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THEATERKASSE
Berliner Platz 1
74072 Heilbronn
Tel. 07131.56 30 01 oder 56 30 50 kasse@theater-hn.de
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Die Kostümwerkstatt kennt so manches Hausmittel zur Pflege von Kleidung
Als die Kostümwerkstatt des Theaters Heilbronn zum wiederholten Mal eine größere Menge Wodkaflaschen bestellte, bat der Intendant den Leiter Manuel-Roy Schweikart zu einem vertraulichen Gespräch zu sich. Was ist denn bei Ihnen los? Wozu brauchen Sie denn den ganzen Wodka? Hat da jemand ein Problem? Der Chef der Kostümabteilung konnte den Theaterleiter beruhigen: Wodka ist einfach das beste Mittel gegen Schweißgerüche bei Kostümen, die nicht permanent gereinigt werden können. Man füllt das hochprozentige Getränk in eine Sprühflasche und bringt den Wodkanebel auf das Kleidungsstück auf. Anschließend wird es zum Lüften aufgehängt und duftet am nächsten Tag wieder frisch. Warum das funktioniert? Der Alkohol tötet die Bakterien ab, ist aber geruchlos. »Wir haben viele Kostüme aus speziellen Materialien, die man nur schwer reinigen kann«, sagt der erfahrene Gewandmeister. Das ist ein Mittel, das man übrigens auch für den Hausgebrauch nutzen kann – statt Jacketts häufig in die Reinigung zu geben, lieber einmal mit Wodka behandeln, dann werden sie wieder frisch. Auch Stinke-Schuhe kann man auf diese Weise von lästigen Gerüchen befreien.
Manuel-Roy Schweikart in der Kostümwerkstatt. Foto: Rebekka Mönch
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kostümwerkstatt haben einen Haufen Tipps zur Pflege und Reinigung von Kleidung parat. »Jeder steuert aus seinem reichen Erfahrungsschatz etwas dazu bei«, erzählt Schweikart, der selbst an seinen unterschiedlichen beruflichen Stationen viele neue Tricks gelernt hat. Nach seiner Ausbildung zum Damen- und Herrenschneider am Theater Augsburg arbeitete er an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin und absolvierte dann ein Meisterstudium in der Modellistik. Einer seiner ersten Arbeitgeber war Wolfgang Joop, in dessen Firma »Wunderkind« Manuel-Roy Schweikart die Inspirationen des Meisters umsetzte. Bevor er ans Theater Heilbronn kam, gehörten Guido Maria Kretschmer, Adelshäuser, Adidas und die Lufthansa zu seinen Auftraggebern. Woher er weiß, dass farbige Kleidung ihre Farbintensität behält, wenn man dem Waschmittel beim ersten Waschen einen guten Schluck Essigessenz und circa zwei Esslöffel Salz zusetzt, kann er nicht mehr rekonstruieren. Er weiß einfach, dass es funktioniert. »Das tut übrigens auch der Waschmaschine gut«, ergänzt er. Von speziellen Waschmitteln für dunkle Wäsche hält er nichts. Die seien nur ein Verkaufstrick. Spätestens wenn die Corona-Kontaktbeschränkungen aufgehoben werden, dürften viele auch dieses Problem wieder beklagen: Make-Up-Flecken auf Sakkos. Küsschen links und Küsschen rechts, eine Umarmung, und schon hat man beige oder zartbraune Schlieren auf dem Stoff. »Hier helfen ganz normale Baby-Feuchttücher ohne Öl, mit denen man leicht über die Flecken wischt«, rät Manuel-Roy Schweikart.
Vorratsschrank der Kostümabteilung.
