Von der Suche nach einem Rezept für Reichtum und Glück

Kai Tietje und Thomas Winter haben die legendäre Kabarett-Revue »Wie werde ich reich und glücklich?« aus dem Jahr 1930 für Heilbronn wiederentdeckt

von Sophie Püschel

Lennart Olafsson, Eve Rades; Foto: Rebekka Gogl

Wer wäre nicht gern reich und glücklich? Das denkt sich auch der mittellose Kibis, der im Zentrum von Felix Joachimsons und Mischa Spolianskys Kabarett-Revue »Wie werde ich reich und glücklich?« steht, die 1930 zum Publikumsschlager avancierte und ein Jahr später fürs Kino verfilmt wurde. Denn neben einer turbulent-heiteren Geschichte mit allerhand unerwarteten Wendungen und einem Reigen an liebenswert-skurrilen Figuren, bietet die Revue auch Lieder mit Ohrwurmgarantie, die der musikalische Leiter Kai Tietje eigens für die Heilbronner Inszenierung arrangiert hat. Neben dem siebenköpfigen Ensemble werden insgesamt 13 Musikerinnen und Musiker das Publikum in die (musikalische) Welt der späten 20er-Jahre entführen. Für das optische Flair sorgt der Bühnen- und Kostümbildner Toto mit aufwendigen Kostümen im Stil der Zeit sowie einer verblüffenden Bühnenlösung, die den Blick freigibt auf das schwindelerregende Berliner Großstadt-Labyrinth.

Berlin 1930: Der arbeitslose Kibis (Lennart Olafsson) lebt auf Pump und schlägt sich mehr schlecht als recht durchs Leben. Gerade als ihm sein Vermieter wegen Zahlungsversäumnissen mit der fristlosen Kündigung droht, erreicht ihn der Ratgeber von Dr. C. M. Pausback mit dem verheißungsvollen Titel »Wie werde ich reich und glücklich?«, der die Lösung all seiner Probleme in nur wenigen Schritten verspricht. Auch im Briefkasten der wohlhabenden Marie (Eve Rades) landet der besagte Ratgeber, den sie aufmerksam studiert. Während sich Kibis nichts dringlicher wünscht, als mit Hilfe der Pausback’schen Leitsätze dem sozialen Elend zu entfliehen und endlich frei von finanziellen Sorgen zu sein, sehnt sich die vom Luxus gelangweilte Marie nach dem Glück. Im unbekümmerten Leben der jungen Frau dreht sich alles um Mode, Beauty und Lifestyle. Doch sie spürt, da muss es noch mehr geben! Die akribische Befolgung der Leitsätze führt Kibis und Marie schließlich zusammen. Beide erkennen, dass sie einander für den erfolgreichen Abschluss des Ratgeber-Kurses benötigen, weshalb sie Hals über Kopf heiraten. Kibis ist reich und Marie ist glücklich, oder? Anders als man erwarten könnte, endet die Handlung an dieser Stelle nicht, sondern nimmt erst richtig an Fahrt auf. Oder um ein Lied der Revue beim Wort zu nehmen: »Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt … «
Denn Maries Vater, der pragmatische Automobil-Warenhaus-Besitzer Regen (Stefan Eichberg), hat in dieser Geschichte ebenso ein Wörtchen mitzureden wie auch Kibis’ patente Jugendfreundin Lis (Sarah Finkel) und Regens dauergestresster Branchenfreund F. D. Lohrenz (Arlen Konietz). Durch die turbulentüberraschende Handlung führen in der Inszenierung von Thomas Winter die beiden Conférenciers Oliver Firit und Juliane Schwabe, die an diesem Abend in insgesamt 14 Rollen
schlüpfen werden.

Mitten in der Weltwirtschaftskrise, die die Weimarer Republik im Mark erschütterte, treiben Felix Joachimson und Mischa Spoliansky mit ihrer Kabarett-Revue das Credo, dass jeder selbst seines Glückes Schmied und sozialer Aufstieg für jeden möglich ist, satirisch auf die Spitze. Ihr augenzwinkerndes Rezept für Reichtum und Glück ist ganz im Sinne der modernen Konsumgesellschaft nicht in der Bibel, sondern in einer Reklamebroschüre zu finden. Gerade in Zeiten wirtschaftlicher und politischer Krisen erfreut sich die Ratgeber-Literatur, die einfache Antworten auf komplexe Fragen bietet, besonderer Beliebtheit – damals wie heute.

Ob die Leitsätze von Dr. Pausback tatsächlich zu Reichtum und Glück verhelfen, erfahren Sie ab dem 9. März 2024 im Großen Haus.

Zur Stückseite von »Wie werde ich reich und glücklich?« gelangen Sie HIER

Suche nach Liebe und Erkenntnis

»Die Zauberflöte« kommt als Inszenierung des Pfalztheaters Kaiserslautern ins Große Haus

von Silke Zschäckel

Foto: Andreas J. Etter

»Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« Dieser Leitsatz von Immanuel Kant ist dem Programmheft zur Oper »Die Zauberflöte« vorangestellt, mit der das Pfalztheater Kaiserslautern ab dem 16. März 2024 für acht Vorstellungen im Theater Heilbronn gastiert. Denn nichts anderes als den Weg zur eigenen Erkenntnis durch das Überwinden jeglicher ideologischer Beeinflussung beschreitet
Prinz Tamino, um am Ende seine Pamina für sich zu gewinnen.

Tamino erhält von der Königin der Nacht den Auftrag, ihre Tochter Pamina aus dem Reich ihres Widersachers Sarastro zu befreien. Als Tamino das Bildnis der Prinzessin sieht, verliebt er sich augenblicklich in sie und willigt in den Auftrag ein. Er wird von dem vorwitzigen Vogelhändler Papageno begleitet und bekommt zum Schutz vor Gefahren eine Zauberflöte. Den beiden gelingt es, in den Tempel der Eingeweihten einzudringen. Hier begreift Tamino allerdings, dass Sarastro keineswegs der Bösewicht ist, als den die Königin der Nacht ihn beschrieben hat. Und so stellt er sich vielen Prüfungen und Gefahren, um die Hand Paminas zu gewinnen. Die italienische Regisseurin Pamela Recinella sieht die Suche nach Wissen und neuen Erkenntnissen als endlose Lebensaufgabe und die Fähigkeit »eines jeden Tamino und einer jeden Pamina unserer Gesellschaft, die Unwahrheit zu entlarven« als große Herausforderung.

Mozarts wunderschöne Musik macht »Die Zauberflöte« immer wieder zu einem Bühnenereignis. Die Charakterisierung der Figuren wird mehr durch die Musik als durch ihre Worte erreicht. Mozart komponierte volkstümliche Lieder für Papageno, barocke Arien für die Königin der Nacht, klangvolle Chöre für die Priester Sarastros, eine schlichte und klare Melodik für Sarastro selbst und beseelte Arien für Tamino und Pamina. So ist und bleibt »Die Zauberflöte« die Lieblingsoper der Deutschen mit einen unangefochtenen Spitzenplatz in den Aufführungsstatistiken.

Auf diesen Erfolg hatte Emanuel Schikaneder, seinerzeit Direktor des Freihaustheaters in Wien, insgeheim gehofft, als er seinen Freund Wolfgang Amadeus Mozart 1791 beauftragte, eine Oper von großer Zugkraft zu komponieren, die ihm sein 1000 Plätze fassendes Haus füllen sollte. Schikaneder selbst lieferte das märchenhafte Libretto dazu.

Das Kalkühl des Theaterdirektors ging voll und ganz auf: Am 30. September 1791 war die Uraufführung, die Mozart selbst vom Klavier aus dirigierte. Emanuel Schikaneder führte Regie und stand in der Rolle des Papageno auf der Bühne.

Allein bis Ende des Jahres 1791 wurden 35 Vorstellungen gespielt, die alle ausverkauft waren. Mozart selbst hatte nicht mehr viel vom Erfolg seiner Oper, er starb sieben Wochen nach der Uraufführung. Für Schikaneder hingegen brach ein goldenes Jahrzehnt an – zumindest finanziell. 1801 baute er von den Einnahmen ein neues Theater, das heute noch existierende Theater an der Wien. Als Librettist sollte er zu Lebzeiten aber kaum Anerkennung erfahren. Sein Name wurde bei vielen weiteren Aufführungen, 1794 wurde »Die Zauberflöte« schon an 27 Theatern gespielt, einfach nicht genannt. Zu profan sei die Geschichte, kritisierten Rezenten. Schikaneder indes hatte nie ein Hehl aus seinen Absichten gemacht: »Ich schreibe fürs Vergnügen des Publikums, gebe mich für keinen Gelehrten aus.« Dass »Die Zauberflöte« aber so viel mehr ist, als ein reines Vergnügen, macht sie unsterblich.

