelangem Gezeter quittierte nun auch der Widerstand gegen den Theaterneubau. Der letztgültige Baubeschluss erging am 16. November 1978 durch den Gemeinderat; der erste Spatenstich folgte am 28. November 1979 durch Oberbürgermeister Hoffmann. Das Ende des »Theaters um das Theater« markierte bekanntlich die Eröffnung des Neubaus, dessen Geburtstag wir dieses Jahr am 16. November zum vierzigsten Mal feiern dürfen. Endbilanz: 67 285 000 Mark, samt Zusatzkosten; Kosten allein für den Theater-Bau: 54 729 000 Mark.
Hans Viehweg, Schauspieler und Regisseur am alten Stadttheater, nannte die Eröffnung begeistert »ein Jahrhundert-Ereignis.« Margot Winkler, frühere Opern- und Konzertsängerin, meinte: »Heilbronn kann stolz und glücklich sein über so ein Theater.« Zahlreiche von Euphorie getragene Stimmen ließen sich herbeizitieren. Und dennoch: Der Streit um diesen Theater-Neubau und die damit verbundenen gigantischen Geldsummen haben ihre Spuren hinterlassen. Man muss nicht einmal zwischen den Zeilen lesen und auf die Untertöne achten, um neben den zurecht gelösten und erleichterten Kommentaren auch zahlreiche (Er-)Mahnungen und Warnungen bezüglich des weiteren Fortgangs der Arbeit im neuen Stadttheater zu finden. Denn vor allem eines schien dem Theater aus der kostenschweren Realisierung seines Baus zu erwachsen: Verantwortung – in kultureller nicht minder als in ökonomischer Hinsicht. Zwischen Euphorie, Rechtfertigungsbedürfnis und Bringschulderklärung schillert das Vokabular. Intendant Klaus Wagner etwa formuliert: »Für uns, die wir dieses neue Theater verwaltend und gestaltend in die Zukunft führen sollen, ist dieses Theater natürlich nicht nur eine Freude, die wir genießen, sondern auch eine Verpflichtung. Es geht ja darum, nicht die Einmaligkeit, die uns jetzt so viel Interesse und so viele Interessenten beschert, als Erfolg und Ergebnis zu verbuchen, sondern es geht darum, die Zukunft und Normalität zu garantieren.« Unverhohlen gesteht auch Hans Hoffmann: »Eines möchte ich jedoch nicht verhehlen: Die Entscheidung für das heutige Projekt fiel zum Glück noch vor der Talfahrt in die Rezession. Unter den heutigen wirtschaftlichen Verhältnissen, den derzeitigen finanziellen Voraussetzungen, wäre solch ein Beschluss kaum mehr vorstellbar. Wir haben gerade noch rechtzeitig gebaut. Im Glauben an eine gute Zukunft, im Vertrauen auf eine langfristig gesunde Entwicklung.«
In der Tat: Die zweite Ölkrise und die anhaltende Konsolidierungskrise Anfang der 80er Jahre trafen die deutsche Wirtschaft hart. Auch den deutschen Theatern ging es vielerorts an den Kragen: Waren sie nicht unmittelbar von Schließungen oder Stellenabbau bedroht, so mussten sie doch die immer schwieriger werdende Aufgabe bewältigen, »den Balanceakt zwischen Kunst und Kommerz, Nötigem und Erstrebenswertem, Wagnis und Existenzsicherung souverän zu meistern«, wie der Journalist Joachim Schweller die Lage kommentierte. So bestand zumindest die Gefahr, dass hier die »freie Kunst« gegenüber ökonomisch bilanzierbaren Erfolgsquoten ins Hintertreffen gerät. Und in Heilbronn? Da verbuchte man seit Jahrzehnten nicht nur steigende Zuschauerzahlen – von den 1940er- bis zu den 80er-Jahren hatte sich die Zahl der Besucher pro Spielzeit verdoppelt –, sondern auch steigende Zuschüsse vonseiten der Stadt und des Landes. Und dennoch: In der Situation, in der andere Theater krisengebeutelt Klagelieder anstimmten, baute Heilbronn für 60 Millionen Mark ein neues Theater. Vielleicht ist hier auch der Ursprung jener alarmistischen Rhetoriken zu suchen, die sich rund um die Eröffnung in den Kommentarspalten formierten. Deutlich lässt sich da die Forderung herauslesen, man solle nun das politische Schmierentheater hinter sich lassen und sich stattdessen an anständige Theaterarbeit machen, die letztlich langfristig zu überzeugen weiß – eben durch eine dauerhafte Gewinnung und Bindung des Publikums durch kunstfertige Theaterarbeit. Die Ausreden waren nun ohnehin passé: Auf schwierige bauliche Umstände konnte man sich in diesem Haus mit »idealen Arbeitsbedingungen«, so Verwaltungsdirektor Jürgen Frahm, nicht mehr berufen, wenn es darum gehen sollte, Krisen zu rechtfertigen. Dass aber auch der modernste Stand der Technik nicht automatisch über die gelingende programmatische Ausrichtung des Hauses befand, war ebenso klar.