Bei Öl-Flecken in Kleidung kennen viele den Tipp, ein einfaches Geschirrspülmittel anzuwenden. Das geht aber nur bei waschbaren Sachen. Ist das nicht der Fall, kann ein Stück Schneider-kreide helfen. Man schabt ein-fach ein wenig Pulver von der Kreide auf den Fleck. Diese darf aber nur leicht aufliegen und keinesfalls eingerieben werden. Nach einer kurzen Zeit wird das ganze ausgeklopft. Die Kreide hat dann das Öl wie ein Magnet herausgezogen. Krauseminzwasser hilft gegen Glanzstellen vom Bügeln. Lavendelwasser, mit dem man Stoffsäckchen tränken und in den Schrank hängen kann, ist stark gegen Motten. Beide Wässerchen sind preiswert in der Apotheke zu bekommen und werden viel im Kostümfundus eingesetzt. Ganz kostenlos ist ein Hausmittel zu haben, das gegen Blutflecken hilft: Spucke. Allerdings nützt die nur beim eigenen Blut. Bei fremdem sollte man schnellstens kaltes Wasser über die Flecken laufen lassen – niemals warmes. Wer seinen Lederschuhen einen glanzvollen Auftritt verschaffen will, sollte sie mit Nylonstrümpfen putzen. Wildlederschuhe, auch in hellen Farben, bekommt man mit einfachem Shampoo wieder sauber. Dieses wird mit Wasser und einer Bürste aufgeschäumt und vorsichtig mit klarem Wasser ausgespült. Dabei ist es wichtig, immer beide Schuhe gleich zu behandeln, damit man nach der Prozedur keine unterschiedlichen Farben hat, und die Schuhe hinterher langsam bei Raumtemperatur zu trocknen. Heiße Luft tut da nicht gut. Kälte ist hingegen ein gutes Mittel zur Pflege von Kleidung. Ein Cashmere-Pullover bleibt schön weich und kuschelig, wenn man ihn ein paar Stunden in einem Gefrierbeutel ins Eisfach legt. Danach lässt man ihn einfach im Liegen trocknen. Die Cashmere-Ziegen, von denen die wertvolle Wolle gewonnen wird, leben in Nordindien, im Himalaya oder der Mongolei und sind kalte Temperaturen gewöhnt, meint Manuel-Roy Schweikart und ergänzt augenzwinkernd: »Das ist im Grunde genommen für den Pullover wie nach Hause kommen.«
Von Ende September bis Anfang November begleitete die Klasse 6a der Lindenparkschule Heilbronn die Entstehung des Stücks »WiLd!«. Ihre Erfahrungen und Erlebnisse haben sie für uns in folgendem Bericht fest gehalten.
Start des Projekts Im letzten Schuljahr am 15.07.2019 war Frau Kuß bei uns in der Schule. Frau Kuß ist Regisseurin im Theater Heilbronn. Sie erklärte uns was ihre Aufgabe als Regisseurin ist. Eine Regisseurin legt fest, was im Theaterstück vorkommen soll. Das nennt man Regie. Wir durften Fragen stellen und haben ein Spiel gespielt. Außerdem durften wir verschiedene Gefühle darstellen, wie zum Beispiel ängstlich, fröhlich oder wütend. Zum Schluss erzählte sie uns noch, wie das Stück heißt und worum es in dem Stück geht. Das Stück heißt »WILD!« und es handelt von Billy, einem Jungen mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung). Wir sollten Frau Kuß zeigen, was für uns »wild« bedeutet. Also gingen wir im Klassenzimmer herum und waren wild.
Wir treten in Aktion. Wir zeigen unsere wilde Seite.
Wir lernen Patrick Isermeyer kennen Am 26.09.2019 waren wir zum ersten Mal in diesem Schuljahr im Theater. Wir sind mit Frau Kuß in einen Raum gegangen und in diesem Raum war das Bühnenbild aufgebaut. In diesem Raum übt Patrick Isermeyer seine Rolle als Billy in dem Stück »WILD!« . Etwas später kam Patrick Isermeyer und erzählte uns etwas von sich. Wir haben sehr viele Fragen gestellt und Patrick hat uns eine Szene aus dem Stück »WILD!« vorgespielt. Wir, die 6a, durften Patrick Tipps geben. Wir haben Standbilder und verschiedene Theaterübungen gemacht.
Wir löchern Frau Kuß, Patrick Isermeyer und Frau Appelbaum mit Fragen.Wir testen das Bühnenbild und schlüpfen selbst in die Rolle des Billy.