Zur Stückseite von »Die Zauberflöte« gelangen Sie HIER

Warum es sich zu leben lohnt!

Nicole Buhr inszeniert das preisgekrönte Jugendstück »Und alles« von Gwendoline Soublin für Jugendliche ab 12 Jahren

von Katrin Aissen

Foto: Verena Bauer

Eine Welt voller schlechter Nachrichten – der zwölfjährige Ehsan ist News-Junkie. Täglich zieht er sich sämtliche Zeitungs-, Fernseh- und Internetnachrichten rein und langsam hat er es satt: Die Polkappen schmelzen, Kriege überall, Bomben, Attentate, eine zunehmende Vereinsamung großer Bevölkerungsschichten, drohender Klimakollaps und die Superreichen feiern Partys auf ihren Yachten – einfach nur »Trash oder Tragödie«. Und niemand scheint wirklich etwas dagegen unternehmen zu wollen.
Allein mit seinen Gedanken verlässt Ehsan kaum noch sein Zimmer.

Doch eines Tages ist er plötzlich weg. Er hat einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem er schreibt, er wolle nicht in einer hoffnungslosen Welt leben. Seine achtjährige Schwester Chalipa und die 13-jährige Sam, die eigentlich ein bisschen auf die beiden aufpassen soll, solange der Vater verreist ist, sind entsetzt. Ratlos überlegen sie, wohin Ehsan verschwunden sein könnte – bis der kleine Nachbarsjunge Nelson auftaucht und auf die Luke des Bunkers deutet, den Chalipas und Ehsans Vater im Garten angelegt hat. Oh je, wahrscheinlich hat sich Ehsan in den Bunker zurückgezogen! Und der ist, wenn der Eingang zu ist, nur von innen zu öffnen. Was ist zu tun? Ist Ehsan wirklich da unten?

Chalipa versucht anhand von Ehsans Tagebuch zu rekonstruieren, was passiert ist, und Sam ruft ihren Freund Salvador zur Hilfe. »Ihr müsst die Polizei rufen!«, fordert Salvador aufgeregt, doch Sam hat Angst als Babysitterin zur Verantwortung gezogen zu werden. Auch eine Benachrichtigung des Vaters von Chalipa und Ehsan kommt für Sam aus diesem Grund nicht in Frage. Also was nun? Als gebrüllte
Drohungen nichts helfen: »Wenn du nicht rauskommst, dann kommt die Feuerwehr und bohrt deine Panzerwand auf, und dann stehst du blöd da – wie eine Maus, die in ihrem eigenen Loch in der Falle hockt!«, braucht es eine neue Strategie. Alle versuchen, sich in Ehsan hineinzudenken. Was hat ihn
bewogen, zu verschwinden? Sind es wirklich die trüben Zukunftsprognosen, oder hat sich Ehsan vielleicht in den Bunker zurückgezogen, um sein Wissen für eine erfolgreiche YouTube-Karriere zu nutzen? Eher unwahrscheinlich. Dann schon eher der miserable Zustand der Welt … Doch ist die Zukunft wirklich so düster? Und schon sind die vier mitten in einer intensiven Diskussion über ihre Ängste, Wünsche und ihre Sicht auf die Menschheit. Da haben Sam und Salvador plötzlich eine raffinierte Idee, um Ehsan aus dem Bunker zu locken. Sie rufen vor der Eingangsluke kleine positive Nachrichten: »Im Frühjahr kommt das neue Album von Shakira heraus!«, »Morgen werden es 22 Grad!« und entwickeln ganz eigene Zukunftsutopien: »Krebs haben wird sein, wie wenn man jetzt sagt: Ich hab Schnupfen!«, »Irgendwann lassen wir uns Flügel annähen, um aus der Krise herauszukommen und dann machen wir eine Reise auf die Bahamas!« Und jeder erzählt aus seiner persönlichen Sicht, warum es sich zu leben lohnt. Doch Ehsan bleibt verschwunden, denn er hat längst andere Pläne und nimmt das Heft des Handelns selbst in die Hand …

Gwendoline Soublin hat ein wunderbar leichtfüßiges wie existenzielles Stück über die Sicht von Kindern und Jugendlichen auf unsere heutige Welt geschrieben. Konsequent aus der Sicht der jungen Protagonisten verfasst, mit geschliffenen Dialogen und einer gehörigen Portion Optimismus macht das
Stück Mut zum eigenen Engagement – unabhängig von Alter und Lebensumständen.

Zur Stückseite von »Und alles« gelangen Sie HIER

»Gott wartet an der Haltestelle« – ein Interview mit Maya Arad Yasur

Interview und Übersetzung von Dr. Mirjam Meuser
Tel Aviv, 08. Januar 2024

Foto © Candy Welz

Wann ist »Gott wartet an der Haltestelle« entstanden?

Ich habe »Gott wartet an der Haltestelle« 2013/14 geschrieben, direkt nach meiner Rückkehr aus den Niederlanden, wo ich sieben Jahre gelebt hatte. Die Premiere der Uraufführung fand 2014 am Habima Theater Tel Aviv statt, dem israelischen Nationaltheater – direkt nach dem Gaza-Krieg von 2014.

Hast Du das Stück mit einer bestimmten Intention geschrieben?

Es war ein Auftragswerk. Das Habima Theater war damals Mitglied der Union des Théâtres de l’Europe (UTE), die ein Projekt zum Thema »Terrorisms« initiiert hatte, an dem sich alle sechs Mitgliedstheater weltweit beteiligten: das Habima in Tel Aviv, ein Theater aus Reims in Frankreich, das National Theatre in Oslo, ein Theater aus Belgrad. Zu Beginn war sogar ein Theater aus Palästina Teil des Projekts, doch nach Druck aus dem BDS-Umfeld zog sich der Autor dort von dem Projekt zurück. Die Ausschreibung war offen und wir waren sehr frei in unserer Herangehensweise. So beschloss ich, über die zweite Intifada (2000–2005) zu schreiben, die 2002 einen Höhepunkt erreichte. Ich war damals Studentin in Jerusalem, wo etwa dreimal wöchentlich Bomben in Bussen und Restaurants explodierten. Ich lebte im Stadtzentrum und hörte all die Detonationen der großen Anschläge und die Sirenen der Krankenwagen. Glücklicherweise war ich selbst nie betroffen, aber die Angst davor war sehr groß. Ich nahm niemals den Bus, stattdessen fuhren wir im Taxi zur Universität. Wir waren in unseren Zwanzigern, und natürlich gingen wir in Cafés und Bars – allerdings immer verbunden mit dem Risiko, nicht mehr nach Hause zu kommen. Als ich also den Auftrag bekam, über »Terrorismus« zu schreiben, wusste ich, dass ich mich mit dieser Zeit befassen wollte, da ich aus persönlicher Erfahrung genau weiß, was Terrorismus bedeutet. Ich denke, dass nicht nur die direkten Opfer, die bei einem Anschlag ums Leben kommen, oder deren Familien Opfer des Terrorismus sind, sondern dass es eine Art kollektives Opfertum gibt, weil es der Sinn des Terrorismus ist, dass die Menschen in Furcht davor leben, was passieren könnte. Das ist zwar nicht das Hauptthema des Stücks, aber es ist das, wofür der Chor in »Gott wartet an der Haltestelle« steht.

Gab es ein bestimmtes Ereignis, das Dich auf Thema und Struktur des Textes gebracht hat?

Es gab 2003 in Haifa einen ganz bestimmten terroristischen Anschlag in einem Restaurant mit Namen »Maxim«, auf den ich mich beziehe, auch wenn ich kein Dokumentartheaterstück über dieses Ereignis geschrieben habe. Ich habe mich stark auf dieses Attentat gestützt, obwohl ich auch zusätzliches Material von anderen Terroranschlägen verwendet habe, um einen nuancierten Blick auf alle Aspekte des Themas zu erhalten. Das Attentat in Haifa war aber der zentrale Ausgangspunkt.

Warum hast Du diese spezifische Form für den Text gewählt?

Wahrscheinlich beziehst Du Dich mit der Frage auf die Tatsache, dass wir von der ersten Szene an um die Explosion der Bombe wissen und dann in der Zeit zurückwandern, um herauszufinden, wie wir an diesen Punkt gelangt sind. Auf diese Weise wollte ich den Mechanismus von Hass, Rache and Gewalt in seine Einzelteile zerlegen. Ich wollte herausfinden, wie man diesen fatalen Kreislauf neutralisieren kann. Dafür brauchte ich zunächst die Annahme, dass die Tat geschehen ist, um danach sorgfältig alle Schichten abtragen und an jeder Abzweigung untersuchen zu können, was die Rädchen in dem Mechanismus antreibt. Wie könnte man ihn aufhalten, wer hätte eine andere Entscheidung treffen können?