Offensichtlich ist: Mit ungetrübter Freude startete auch die Geschichte des neuen Stadttheaters nicht. »Heilbronn tat und tut sich schwer mit dem Theater«, konstatiert der Journalist und spätere Vorsitzende des Theatervereins Heilbronn Uwe Jacobi. »Und trotzdem wurde und wird es geliebt. Sonst wäre die kulturelle Tat, einen solchen Neubau auf den Berliner Platz zu stellen, nicht möglich gewesen.« Nun sei die Bevölkerung gefordert, »das Theater als ihr Theater anzunehmen«, so Erwin Fuchs. Auf die andere Seite dieser Wahrheit verweist Uwe Jacobi in der Heilbronner Stimme: »Nach den Bürgern«, die in vielfältiger Hinsicht diesen Bau ja überhaupt erst ermöglicht hatten, »ist es nun am Theater, zur kulturellen Tat zu schreiten.« Man wird es als lohnenswert zu wiederholenden Gemeinplatz werten können, dass die Entwicklung eines Theater nie ein Einbahnstraßenverkehr ist. Sie besteht nur in und durch das dynamische Miteinander sich gegenseitig ansprechender und anregender Partner. Vonseiten des Theaters hat man demnach vielleicht nicht in erster Linie zu beweisen, dass das Haus »sein Geld wert ist«. Vielleicht hat man in erster Linie dem Publikum, der Bevölkerung, die eben so viel Geld in die Hand genommen hat, um ein eigenes Theater in ihrer Stadt zu etablieren, etwas zu bieten, was man für Geld nun mal nicht kaufen kann, gleichwohl Geld dafür vonnöten sein wird; etwas, was nur Theater bieten kann, nämlich, eine genuine neue ästhetische Erfahrung zu machen. Das bedeutet sicher nicht, dem Publikum nach dem Mund zu reden, sondern es auch zu fordern. Das bedeutet aber sicherlich, das Publikum – vor allem ein Publikum, das, wie das Heilbronner, so persistent am Gedanken eines eigenen Theaters festgehalten hat und festhält, es nicht minder gefordert wie tatkräftig gefördert hat – ernst zu nehmen, es zu erheitern, zu unterhalten, seine existentiellen Erfahrungen in theatrale Bilder zu überführen und zu befragen. Ein Blick zurück auf die letzten 40 Jahre – zu dem wir Sie herzlich einladen – muss erweisen, wie das dem Theater Heilbronn gelungen ist. Man wird jedoch den Gedanken nicht los, dass die vermeintlich mit dem vierzigsten Lebensjahr einsetzende Vernunft dem Theater Heilbronn in lebendiger Partnerschaft mit seiner Bürgerschaft schon weit vorher beschieden war.
Es gibt einen Text von Walter Bison anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Heilbronner Volkbühne mit dem Titel »Die Bedeutung«, der immer noch so heutig und hellsichtig ist, dass er es verdient gehabt hätte, hier in Gänze zitiert zu werden. Bison schreibt darin: »Wie oft wurde das Theater totgesagt, wie oft wurde ihm der Untergang prophezeit. Wenn man das Theater zerstören könnte, so wäre es in den Bombennächten, wie die Mehrzahl seiner Gebäude, zugrundegegangen. Es lebte weiter, noch ehe seine Häuser, wie heute in fast allen Theaterstädten, wieder aufgebaut waren. Es fand zu neuen Formen in Zimmern und Scheunen. Das geschah nicht allein, weil das Verlangen nach Unterhaltung und Zerstreuung nicht zu unterdrücken ist, […] es geschah vor allem, weil im Theater von jeher ein Gesetz waltet, das wesenhafte Schichten des Menschen anspricht und sich aus tieferen Quellen tränkt. Unbeirrbar, immer seinem Ursprung treu, ruft das Theater zur Besinnung, zur Selbsterkenntnis, zum Geist. Es ruft heute in eine Zeit hinein, die berstend voll ist von verwirrenden, kaum greifbaren technischen Dingen, von Entwicklungen, Entdeckungen, deren Ziel der Mitlebende kaum begreifen kann und immer mehr zu fürchten lernt. Auch in dieser Zeit ruft das Theater wie durch die Jahrhunderte: ›Mensch, verliere Dich und Dein Wesen nicht!‹« Bison wusste nicht minder als die Heilbronner Bevölkerung: »Die enge Beziehung, die innere Bindung zum Menschen und zum Menschlichen macht das Theater zum geistigen Mittelpunkt einer Stadt.«