Auch wir sind Schauspieler Am 7.10.2019 kam dann Frau Appelbaum zu uns an die Schule. Wir gingen in den Festsaal und machten ein paar Übungen. Wir lernten zum Beispiel verschiedene Geschwindigkeiten kennen. Außerdem haben wir Szenen aus dem Stück »WILD!« selbst gespielt. Frau Appelbaum ist Pädagogin am Theater. Eine Theaterpädagogin vermittelt zwischen dem Theater und dem Publikum. Sie organisiert zum Beispiel Workshops für Kinder und Jugendliche.
Wir schlüpfen in die Rolle eines Schauspielers/einer Schauspielerin.Wir stellen Szenen aus dem Stück dar.
Probenbesuch und Theaterbesichtigung Als nächstes waren wir nochmal im Theater. Wir haben wieder Patrick, Frau Kuß und Frau Appelbaum getroffen. Patrick hat mehrere Szenen vorgespielt. Wir durften wieder Tipps geben und Fragen stellen. Dann haben wir das Theater angeschaut. Als wir das gemacht haben, hat Frau Appelbaum etwas über das Theater erzählt und wir haben den größten Kleiderschrank von Heilbronn gesehen.
In den Räumen des Theaters gibt es viel zu entdecken.Patrick Isermeyer beeindruckt uns mit seiner Darbietung
Besuch der Theateraufführung Am 5.11.2019 waren wir nochmal im Theater. Aber dieses Mal waren wir in der Boxx und wir haben das Theaterstück angeschaut. Wir und unsere zwei Lehrerinnen hatten kostenfreien Eintritt und wir durften als Erste unsere Plätze auswählen. Wir haben die erste Reihe genommen und dann ging es schon los. Es war super und jetzt war auch noch der Schlagzeuger mit dabei. Er hat das Stück begleitet und hatte eine coole Frisur. Zurück in der Schule haben wir noch über das Theaterstück gesprochen. Wir konnten uns richtig gut in Billy hineinversetzen und uns vorstellen wie er sich fühlt.
DANKESCHÖN! Uns, der Klasse 6a der Lindenparkschule Heilbronn mit Frau Matter und Frau Grammetbauer, hat das Projekt »Premierenklasse« sehr gut gefallen. Wir bedanken uns von Herzen bei Frau Kuß, Frau Appelbaum, Patrick Isermeyer und dem Theater Heilbronn für die tollen und spannenden Einblicke!
Auch wir bedanken uns bei der Klasse 6a der Lindenparkschule, dass sie unsere Premierenklasse bei »WiLD!« waren und uns mit diesem schönen Bericht teilhaben lassen. Alle Vorstellungen zu »WiLd!« finden Sie auf unserer Webseite. Am 5. März 2020 gibt es ab 19.30 Uhr einen Themenabend »Leben mit AD(H)S« und einer Abendvorstellung von »WiLD!«.
Die Schauspielerin Anja Bothe spielt in Delphine de Vigans »No und ich« die Pariser Schülerin Lou Bertignac, die die 18-jährige Obdachlose No von der Straße holt, um ihr ein Zuhause und Geborgenheit zu schenken. Während der Probenarbeit hat Anja Bothe sich literarisch mit dem Thema (soziale) Obdachlosigkeit beschäftigt.
Anja Bothe in »No und ich« Foto: Thomas Braun
Wir alle brauchen Familie. Egal ob groß oder klein. Ob erwachsen oder ein Kind. Wir alle brauchen Familie. Und wer sie nicht hat, hat die Arschkarte. Wer sie nicht hat, der muss schauen wo er bleibt.
Ich fühle mich manchmal obdachlos. So als hätte ich keine Heimat. Als ob ich immer auf der Suche wäre. Nach meinem Zuhause. Einen Vater haben. Eine Mutter. Vielleicht Geschwister. Ist es das? Ist es eine gute Kindheit? Was erlebt man in seiner Kindheit? Wie lebt man, um ein Zuhause zu haben? Um sich, wenn man erwachsen ist, nicht wie eine Obdachloser zu fühlen? Obdachlos. Man hat kein Obdach. Aber das kann man sich doch leisten. Das kann sich doch jeder in Deutschland leisten. Wegen Hartz IV und so. Da gibt es doch Möglichkeiten. Aber was ist mit dem ganz persönlichen Erleben? Mit den ganz persönlichen Erlebnissen und Gefühlen?