Wie wurde das Stück in Israel aufgenommen?

Das Habima Theater in Israel hat das Stück sehr wohlwollend aufgenommen, sowohl das Publikum als auch die Kritiker. Es war damals nicht üblich – und ist es heute noch viel weniger –, dass sich Theaterautoren direkt mit diesem Thema auseinandersetzen. Es war die Zeit, in der die Art von Regierung, die wir heute haben, an die Macht kam. In Israel spielen wir mindestens 30 Aufführungen – das ist bei uns sehr wenig –, und diese Inszenierung wurde sehr schnell vom Spielplan genommen, nach etwa 30 Aufführungen, und das nicht, weil das Publikum nicht gekommen wäre. Das Theater war voll. Erst Jahre später, anlässlich einer Konferenz über Zensur und Theater – denn damals traute ich mich nicht zu fragen –, habe ich herausgefunden, dass das Stück aus politischen Gründen vom Spielplan genommen wurde.

Die Fabel des Stücks erinnert mich immer an eine griechische Tragödie – »Antigone« oder »Elektra« beispielsweise …

Ich bin mir nicht sicher, was Du mit »tragisch« meinst, da man sich damit auf eine ganze Reihe von Dingen beziehen kann. Aber ich würde mich auf Tragödie vielleicht im Sinne Hegels beziehen. Die Hauptfigur versucht etwas Berechtigtes zu tun und verletzt dabei ein anderes berechtigtes Gesetz oder einen Wert. In diesem Sinn, denke ich, dass jeder nationale oder religiöse Konflikt, der mit zwei Gruppen von Identitäten gleich welcher Art zu tun hat, tragisch sein muss. Denn sobald Individuen ihre nationale oder religiöse Funktion ausagieren, müssen sie etwas verletzen, das zu einer darunterliegenden Schicht gehört. Ich glaube, was ich in meinen Stücken immer zu tun versuche, ist, die Schichten der Identität abzutragen, bis ich den Kern des Menschlichen erreiche. In diesem Sinne versuche ich in allen meinen Stücken die Kräfte und Werte der Zugehörigkeit aufzusuchen, die sich gegenseitig widersprechen. Yael in »Gott wartet an der Haltestelle« beispielsweise ist ein Mensch, sie ist eine Frau und sie ist Israelin, sie besitzt also drei Schichten von Gruppenzugehörigkeit. Was sie mit Amal verbindet ist, dass beide Menschen sind und dass beide Frauen sind; was sie trennt, ist, dass Yael eine Israelin ist und Amal eine Palästinenserin. Wenn Yael am Checkpoint steht, muss sie sich also entscheiden, welche Loyalität mit Blick auf die Gruppenzugehörigkeit stärker ist. Sie entscheidet sich für das Mensch-Sein und für das Geschlecht. Dadurch fühlt sie sich mit Amal verbunden. Dann stelle ich diese Entscheidung in Frage, weil sie einen Fehler gemacht hat – und das ist das Tragische daran.

Können wir von der Tragödie heute mit Blick auf politische Konflikte etwas lernen?

Eines der größten Probleme unserer Zeit ist der binäre Diskurs. Man muss sich im Diskurs für eine Seite entscheiden und sobald man sich für eine Seite entschieden hat, hat man sich für eine ganze Reihe weiterer Meinungen mitentschieden, da man nun einer bestimmten ideologischen Gruppe angehört. Das Ergebnis ist ein sehr flacher Diskurs. Und dann passiert, was wir gerade gesehen haben, nämlich dass die Leute einfach »From the River to the Sea« schreien, ohne zu wissen, welchen Fluss und welches Meer sie meinen und welche Konsequenzen ihre Forderung haben würde. Und dass diese Konsequenzen eigentlich ihren humanistischen Werten, den Menschenrechten widersprechen. So wird gegen das eine Töten mit dem Ruf nach einem anderen Töten protestiert, ohne dass sich die Menschen dessen bewusst sind. Es scheint fast, als wären die Menschen nicht mehr im Besitz ihrer eigenen Meinung. Vielleicht sind das nicht die aktuellen politischen Konflikte, nach denen Du gefragt hast, sondern eher die sozialen Herausforderungen, denen wir aktuell gegenüberstehen. Die Oberflächlichkeit des Diskurses ist eine sehr ernste Herausforderung für das Theater und die Kunst im Allgemeinen. Aber besonders das Theater kann diese Minenfelder analysieren und in ihre Einzelteile zerlegen. Es könnte unsere Rolle in der Öffentlichkeit sein, auf die Nuancen, die Ambivalenzen der Konflikte hinzuweisen, und das Erreichen größerer menschlicher Wahrheiten anzustreben.

Wie denkst Du heute über das Stück?

Du weißt ja, dass wir in der zweiten Woche nach dem Massaker vom 7. Oktober Kontakt aufgenommen haben und ich sehr traumatisiert war – wie jeder in Israel. Und dass ich damals dachte, dass es nicht möglich sei, das Stück so aufzuführen, wie es ist. Interessanterweise habt Ihr nicht gleich verstanden, warum. Und das zeigt nur, was ein Trauma mit einer Person macht: Innerlich bricht alles zusammen, das Weltbild eingeschlossen. Zunächst einmal dachte ich, dass es ein sehr schwieriger Zeitpunkt ist, das Stück aufzuführen. Zudem wäre es für mich ein großes Problem, wenn Amal vom deutschen Publikum in einen Zusammenhang mit den Terroristen gebracht würde, die das Massaker verübt haben. Ich würde heute kein Stück schreiben, das nach dem Menschlichen in der unmenschlichen Tat vom 7. Oktober sucht. Wenn ich das täte, würde ich lügen. Es ist sehr wichtig für mich, zumindest zu glauben, dass ich nach Wahrheiten suche. In diesem Fall würde es sich wie eine Lüge anfühlen, überhaupt nach einem menschlichen Aspekt bei diesen Leuten zu suchen. Inzwischen ist Zeit vergangen. Und nach dem langen Dialog, den wir geführt haben, bin ich sehr neugierig, wie wir das in der Inszenierung transparent machen können. Im Moment aber ist es für mich noch zu früh, Deine Frage zu beantworten. Dadurch, dass mehr Zeit vergangen ist und auch angesichts der furchtbar vielen Opfer im Gazastreifen – was für eine ungeheure Zahl von Menschen –, wird es drängender für mich, darüber zu sprechen. Und ich realisiere, wie wichtig es ist, wieder über den Kreislauf der Gewalt zu sprechen und darüber, wie wir ihn stoppen können.

Wann hast Du die»17 Schritte« geschrieben? Worum ging es Dir dabei?

Ich habe die »17 Schritte« etwa sieben oder zehn Tage nach dem Anschlag geschrieben – ich weiß nicht ganz genau wann, da mir das Zeitgefühl in den ersten Wochen nach dem 7. Oktober vollkommen verloren gegangen ist. Wir waren sehr an unsere Häuser und an die Kinder gebunden, mussten einige Male am Tag zum Schutzraum rennen. Es gab nicht wirklich Zeit zum Nachdenken. Das ist tatsächlich eine Frage, die mir oft gestellt wird: Wie konnte ich mich dazu bringen, mich hinzusetzen und zu schreiben? Fakt ist ja, dass ich Dir sehr schnell geschrieben habe, um zu fragen, was wir tun, weil »Gott wartet an der Haltestelle« in diesem Moment vielleicht nicht das richtige Stück sein könnte. Ich hatte das gleiche Problem mit meinem Stück »Bomb«, das hier in Israel im Juni Premiere haben sollte. Ich dachte, dass es nicht möglich wäre, im nächsten Juni hier über Bombardements aus der Luft und deren Konsequenzen zu diskutieren, weil für lange Zeit niemand etwas darüber hören wollen würde. Anhand der Tatsache, dass ich gerade nicht mehr hinter meinen alten Stücken stehe, habe ich aber auch gemerkt, dass mit mir etwas passiert ist. Wie kann ein Ereignis eine Weltsicht so dramatisch verändern? So habe ich begriffen, dass das ein Trauma ist. Und um mich meiner selbst zu erinnern, habe ich den Text geschrieben, weil ich weiß, dass meine Stücke genau danach suchen, nach dem Menschlichen, dem Humanistischen, danach, alle Menschen als Menschen zu sehen. Ich habe mich selbst gefragt: »Wie bleibst Du Humanistin nach einem Massaker?«
Meine Stücke sind meine Art mit einem Publikum zu kommunizieren. Und dann ist die Frage, wer ist das Publikum. In diesem Fall war das Publikum in erster Linie ich selbst, an zweiter Stelle die Menschen hier in Israel, die im Moment überhaupt nicht in der Lage sind, über die andere Seite nachzudenken, aber auch das westliche und insbesondere das deutsche Publikum. Zuallererst wollte ich den Menschen zu verstehen geben, dass es nicht trivial ist, dass es ein Kampf ist, dass es sehr, sehr schwer ist, menschlich zu bleiben, wenn Du in diesem Kreislauf der Gewalt steckst, und besonders, wenn du in diesem Ausmaß traumatisiert bist.

Gab es eine literarische Gattung, an die Du beim Schreiben gedacht hast?

Ich hatte gar nichts im Kopf, als ich den Text schrieb. Ich war wirklich noch nie in so einer geistigen Verfassung. Ich hatte große Angst. Wir wussten nicht, wie es weitergehen würde. Zu diesem Zeitpunkt schien es, als ob das Massaker erst der Anfang wäre, dass es wieder geschehen könnte, dass es auch in Tel Aviv wieder geschehen könnte. Meine Aufgabe war es, meine Kinder davor zu bewahren, zu viel zu wissen, und davor, psychischen Schaden von der Situation zu nehmen. Sie gingen natürlich nicht zur Schule und mir mussten viele Male am Tag zum Schutzraum rennen. Und sie waren – auch wenn ich das nicht wollte – einer ganzen Reihe von Informationen ausgesetzt, von denen Kinder nichts wissen sollten. Es war eine sehr angespannte Situation. Wir schliefen auf dem Boden bei unseren Nachbarn, weil wir keinen Schutzraum zu Hause haben. Dazu die kollektive Trauer und die Sorge um die Geiseln … Es ist fast unmöglich, das Ausmaß der Trauer, Angst und Unsicherheit zu beschreiben. In dieser geistigen Verfassung schrieb ich den Text. Ich weiß nicht mal genau, warum ich ihn geschrieben habe. Ich hatte das dringende Gefühl, ihn schreiben zu müssen. Ich habe ihn in ein paar Stunden geschrieben und später kaum überarbeitet. Er ist, was er ist. Ich finde das sehr interessant. Vielleicht ist das meine Rolle als Dramatikerin: Ich habe die Werkzeuge, Zeugnis abzulegen, nicht retrospektiv, sondern hier und jetzt, aus meiner eigenen subjektiven Erfahrung heraus, die sehr kollektiv ist. Die Identität zwischen dem Kollektiven und dem Persönlichen ist extrem. Ich erinnere mich nicht, so etwas schon einmal erlebt zu haben. Natürlich außer den Menschen, die alles direkt erfahren haben, an die ich den Ruf nach Humanität nicht richte. Nicht die Geiseln, nicht die Familien der Geiseln, nicht die Opfer, nicht die Menschen, die unmittelbar irgendetwas von dem Horror erleiden mussten. Aber als eine Nation, als Volk haben wir etwas sehr Intensives erfahren. Und ich konnte Zeugnis ablegen, ich konnte einen historischen Moment einfangen. Ich schrieb den Text – und das ist wichtig – bevor die Bodenoffensive der israelischen Armee im Gaza-Streifen begann. Zu diesem Zeitpunkt war die Zahl der Opfer im Gaza-Streifen noch gering. Doch mir war klar, dass die Reaktion in diesem Fall sehr groß sein würde, dass es keine kurze Sache, keine kleine Aktion sein würde, weil ich das Trauma sah. Ich dachte, dass ich mich selbst erinnern müsste, dass ich eine Erinnerung haben müsste, und andere ebenfalls erinnern müsste. Als ich den Text schrieb, waren die Theater in Israel noch geschlossen, und daher kam er zuerst auf die deutsche Bühne, bevor er auf der israelischen Bühne gespielt wurde. Letztlich war das eine positive Sache, weil die Menschen noch vor einem Monat nicht in der Lage gewesen wären zu hören, was ich zu sagen habe. Ich denke, dass es immer noch eine Minderheit ist und viele Menschen immer noch Schwierigkeiten haben. Aber graduell, je mehr die Distanz zu den Geschehnissen zunimmt, sind die Menschen mehr dazu in der Lage.

Ich möchte mit einem Satz über die Geiseln enden: Ich denke, solange es Geiseln gibt, Kinder, Babys, alte Menschen, junge Männer, Männer im Allgemeinen, solange es unschuldige Zivilisten in den Tunneln der Hamas gibt, werden die Menschen nicht dazu in der Lage sein, über andere Mütter irgendwo nachzudenken. Es ist nicht möglich, zum Alltag überzugehen, wenn Menschen wie Du und ich in einer solchen Situation sind und wir nicht einmal wissen, was sie durchmachen. Wir wissen nur, dass es furchtbar ist. Ich weiß, dass in anderen Ländern oft die Vorstellung herrscht, dass die Tragödie in Israel am 7. Oktober geschehen ist und dass sie nun vorüber ist. Und dass die Palästinenser in Gaza täglich eine Tragödie erleiden. Für die Israelis sind die Geiseln die Tragödie. Jeder Tag, der vergeht, ohne dass die Geiseln befreit sind, ist ein weiterer Tag des Horrors. Auch für die Menschen, die sie nicht kennen. Es ist nicht so, dass nur die Familien leiden, und alle anderen inzwischen mit ihren Leben weitermachen. Israel ist entsetzt über die Tatsache, dass Zivilisten dort sind. Ich denke, das ist sehr wichtig.

Liebe Maya, vielen Dank für unser Gespräch!

Zur Stückseite von »Gott wartet an der Haltestelle« gelangen Sie HIER

Angeregte Plaudereien aus dem Nähkästchen

Theaterkreis des Seniorenbüros blickt einmal im Monat hinter die Kulissen des Theaters

von Silke Zschäckel

Foto © Verena Bauer

Stefan Eichberg ist ein Zugpferd. Nicht nur auf der Bühne, sondern auch, wenn es darum geht, Theaterfreunde reiferen Alters am Nachmittag ins Obere Foyer zu locken, um wieder eine neue Facette des Heilbronner Theaters näher kennenzulernen. Einmal im Monat lädt das Seniorenbüro zu einem Theaterkreis ein. Und Steffi Gal, die Leiterin des Seniorenbüros, freut sich, dass es von Veranstaltung zu Veranstaltung mehr Interessierte sind, die sich eine launige Stunde im Theater gönnen und auf unterschiedlichste Weise hinter die Kulissen blicken.

Diesmal war es also Stefan Eichberg, der sich Löcher in den Bauch fragen ließ. Zum Einstieg interviewte ihn Sophie Püschel, Schauspielleiterin und Dramaturgin, zu seiner Herkunft und Ausbildung. So erfuhren die Damen und Herren, dass der beliebte Mime nicht, wie viele andere, schon sein ganzes Leben zum Theater wollte, sondern durch Zufall auf diese Option stieß. Die Leipziger Schauspielschule »Hans Otto« hatte damals aufgerufen, sich zu bewerben. Obwohl Stefan Eichberg vorher nur ungefähr viermal im Theater war, fand er das interessant. Als er erzählte, dass er am liebsten nach dem ersten Ausbildungsjahr wieder gegangen wäre, reagierten die Zuschauer erleichtert, dass er durchgehalten hat, sonst wäre er ja nicht da, wo er jetzt ist. Im Nachhinein ist er sehr dankbar für seine gute Ausbildung in Schauspiel, Sprache und Bewegung, von der er jetzt noch jeden Tag profitiert, erzählt er. Spannend war auch sein historischer Exkurs in die Wendezeit, die er noch als Student in Leipzig erlebte. Er gehörte mit zu den Demonstranten, die am 9. Oktober 1989 – als noch alles auf der Kippe stand – in Leipzig demonstrierten. In diesem Sommer hat er sich in seiner alten Studienstadt eine Ausstellung zu diesem Thema angeschaut und erst jetzt deutlich gespürt, was er damals als junger Mann sehr gut verdrängen konnte: Die Angst, dass der Mut der demonstrierenden DDR-Bürger in eine Unterdrückung des Aufstandes mit Waffengewalt münden könnte. Er liest gerade jetzt sehr viele Bücher über jene Zeit und das schwierige Zusammenwachsen Deutschlands, erzählt er. Sein erstes Engagement führte ihn 1990 an sein Wunschtheater, das »Hans-Otto-Theater« in Potsdam. Gebannt hörten die Damen und Herren des Theaterkreises zu und fragten, wie es war, nach der Wende Theater zu spielen. »Die Säle waren leer, die Leute hatten andere Sorgen«, erinnert sich Stefan Eichberg. Aber er hatte tolle Kollegen und durfte langsam in immer größere Rollen hineinwachsen. Spannend war für ihn, die unterschiedlichen Arbeitsweisen aus Ost und West kennenzulernen, als die ersten Regisseure aus den alten Bundesländern mit ihren Teams in Potsdam arbeiteten.