Und dann gibt es die gesellschaftlichen Einordnungen. Die Normen. Wie man zu sein hat. Was man zu machen hat. Die Strukturen. Aber was ist, wenn man in eine solche Struktur nicht passt? Sein ganzes Leben versucht man sich anzupassen. Sich hinein zu formen. Umzuformen. Sich von seinem eigentlichen Wesen, seinem Urinstinkt zu verabschieden. Aber kann man das überhaupt? Sich so losreißen. Man wird geboren in eine Umgebung, in ein Umfeld. Man kann sich seine Familie nicht aussuchen. Man kann sich auch nicht aussuchen, ob sie für den Monat genug zu essen hat. Man kann sich die Liebe seiner Eltern nicht aussuchen. Man kann sie nicht erzwingen. Man könnte meinen sie wäre von Grund auf da. Wie ein unausgesprochenes Band. Aber was ist, wenn ein Elternteil dich nicht liebt? Was ist, wenn es diese angeblich grundlegende unanfechtbare Liebe nicht geben kann? Und du schreist nach ihr. Weil es ein Grundbedürfnis ist. Du schreist wie ein Löwe. Und du weiß nicht, warum du diese Liebe nicht erhältst. Und dann veränderst du dich und wächst heran. Aber dieses Grundbedürfnis wurde nicht gestillt. Du hast es einfach nicht erlebt.
Und diese Seelen wandern in einer Gesellschaft, in der man sich gegenseitig nicht mehr brauchen will. In der es einfacher scheint, für sich zu leben. In einer Gesellschaft, in der man nebeneinander her lebt. In der man hinter verschlossenen Türen Schwäche zeigt. Eine Gesellschaft, in der am besten alles gleich bleibt: neutral und steril. In der der »gute« Schein gewahrt wird. Weil alles andere wäre anstrengend. Soziale Obdachlosigkeit ist für mich ein Symptom. Ein Mangel an Liebe. Eine Verkümmerung. Ein Nicht-Helfen, ein Unverständnis der Umwelt. Was ist, wenn man anders ist? Wenn man vielleicht nicht laut, sondern leise ist. Wenn man nur schreien kann statt normal zu sprechen. Hören wir uns trotzdem? Warum müssen wir alle einer bestimmten Norm entsprechen? Wer hat die festgelegt und warum? Ich will Diversität in einer Gesellschaft, die sich nur noch unter einem Deckel befindet.
Was ist, wenn man kein Zuhause hat? Wenn dieses Grundbedürfnis von einem auf den anderen Tag wegfällt? Wenn sich plötzlich ein Mensch von dir trennt. Deine Mutter, dein Vater, dein Bruder, deine Schwester, deine bester Freundin, deine Freund*in. Wenn ein Band zerbricht. Wenn es eine Verkettung von Umständen gibt. Ein Unglücksfall in der Familie. Manche Dinge kann man erklären und manche nicht. Das Leben verlangt keine Erklärung. Menschen schon. Wir wollen die Hintergründe wissen. Denn alles hat doch seinen Grund. Aber es gibt keine Erklärung. Keinen Wegweiser. Manchmal schwebst du und musst entscheiden wohin. Oder zumindest denkst du das. Aber Sicherheit gibt es nicht. Viele Menschen konstruieren sich ein Sicherheitspaket und kommen ihr Leben scheinbar damit zurecht. Aber gibt es Gehör und Empathie für diejenigen, die diese Sicherheit nicht haben?
Zu Hause. Was ist das für dich?
Noch bis zum 8. Juli 2020 könnt ihr Anja Bothe als Lou in »No und ich« erleben.
Sarah Finkel, Anja Bothe, Sascha Kirschberger in »No und ich« Foto: Thomas Braun
Der Berliner Publizist und Dramatiker Thomas Martin hat eigens für das Theater Heilbronn den Debütroman von Lukas Rietzschel »Mit der Faust in die Welt schlagen« bearbeitet. Dafür hat er einen ganz eigenen sprachlichen und theatralen Zugriff auf den Stoff gefunden.