Besonders wichtig war seine Potsdamer Zeit für ihn privat, erzählt er liebevoll, weil er hier seine Frau Sabine Unger kennenlernte. Zehn Jahre blieb er in Potsdam, wechselte dann für zehn Jahre ans Schleswig-Holsteinische Landestheater – gemeinsam mit seiner Frau, die zwischendurch in Thüringen engagiert war. In Schleswig-Holstein arbeitet er viel mit dem damaligen Chefregisseur Axel Vornam, der als Intendant das Paar Unger/Eichberg schließlich nach Heilbronn holte. Hier sind die beiden jetzt im 13. Jahr, die längste Zeit, die sie je an einem Theater verbracht haben. Stefan Eichberg genießt es, an einem Haus zu arbeiten, das viel Wertschätzung beim Publikum erfährt. Hier spielte er eine große Rolle nach der anderen. Nach seiner Lieblingsrolle gefragt, nennt er den Walter Faber in »Homo faber«, auch weil er da mit seiner Frau Sabine so intensive Szenen spielen durfte. Nicht immer ist es leicht als Paar am Theater und man muss sich manchmal zwingen, nicht pausenlos darüber zu reden, berichtet er. Die Zuschauer überschütten ihn an diesem Nachmittag mit Sympathie und Wertschätzung, loben sein Spiel, egal, ob er nun in Komödien oder Tragödien zu erleben ist, und finden es auch toll, dass er so gut singen kann.

Was für ihn gutes Theater ausmache, wollen sie wissen. Die gesellschaftliche Relevanz, die man sowohl in alten als auch in neuen Stücken finde. Und er weiß, dass dieser Aspekt bei der Entwicklung des Spielplans immer eine große Rolle spiele. Die Fragen nehmen kein Ende. Wie sein Gehirn funktioniere, um sich die Mengen an Text von so unterschiedlichen Stücken zu merken? Ob er mit seiner Frau zusammen die Texte lerne? Welche Autoren in der DDR gespielt wurden? Ob er sich inzwischen in Heilbronn heimisch fühlt? Was er gern in der Freizeit unternehme? Und schließlich: »Essen Sie gern Spätzle?« – Nein, antwortet Stefan Eichberg. Er mag gern Soljanka, aber am allerliebsten »Tote Oma«, das ist warme Blutwurst (die kann man jeden Donnerstag auf dem Markt kaufen) mit Kartoffeln und Sauerkraut. »Siehst du, da haben wir heute wieder viel gelernt«, sagt eine der Besucherinnen am Ende zu ihrer Nachbarin. Sophie Püschel, die diese Nachmittage am Theater Heilbronn organisiert, präsentiert hier die gesamte Vielfalt dessen, was das Theater Heilbronn ausmacht. So gab es schon Veranstaltungen mit Regisseuren, mit Kollegen aus dem Malersaal, der Requisite, der Maske und der Schneiderei, mit anderen Kollegen aus dem Schauspielensemble, mit dem Künstlerischen Betriebsbüro, mit dem Intendanten, ja sogar mit einem Theaterfotografen. Und jede dieser Veranstaltungen eröffnet eine neue Perspektive auf die Wunderwelt Theater.

Workshop Prüfungsvorbereitung

TREFFPUNKT LEHRERZIMMER. Wenn wir zu einem Workshop in eine Schule gehen, ist das meist der Ort, der als erstes angesteuert wird. Oft ist noch Zeit für eine kurze Unterhaltung und eine Tasse Kaffee. Ab und zu kennt man den einen oder die andere Kollegin auch schon gut. Gerade in dieser Spielzeit verbringen wir viele Stunden für Workshops in Schulen, um Vorstellungsbesuche für die Prüfungsthemen zu »Nach vorn, nach Süden« (UA) und zu »Woyzeck« vorzubereiten. Wir kommen mit einem Fahrplan in die Schule, wie wir uns den Ablauf des jeweiligen Workshops vorstellen – oft müssen wir aber auch flexibel sein und davon abweichen, je nach dem, ob die Klasse schon ganz tief im Stoff steckt oder noch gar nicht, ob es morgens um 8 Uhr oder nachmittags um 15 Uhr ist. Schreibt die Klasse im Anschluss noch eine Klassenarbeit oder war der Tag vorher schon lang für alle? Deshalb gibt es immer Plan A, B und C. Wir nehmen Sie mit in zwei unserer Workshops, Sie dürfen Mäuschen sein.

Foto © Stefanie Roschek

von Natascha Mundt

Montag, kurz nach halb 10. Die erste große Pause ist vorbei an einem Heilbronner Gymnasium. Nach und nach tröpfeln die Schüler des Leistungskurses Deutsch ins Klassenzimmer. Manche freuen sich, manche sind ob des Unbekannten, was sie in der nächsten Doppelstunde erwartet, etwas unsicher. Andere haben völlig vergessen, dass ich wie ein Ufo im Klassenzimmer gelandet bin und erschrecken sich fast. 16 Augenpaare schauen mich an. Die Klasse hat den »WOYZECK« schon gelesen, aber noch nicht komplett besprochen, sie sehen sich eine Woche später die Inszenierung bei uns an und schreiben im Frühjahr ihr Abitur über den Stoff. Meine Aufgabe für diese Doppelstunde ist es nun, zum einen unsere Inszenierung, also vor allem den konzeptuellen Zugriff und die Ästhetik, zu vermitteln, zum anderen aber auch, den Text, der für die Schüler ggf. ganz weit weg, eben in einem kleinen gelben Buch steht, plastisch und greifbar zu machen.

Wir starten mit einem kurzen Spiel im Kreis: Ähnlich wie beim Uno-Spiel gibt es verschiedene Anweisungen, die Originalzitate aus dem »Woyzeck« sind. Mit einem kräftigen »Jawoll, Herr Hauptmann« gibt man mit einem Klatschen einen Impuls reihum. Ein »Langsam Woyzeck!« markiert einen Richtungswechsel und mit einem »Marie!« kann man sich einen anderen Spielpartner als den links und rechts von sich aussuchen. So wird zum einen der Körper, aber auch der Kopf warm gemacht. Und alle haben was zum Lachen. In einer weiteren Übung haben Zweierteams die Aufgabe, sich wie Marionetten durch den Raum zu führen. Diese Übung wird gesteigert, wenn im weiteren Verlauf dann drei Leute gleichzeitig an den Fäden der jeweiligen »Puppe« ziehen. Ich stelle danach die Frage in die Runde, warum ich wohl diese Übung ausgesucht habe: damit uns nichts peinlich ist, damit wir mit anderen zusammenarbeiten als mit unseren Sitznachbarn, damit wir lernen, zu vertrauen, damit wir erfahren, wie es Franz Woyzeck wohl ergeht, wenn er versucht, es gleichzeitig allen recht zu machen – aha! Darauf wollte ich hinaus, auch wenn alle anderen Antworten auch richtig sind. Wobei es mir immer sehr wichtig ist, im Workshop zu betonen: Ihr könnt nichts wirklich falsch machen, hier gibt es nicht die eine Lösung. Ein Workshop bietet die tolle Möglichkeit, sich auf eine andere Art und Weise mit dem Text, den man im Unterricht liest, mit der Inszenierung, die man, vermeintlich passiv im Zuschauerraum sitzend, erlebt, auseinanderzusetzen. Und er öffnet auch die Augen dafür, dass es nicht die eine Interpretation eines Stoffs gibt, sondern noch viele weitere Lesarten als die, die im Lektüreschlüssel vorgestellt wird.

Zu sehen ist das auch in der letzten Übung, in der die Schüler in Kleingruppen Szenen aus dem Stück erhalten, etwa wenn Woyzeck Marie ersticht oder wenn der Tambourmajor und Marie aufeinandertreffen. Die Aufgabe nun: Übersetzt das, was hier steht, in eure Sprache. Wie würdet ihr das heute sagen, würde diese Szene z. B. auf dem Schulhof, auf einer Wiese am Neckar, auf dem Parkplatz vor der Tankstelle stattfinden? Zuerst gibt es ratlose Gesichter, doch dann geht es in den jeweiligen Gruppen rund. »Nein, das heißt doch, dass er sie klarmachen will!« Es wird gelacht, diskutiert, über die semantische Auslegung eines einzigen Wortes gesprochen; eigentlich gar nicht so viel anders als bei den Proben in unserem Probenzentrum. Den Schülern wird klar, so weit weg von ihnen ist Büchners Text gar nicht. Zum Schluss zeigt jede Gruppe ihre Übersetzung in einer kurzen Szene vor der Klasse und die Zuschauer dürfen raten, mit welcher Szene sie sich beschäftigt haben. »Das war cool, hätt ich gar nicht gedacht – ich freu mich jetzt, das Stück zu sehen«, kommt danach aus einem Mund. Ich wünsche der Klasse viel Spaß in der Vorstellung und viel Erfolg beim Abi, beim Verabschieden winkt mir im Gang ein Schüler zu, wir kennen uns aus einem vorherigen Workshop.

* * * * * * *

von Simone Endres

»NACH VORN, NACH SÜDEN« wird in den meisten Realschulen erst im Lauf des Schuljahres gelesen und einige Lehrkräfte hatten uns schon zu bedenken gegeben, dass sie die Inszenierung erst nach der Lektüre besuchen wollen. Die Klasse, die heute vor mir steht, ist mutig und stürzt sich ins Unbekannte. Gleichzeitig bietet meistens gerade der offene, unverstellte Blick auch die Möglichkeit, sich neu und unverkrampft auf die Inhalte und Figuren des Romans einzulassen und eigene persönliche Bezüge herzustellen. So auch heute.

Die Klasse hat noch nie einen Workshop mitgemacht und keine Ahnung, was sie erwartet. Die Ankündigung, den Klassenraum freizuräumen, damit wir Platz zum Bewegen und Arbeiten haben wird mit großer Anspannung und wenig Begeisterung aufgenommen. Die meisten Teilnehmer vergraben sich tief in ihre Anoraks und halten die Arme verschränkt. Keiner möchte seinen Stuhl verlassen.

Lena, genannt »Entenarsch«, die als Protagonistin des Romans von Sarah Jäger durch die Geschichte von »Nach vorn, nach Süden« führt, sucht auch ihren Platz auf dem Hinterhof eines Penny-Marktes. Damit ist das erste Spiel zur Eröffnung des Themas gesetzt. Alle Stühle sind im Raum verteilt und die Aufgabe der Gruppe lautet, durch strategische Platzwechsel »Entenarsch« den letzten freien Platz streitig zu machen. Durch das Spiel löst sich die anfängliche Skepsis.

Es folgen Assoziations- und Dissoziationsübungen zur Etablierung eines wertungsfreien Raums. Assoziation bedeutet, dass alles, was wir hören, zu Bildern im Kopf führt. Dissoziationsübungen helfen dabei, sich frei zu spielen und den inneren Zensor auszuschalten. Die Erfahrung, nichts falsch machen zu können, ist für den Rest der Lektion eine entscheidende, damit jeder Teilnehmer sich traut, den Zustand der Fehlervermeidung hinter sich zu lassen und sich vor der Klasse mit den eigenen Ansichten »zu zeigen«. In 2er-Gruppen werden nun kleine Geschichten improvisiert. Beginnend mit dem Satz: »Sag mal, weißt du noch was gestern auf der Landstraße passiert ist?«, haben alle Teams zur Aufgabe, eine kleine gemeinsame Szene zu entwickeln, die anschließend vor der Klasse präsentiert wird. Mich begeistert die Vielfalt des Themenspektrums. Zwei Jungs zeigen, wie sie ohne gültigen Personalausweis die Einreise aus dem Kosovo zu managen versuchen, drei Teilnehmer sind nach einem Banküberfall auf der Flucht und andere versuchen sich gegenseitig bei der Autopanne behilflich zu sein. Alle sind stolz auf ihre Präsentation. Nebenbei ergibt sich auch die Möglichkeit, darüber zu diskutieren, wie ein Schauspieler sich auf der Bühne fühlen würde, wenn es im Zuschauerraum unruhig wird oder das Handy klingelt. Alle verstehen plötzlich, wie wichtig es ist, den Theaterbesuch als gemeinsames Erleben zu verstehen, und dass Publikum und Bühne keine so starr abgegrenzten Bereiche sind, wie allgemein vermutet. Weiter geht es nun mit den Stationen, die »Entenarsch« mit den Insassen ihres VW Polos erlebt. Es gilt, sich aus sechs Schauplätzen des Stücks drei auszusuchen und diese zu einer kurzen Reiseszene zu verbinden. Beispielsweise geht es so vom Schlossgarten in Fulda über den Kreisverkehr von Oer-Erkenschwick zum »Feld-Wald-Wiesen-Festival« in Bimbach. Diese Ausflüge nutzen wir, um das Prinzip der »Heldenreise« zu besprechen, also vom Loslassen von Sicherheit und dem daran anschließenden Aufbruch, der Krise nach anfänglichem Scheitern, der Heldeninitiation durch Konfrontation mit auftretenden Problemen bis zur Rückreise nach Läuterung. Erhitzt ziehen die Schüler Vergleiche zu Roadtrips aus Film und Fernsehen, und Parallelen zu »The Fast and the Furious« bis hin zum »Herrn der Ringe«.

Als mir die Klasse wenige Tage später wieder im Zuschauerraum begegnet, frage ich anschließend, wie es ihnen in der Vorstellung ergangen ist. »War echt cool… aber beim nächsten Mal spielen wir selbst mit«, schallt mir als Echo entgegen.

Wenn das Zeitgeschehen die Literatur einholt

Hans-Ulrich Becker inszeniert »Gott wartet an der Haltestelle« von Maya Arad Yasur im Großen Haus

von Dr. Mirjam Meuser

Das Team von »Gott wartet an der Haltestelle«; Foto © Verena Bauer

Die israelische Autorin Maya Arad Yasur hat ihr Stück »Gott wartet an der Haltestelle« 2013/14 geschrieben – kurz vor dem Beginn des letzten Gaza-Kriegs. Es spielt in den Wirren der zweiten Intifada (2000 bis ca. 2005) und spürt in fast antik anmutender Manier einem Selbstmordattentat nach, das eine junge Frau in einem israelischen Restaurant verübt hat. Maya Arad Yasur studierte zu dieser Zeit in Jerusalem, das aufgrund der besonderen Bedeutung der Stadt für Juden und Palästinenser Ziel besonders vieler Anschläge war. Damals, so erzählt sie, habe sie nie den Bus genommen, sondern sei nur zu Fuß oder mit dem Taxi unterwegs gewesen, um nicht selbst Opfer eines Selbstmordattentats zu werden. Zehn Jahre später recherchierte sie im Rahmen des »Terrorismus«-Projekts der Union des Théâtres de l’Europe zu den Selbstmordanschlägen während der Intifada und stieß dabei auf die Geschichte der 28-jährigen Attentäterin Hanadi Jaradat, die am 4. Oktober 2003 einen Anschlag auf das Restaurant »Maxim« in Haifa verübt hatte. Dabei kamen 21 Israelis jüdischer und palästinensischer Herkunft ums Leben, 50 Menschen wurden verletzt. Der Fall der Studentin Jaradat, die zum Zeitpunkt der Tat kurz vor ihrem juristischen Examen stand, interessierte Arad Yasur derart, dass er zum Ausgangspunkt ihres Dramas wurde. Dabei war das Besondere hier nicht nur, dass die Attentäterin eine Frau war – insgesamt gab es unter den Selbstmordattentätern während der zweiten Intifada nur sechs Frauen –, sondern dass Jaradat unter diesen Frauen die einzige war, die keinen persönlichen Grund hatte, ihr Leben zu beenden. Ihr Motiv war vielmehr Rache, ein Beweggrund der, so Arad Yasur, per se politisch und somit auch dramatisch ist. Zudem hatte Jaradat mit dem »Maxim« ein Ziel gewählt, das von Juden und Palästinensern gleichermaßen besucht wurde, und als Symbol friedlicher Koexistenz galt – der besonders perfide Anschlag richtete sich also explizit gegen jede Form des Ausgleichs und der Versöhnung zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen.