Die hier veröffentlichte Szene 13 ist in dieser Form nicht auf der Bühne zu sehen, sie hat sich im Lauf der Probenarbeit verändert. Statt der Figur des Tobias‘ ist es in Axel Vornams Inszenierung der ältere Bruder Philipp, der seinen Mitschüler Ramon auf dem ehemaligen LPG-Hof aufsucht. Die hier veröffentlichte Szene 13 ist in dieser Form nicht auf der Bühne zu sehen, sie hat sich im Lauf der Probenarbeit verändert. Statt der Figur des Tobias‘ ist es in Axel Vornams Inszenierung der ältere Bruder Philipp, der seinen Mitschüler Ramon auf dem ehemaligen LPG-Hof aufsucht. Die Lektüre der ursprünglichen Szene 13 von Thomas Martin ermöglicht nicht nur einen Eindruck seines Schreibansatzes, sondern hinterfragt auch die Form des Erzählens im Theater und damit sich selbst.
13. LPG
Ramons Hof.
Tobias, Ramon. Elli.
Ramons Mutter.
CHOR Ein Feld, ein Weg, ein Feld. Dann wieder ein Feld. Abgeerntet, Spuren von Traktoren, die Sonne frei, der Himmel wolkenlos. Ein Gelb, ein Blau.
ELLI War van Gogh je in der sächsischen Oberlausitz? In Sorbien?
CHOR Steine auf der Straße an den Feldeinfahrten. Lehmfarbener Acker soweit du sehen kannst, bis Tschechien, bis Polen. Zwischen den Feldern die Höfe. Alte Höfe, große Tore, meistens morsch. Alte Höfe, leere Höfe. LPG-Höfe.
TOBIAS EllPeGE, was heißt das eigentlich?
CHOR Die Gärten klein, zur Straße hin von Maschendraht begrenzt. Ramons Häuschen grün gestrichen. Er und seine Mutter plus Geschwister wohnen in einem der drei Häuser, die der Hof mal waren. Der Hof daneben: ZU VERKAUFEN. Ramons Mutter hält Kühe. Kühe und Kinder, sonst hält sie nichts.
TOBIAS unschlüssig am Tor,
klopft.
CHOR Nase zu Wie das stinkt!
ELLI Aber die geben doch die gute Milch.
CHOR Und warum ist die so billig, daß der Bauer nicht mal leben kann davon?
ELLI Weil ihr in der Schule nicht aufgepaßt habt, Honks, darum!
TOBIAS Weil die uns plattmachen hier in unserm Freilichtmuseum.
CHOR Ah, Philipp der Kluge. Er spricht! Quatsch, sieh doch mal hin, das ist Tobias. Der kleinere von beiden. Und was will der beim großen Ramon? Ist doch egal, wer das ist, bei Brüdern spielt das keine Rolle. Genau, ganz egal, wer wen hier spielt, solang wir fantasieren. Tobi oder Philipp, eh alles nur Theater. Wie bei den Räubern. WIE BEI DEN RÄUBERN. Und sie sehn sich so ähnlich, zwei Jahre Altersunterschied, was macht das schon. WIE BEI DEN RÄUBERN. Ganz gewöhnliches Theater. Genau. Bretter und der elektrische Mond und dahinter die Fleischbank, die allein echt ist. WIE BEI DEN RÄUBERN. Aber Rindfleisch muß es sein. WIE BEI DEN RÄUBERN, WIE BEI …
ELLI Chöre, mein Gott!
CHOR Wir haben Chöre gesehen der Arbeiter Haben Chöre gesehen des Proletariats Chöre der kommunistischen Genossen Sogar Chöre auf dem Land, Bauernchöre Haben wir gesehen, aber noch keinen Chor, der den Kapitalismus repräsentiert.
ELLI Was für ein Chor sollte das denn sein, bitte?
CHOR Wir!
TOBIAS Obzwar ich schon Bauklötzer staune, ganz glauben kann ich das nicht.