Arad Yasurs Stück zeichnet sich durch einen fragmentierten Erzählstrang mit zahlreichen Vor- und Rückblenden aus, der das Attentat in seine Einzelteile zerlegen will. Was ist geschehen? Wie konnte es dazu kommen? Wäre der Anschlag an irgendeinem Punkt zu verhindern gewesen? Das sind die Fragen, die die Figuren umtreiben – vor allem in den chorischen Passagen, in denen die Stimmen von Toten und Überlebenden des Anschlags auf die von Menschen treffen, die Angst haben, das nächste Opfer zu sein. Sie alle sind auf der Suche nach einer »Lücke im System«, die es ermöglichen könnte, den tragischen Ablauf der Ereignisse zu unterbrechen. Das Stück entpuppt sich so als nahezu antike Tragödie, in der ganz klassisch zwei Ansprüche aufeinandertreffen, die sich gegenseitig auszuschließen scheinen: Wo es für beide Seiten ums blanke Überleben geht, haben das Bedürfnis nach Empathie und Menschlichkeit wie die Einhaltung der Menschenrechte keinen Ort. Während der Proben zur Uraufführung des Stücks, die im August 2014 am Habima in Tel Aviv, dem israelischen Nationaltheater, stattfinden sollte, leiteten die israelischen Streitkräfte als Reaktion auf den anhaltenden Raketenbeschuss aus dem Gaza-Streifen die Operation »Protection Edge« ein, die den Beginn des letzten Gaza-Kriegs im Juli/August 2014 markiert. Über 2200 palästinensische Zivilisten wurden damals durch die Bomben der israelischen Luftwaffe getötet. Im Rückblick zeigt sich, dass die Reaktion der Armee auf die Angriffe durch die Hamas damals unverhältnismäßig war. Im Moment der kriegerischen Operation aber war es dem Theater unmöglich, sich mit dem Stück von Arad Yasur auseinanderzusetzen. Die Proben am Habima mussten unterbrochen und die Premiere von August auf Dezember verschoben werden, u. a. deshalb, weil die israelischen Techniker sich weigerten, für das Stück zu arbeiten. Arad Yasur hat diese Situation, in der ihr Stück bereits das erste Mal vom Zeitgeschehen eingeholt wurde, rückblickend so kommentiert: »Die Menschen denken nicht mehr klar, wenn ein Anschlag passiert.« Wie schnell sich der Wind damals wieder drehte, zeigt sich daran, dass sie nach der Uraufführung im Dezember desselben Jahres für »Gott wartet an der Haltestelle« den Habima Award für Nachwuchsdramatiker erhielt.

Nun ist es ein weiteres Mal passiert. Das Massaker der Hamas an der israelischen Bevölkerung im Hinterland des Gaza-Streifens am 7. Oktober und die seit Wochen tobende israelische Bodenoffensive drohen, Arad Yasurs großartigen ästhetischen Entwurf erneut auf einen bloßen Kommentar zur gegenwärtigen Lage zu reduzieren – und diesmal sogar auf einen, der angesichts der aufgeheizten aktuellen Debatten völlig falsch verstanden werden könnte. Leider lässt sich diese Gefahr bei einem literarischen Text, der sich vermeintlich so klar zeithistorisch verortet wie dieser, schwer umgehen. Das Stück beschäftigt sich mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt, das ist nicht zu leugnen, aber gleichzeitig macht es einen wesentlich weiteren ästhetischen wie historischen Raum auf, der bis in die Antike zurückreicht; und es stellt Fragen, die deutlich darüber hinaus gehen. Der Nahostkonflikt ist nur ein Exempel – wenn auch ein für Arad Yasur naheliegendes –, um sich einer Gesellschaft zu nähern, in der Gefühle wie Angst, Schmerz, Hass und Rache regieren und starken Einfluss auch auf politische Entscheidungen nehmen. Das tragische Scheitern der beiden Hauptfiguren Amal und Yael, sich in diesem Umfeld an Prinzipien der Menschlichkeit zu orientieren, hat menschheitsgeschichliche Dimension. Dem aktuellen Kommentar dagegen widmet sich Maya Arad Yasur in einem neuen Text, in dem sich ihr verzweifeltes Ringen um Haltung und Sprache angesichts der furchtbaren Ereignisse der vergangenen Monate eindringlich niederschlägt. Auf der nächsten Seite finden Sie einen Auszug aus diesem Text, der auch Teil unserer Inszenierung von »Gott wartet an der Haltestelle« sein wird.

Zur Stückseite von »Gott wartet an der Haltestelle« gelangen Sie HIER

Cleverer Friseur verhilft verhindertem Liebespaar zum Glück

Rossinis »Der Barbier von Sevilla« kommt in zwei verschiedenen Gute-Laune-Inszenierungen nach Heilbronn

von Silke Zschäckel

Staatstheater Meiningen; Foto © Christina Iberl

Das ist der Stoff, aus dem Komödien gestrickt werden: Ein alter Mann begehrt ein junges Mädchen und noch viel mehr dessen Geld. Ein junger Mann erobert ihr Herz und schnappt sie ihm mit Hilfe zahlreicher Finten des örtlichen Barbiers Figaro weg. Wenn man diese turbulente Geschichte mit ihren zahlreichen Verwicklungen und Intrigen noch mit einer gleichermaßen betörend schönen und mitreißenden Musik untermalt, dann hat man eine komische Oper, die an sprudelndem Temperament und Witz kaum zu überbieten ist: »Der Barbier von Sevilla« von Gioachino Rossini. Der junge italienische Komponist war erst 23 Jahre alt, als er dieses Meisterwerk der leichten Unterhaltung mit seinen Ohrwurmmelodien schrieb. Die Vorlage war die gleichnamige Komödie von Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais.

Staatstheater Meiningen; Foto © Christina Iberl

»Der Barbier von Sevilla« kommt in zwei verschiedenen Inszenierungen als Gastspiel nach Heilbronn. Die wunderbar leichtfüßige und warmherzige Inszenierung vom Staatstheater Meiningen lag in den Händen von Brigitte Fassbaender. Hier stehen zwischen dem 17. und 27. Januar vier Vorstellungen auf dem Programm. Am 15. Februar feiert die kunterbunte und vor skurrilem Humor nur so strotzende Inszenierung von Inga Levant vom Theater und Orchester Heidelberg Premiere, die bis zum 2. März fünfmal in Heilbronn zu sehen ist. Vielleicht ist es für manchen Musiktheaterfreund ein besonderes Vergnügen, sich beide Bearbeitungen dieser Oper anzuschauen und zu erfahren, wie unterschiedlich man ein und denselben Stoff interpretieren kann. Es lohnt sich in jedem Fall.

Theater und Orchester Heidelberg; Foto © Susanne Reichardt

Die Grundzüge der Handlung sind in beiden Inszenierungen gleich: Graf Almaviva ist schwer in die junge, schöne Rosina verliebt. Er nähert sich ihr heimlich, denn sie wird eifersüchtig von ihrem Vormund Doktor Bartolo bewacht, der selbst ein Auge auf sie geworfen hat und sie vor allem wegen ihrer Mitgift heiraten will. Almaviva besticht den ihm gut bekannten Figaro, der als Barbier auch im Hause des Dr. Bartolo arbeitet. Figaro schmuggelt die eine oder andere Liebesbotschaft hin und her. Damit Rosina ihn um seinetwillen und nicht wegen seines Adelstitels liebt, gibt sich der Graf als armer Student aus, und es gelingt ihm, die junge Frau für sich zu gewinnen. Um den alten Bartolo zu überlisten und näher an seine Angebetete heranzukommen, rät Figaro dem Grafen, sich zu verkleiden. Zunächst erscheint er als betrunkener Soldat mit einem gefälschten Einquartierungsbefehl, das geht gründlich schief. Der nächste Versuch ist schon wesentlich raffinierter: Als vermeintlicher Gesangslehrer erhält Almaviva alias Lindoro ungehindert Zugang zu Rosina. Am Ende siegt die Liebe. Zumindest fürs Erste.

Theater und Orchester Heidelberg; Foto © Susanne Reichardt

Denn dass das Eheglück dem Paar Almaviva und Rosina nicht allzu lange erhalten bleibt, erfahren wir im zweiten Teil der Figaro-Trilogie von Beaumarchais, die Wolfgang Amadeus Mozart als Vorlage für »Die Hochzeit des Figaro« diente. Almaviva begibt sich schon bald auf amouröse Abwege und steigt Figaros Verlobter Susanna hinterher. Diese Oper lief mit großem Erfolg in der vergangenen Spielzeit am Theater Heilbronn.