ELLI Hör nicht hin, ist der blanke Populismus.
TOBIAS Hör ja gar nicht hin.
CHOR Die alte Form des Dramas ermöglicht es nicht, die Welt so darzustellen, wie wir sie heute sehen!
ELLI Ganz recht, schließlich dramatisieren wir Romane. Neue Romane! Romane einer ganz neuen Generation. Und nicht nur das: Wir dramatisieren ein Volk. Gut, gut: ein ehemaliges, ein halbes. Aber was red ich, wo wir doch seit … ja seit wann eigentlich? ein Volk sind, ein einiges, echtes, das sein Volksein leben will, verstehen will, versteht sich. Die Sehnsucht nach Echtheit wächst natürlich mit dem Fortschritt digitaler Welten, in der Kunst vor allem. Seht euch doch um, wenn ihr euch umseht. Trotzdem hat die zeitgenössische Dramatik derzeit keinen leichten Stand. Selbst an den Theatern nicht. Erst recht an den Theatern nicht. Das Drama: ein Relikt. Die Postdramatik löst sich im Performativen auf wie Silber in der Säure, Stadtteilprojekte, Recherchen, Bürgerbühnen und offene Formate reagieren schneller und politischer. Das Vertrauen in das Miteinander von Regie und Dramatik schwindet, auch bei uns. Dabei gibt es doch beim Publikum eine Sehnsucht nach Erzählungen, nicht wahr. Das steht sogar in der Zeitung. Und kein Unterschied zu sehen zwischen Ost und West … und da können wir nun konstatieren: Hier ist die Einheit nach nur 30 Jahren doch erreicht, im Dramatisieren von Romanen. Hut ab, kann ich da nur sagen, wenn ich einen hätte.
TOBIAS sitzt auf dem Boden und flickt an seinem BMX herum Wenn das eine Regieanweisung wäre, würde ich lesen: „Sitzt auf der Erde und flickt an seinem BMX-Rad rum.“ Ich habs verstanden.
CHOR Aber wem gehört der Roman, und wem das Drama? Wem gehört das Theater?
ELLI Wo ihr fragt, da sollt ihr Antwort haben: 80 Prozent der, jawohl, 140 öffentlichen Theater in Deutschland sind renovierungsbedürftig. Es gab zwei Bauwellen von Theatern, zwischen 1890 und 1910 und dann die schönen Häuser nach dem Weltkrieg, dem zweiten. Und ihr könnt eben nicht 50 Jahre lang nichts an einem Bauwerk machen, denn dann fällt es zusammen. Und das ist bei uns hier der Fall. Ich kann nur sagen, seht euch um. Jeder Hausbesitzer weiß, er muß fünf bis zehn Prozent der Bausumme jährlich für Reparatur und Sanierung aufwenden. Das ist wie auf einem Bauernhof, weil Eigentum, ihr habts gehört, verpflichtet, auch und erst recht das geistige. Bei den Theatern hat man das gespart. Weggespart. Mit erheblichen Folgekosten, liebes Publikum, neutral bleiben nützt hier gar nichts. Schlägt ja alles zurück auf die Preise, die Öffentliche Hand. Wir subventionieren den eigenen Verfall, kann ich dazu nur sagen. Außerdem sind unsere Theater zu klein geworden: Lüftung, Klima, Brandschutz, Werkstätten, Fundus, all das braucht heute viel mehr Platz. Vom Publikum, das uns die Buden einrennt, gar nicht zu reden, da habt ihrs.
CHOR Die Theater sind also von heute aus betrachtet gar nicht zukunftsfähig, meinst du das?
ELLI In der Tat, das meine ich, sie sind nicht zukunftsfähig. Wir haben ein Drittel weniger Festangestellte als noch vor elf Jahren, und mit dieser knappen Personaldecke spielen wir 69.900 Vorstellungen, fast 300 pro Tag, das ist Weltrekord! Im künstlerischen Bereich bekommen auch immer weniger von uns Festverträge, ich weiß, wovon ich rede. Alle im Theater werden ausgequetscht wie die Zitronen. Ich bin nicht sicher, ob das Bild trägt, aber ihr wißt, was ich meine. Das Theater ist doch der Ort, an dem Visionen entwickelt werden, an dem die gesellschaftlichen Zustände kritisch hinterfragt werden, stimmts nicht? Da fangen wir am besten gleich bei uns selber an.