Zur Stückseite von »Der Barbier von Sevilla« vom Staatstheater Meiningen gelangen Sie HIER

Zur Stückseite von »Der Barbier von Sevilla« vom Theater und Orchester Heidelberg gelangen Sie HIER

Sprechende Gegenstände, zweifelhafte Wahrnehmungen und eine raffinierte Intrige

Kay Neumann inszeniert »Über den Dingen« von Martin Suter für das Komödienhaus

von Katrin Aissen

v.l.n.r.: Judith Lilly Raab, Pablo Guaneme Pinilla, Lukas Schneider, Tobias D. Weber; Foto © Verena Bauer

»Wenn ich allein bin, spreche ich mit den Dingen. Vielleicht kennen Sie das: Wenn Sie eine ganze Nacht lang arbeiten müssen, dann bekommen auch die Geräusche etwas ganz Bedrohliches. Und ich habe mich dann gefragt: Was wäre eigentlich, wenn die Dinge antworten würden.« Martin Suter

Reto ist mal wieder allein zu Hause. Seit seiner Trennung von Susi hat er ein wiederkehrendes abendliches Ritual: die Tiefkühlpizza in den Ofen schieben, sich ein Glas Rotwein einschenken und ein »kultiviertes After-Work-Selbstgespräch führen«. Dabei spornt er seinen automatischen Staubsauger zum eifrigen Arbeiten an, sein Topfhandschuh mutiert im ausgelassenen Spiel zum bissigen Hund und auch die Pizza wird launig angesprochen. Soweit business as usual, bizarr wird es erst, als die Pizza in das Gespräch einsteigt. Und als sich auch noch der Hugo Boss-Anzug, der Topfhandschuh, das Blumenkissen und der psychologisch geschulte Sessel – er stand früher jahrelang in der Praxis eines Psychiaters – einschalten, gerät Retos Lebenswelt ins Wanken: Hat er ein Gläschen Wein zu viel getrunken? Ist er einsam und bildet sich Dinge ein? Hat er Wahrnehmungsverschiebungen? Kann er seinem eigenen Verstand noch trauen? Doch damit nicht genug: Die Gegenstände können scheinbar nicht nur sprechen, sie haben auch die Beziehung zwischen dem selbstbewussten Produktmanager Reto und seiner Ex-Freundin Susi genau beobachtet und analysiert – und Reto kommt dabei gar nicht gut weg. Wähnt er sich doch als derjenige, der Schluss gemacht hat und der sein Single-Leben genießt, sind die Dinge da vollkommen anderer Meinung. Auch als das Blumenkissen zögerlich davon berichtet, wofür Susi es in Retos Abwesenheit bei ihren Männerbesuchen verwendet hat, erhöht das nicht gerade Retos Selbstwertgefühl …

Martin Suter, bekannt vor allem durch seine hintergründigen – mehrfach ausgezeichneten und verfilmten – Romane, in denen die Protagonisten durch unvorhersehbare, manchmal surreale Ereignisse aus ihrer Lebensroutine gerissen werden, setzt in seinem scharfsinnigen und unglaublich komischen Schauspiel die Beschäftigung mit Figuren im Ausnahmezustand fort. Pointiert, pfiffig und mit bösem Witz erweckt er die Gegenstände zum Leben: Mit dem schwäbisch sprechenden Hugo Boss-Anzug, dem aggressiv-bissigen Topfhandschuh, der launenhaften Pizza, dem schüchternen Blumenkissen, dem therapeutisch bewanderten Sessel oder dem ewig stichelnden Pouf, um nur einige zu nennen, hat er wunderbar plastische Charaktere mit amüsanten menschlichen Eigenschaften entwickelt.

Am Theater Heilbronn wird Regisseur Kay Neumann diese spitzzüngige Komödie mit Unterstützung des Figurenspielers Lukas Schneider als ein Stück für vier Schauspieler in 13 Rollen auf die Bühne bringen. Die Hauptfigur des vermeintlichen Gewinnertypen Reto, dessen falsche Selbsteinschätzung im Laufe des Stücks lustvoll dekonstruiert wird, verkörpert Pablo Guaneme Pinilla. Judith Lilly Raab, Tobias D. Weber und Lukas Schneider spielen nicht nur jeweils einen menschlichen Charakter, sondern kreieren auch als Figurenspieler einen zum Schmunzeln anregenden Bühnen-Kosmos, eine Gesellschaft der Dinge!

Zur Stückseite von »Über den Dingen« gelangen Sie HIER

Auf musikalischer Reise durch die Höhen und Tiefen einer Künstlerbiografie

Uraufführung des humorvoll-lebensklugen Stücks »Die Donauprinzessin« des bayerischen Ausnahmekünstlers Georg Ringsgwandl im Salon3

von Sophie Püschel

Juliane Schwabe; Foto © Verena Bauer

Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. Davon kann die junge Schauspielerin (Juliane Schwabe), die in Georg Ringsgwandls musikalischem Theaterstück »Die Donauprinzessin« durch den Abend führt, im wahrsten Sinne ein Lied singen. Einst war sie die große Nachwuchshoffnung des deutschen Theaters: Ihr erstes Engagement führte sie an ein Staatstheater der Oberliga, wo ihr einer der angesagtesten Regisseure Europas die Rolle der Nina in seiner »Möwe«-Inszenierung von Tschechow verschafft. Einladungen zu internationalen Festivals und Lobeshymnen der Presse folgten. Doch nach dem ersten großen Triumph bleibt ihr das Glück nicht lange treu! Wie Tschechows Nina muss auch Georg Ringsgwandls Protagonistin immer tiefer in die Niederungen des Künstlertums steigen und sich so mancher Bewährungsprobe stellen.

Aus Gastverträgen an kleinen Theatern werden schlecht bezahlte Auftritte bei Firmenevents und schließlich bleibt nur der Kellnerjob. Neben dem beruflichen Erfolg verabschiedet sich zu allem Überfluss auch ihr Freund Tim sang- und klanglos aus ihrem Leben. Da Jammern nichts hilft und Miete, Strom und Essen bezahlt werden müssen, landet die Schauspielerin schließlich auf dem Kreuzfahrtschiff »Donauprinzessin«, wo sie zusammen mit zwei Musikern die Passagiere mit Coverhits unterhält. Die »verkannte« Schauspielerin nimmt das Publikum in Georg Ringsgwandls ebenso komischem wie lebensklugem Stück mit auf den Donaudampfer, auf dem die Tage nach einem immer festen Rhythmus verlaufen. Die einzige Abwechslung bieten die ungewöhnlichen Lebensgeschichten und Schicksale der Mitreisenden, die sich nach den Auftritten zu ihr und der Band an die Bar setzen. Die skurrilen Erzählungen füllen mühelos einen ganzen Theaterabend. Während die Schauspielerin das eigene Leben mit den Geschichten der Mitreisenden abgleicht, verleiht sie ihren Gefühlen und Gedanken mit live gesungenen Songs Ausdruck, die von den Beatles bis zu den Dire Straits, von Tina Turner bis Friedrich Holländer, vom Country-Klassiker bis zum Volkslied reichen. Unterstützt wird Juliane Schwabe bei dieser musikalischen Reise von den Multiinstrumentalisten Erik Biscalchin und Micha Schlüter.

Mit bittersüßem Humor und entlarvend genauem Blick für die tragikomischen Details des Lebens blättert der vielfach ausgezeichnete Liedermacher, Kabarettist und Autor Ringsgwandl in »Die Donauprinzessin« die sozialen und seelischen Abgründe einer Künstlerbiografie auf. Analog zu Tschechows Nina erfährt auch Georg Ringsgwandls Schauspielerin am eigenen Leib, dass in der Kunst »nicht der Ruhm, nicht der Glanz die Hauptsache ist, sondern die Fähigkeit zu dulden. Wenn ich an meinen Beruf denke«, so lässt es Tschechow seine Nina formulieren, »habe ich keine Angst mehr vor dem Leben.« Georg Ringsgwandls musikalisch-heitere Dampferfahrt des Lebens wird von der Regisseurin Luise Leschik, die zuletzt Nick
Hornbys »NippleJesus« in Heilbronn inszeniert hat, am 5. Januar 2024 im Salon3 zur Uraufführung gebracht.

Der bayerische Ausnahmekünstler und musikalische Tausendsassa Georg Ringsgwandl (*1948) hat sich als »Karl Valentin des Rock’n’Roll« mit seinen literarisch-skurrilen Liedtexten einen Namen gemacht, wofür er u. a. mit dem »Salzburger Stier«, dem Deutschen Kleinkunstpreis und dem Bayerischen Kabarettpreis in der Kategorie Musik ausgezeichnet wurde. Neben zwölf Alben veröffentlichte er mehrere Theaterstücke und Erzählungen. 2023 erschien sein erster Roman »Die unvollständigen Aufzeichnungen der Tourschlampe Doris« über Glanz und Grusel des Rock’n’Roll. Aktuell ist er gemeinsam mit seiner Band mit dem Programm »Arge Disco« auf Tour in Deutschland und Österreich.

Zur Stückseite von »Die Donauprinzessin« (UA) gelangen Sie HIER