CHOR uneins mit sich selbst Es handelt sich hier offensichtlich aristotelische Einfühlungs-Dramatik. Die Nachteile dieser Technik könnten bis zu einem gewissen Grad ausgeglichen werden, wenn man das Stück zusammen mit einem Dokumentenfilm, der die Vorgänge in Spanien zeigt, oder irgendeiner propagandistischen Veranstaltung aufführen würde … was meint ihr?
TOBIAS zwischen verträumt und zu doof am Fahrrad Spanien? Ich war noch nie in Spanien …
RAMON aus dem Off hinter dem Bretterzaun Du kannst nicht neutral bleiben, Theresa!
RAMONS MUTTER Off Für dich immer noch Mutti, mein Sohn!
ELLI Jawohl, denn es gibt eine Sehnsucht nach tragischen Konflikten. Nach Gesprächskatalysatoren. Nach Dialog. Absurderweise aber wird danach nicht in der Dramatik gesucht, sondern im Roman. Ist zeitgenössische Dramatik zu komplexeren Erzählungen nicht mehr in der Lage? Wer, wenn nicht die Theater, kann professionellen Begleitschutz dafür bieten, frage ich? Sprechen wir über die Besitzverhältnisse! Zurück zu den Wurzeln, back to the roots! Und dem Zeitgeist auf den Fersen! Die nichtdramatische Form wird gern auch deshalb in Kauf genommen, weil Romaninszenierungen zu publikumsgenerierenden Wiedererkennungseffekten führen. Titel, die in der SPIEGEL-Bestsellerliste vorkommen, sind einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Theaterstücke kommen – wenn überhaupt – nur noch als hochspezialisierte Nischengattung auf dem Buchmarkt vor. Versucht es selbst: findet erstens einen Buchladen, zweitens dort eine Ausgabe mit Stücken, viel Glück! Aber genug jetzt, weiter im Text, dem Roman hinterher, Leser, mir nach: Tobias legt also sein BXM-Rad endlich auf dem Feldweg ab und stellt sich vor das Tor von Mutter Mehlschwitz, da kommt sie. Er sieht durch das rissige Holz auf den Hof. Ablauf: immer der gleiche. Fragen, ob derjenige rauskommen dürfe, von dem man hoffe, daß …
TOBIAS technisch auf der Höhe der Zeit: Ist Ramon da? Darf er mal raus?
CHOR Ist Ramon da? Darf er mal raus?
TOBIAS Darf er?
ELLI Und wenn die Eltern die Tür öffnen, auch immer das Gleiche.
CHOR DARF RAMON RAUS? NEIN, DARF ER NICHT. JA, DARF ER DOCH.
»Mit der Faust in die Welt schlagen«;Friedrike Pöschel (Ramons Mutter), Romy Klötzel (Elli) Foto: Candy Welz
RAMONS
MUTTER erscheint in der Türe wie im Folgenden exakt beschrieben:
ELLI Ramons Mutter: rotgefärbte Haare, fett geschminkt, mit Schmuck behängt, Typ polnische Friseuse, und immer eine Fluppe zwischen den auch rotgefärbten Lippen, hat wohl grad Suppe für die jüngsten auf dem Herd.
TOBIAS Ich kenne Sie von BILLIGLAND, wo sie an der Kasse sitzen, weil sie den Hof allein nicht halten können. Ist ja nicht mehr LPG, nein, Besitz, das haben wir gelernt, verpflichtet, Frau Mehlschwitz.
RAMONS MUTTER Genau. Wer hat, der kann machen, was er will damit. Verpißt euch.
CHOR Wir wollen nichts lernen.
RAMONS MUTTER Ja, weil ihr viele seid. Aber wieviel seid ihr noch?
CHOR Genug.
RAMONS MUTTER Und was habt ihr?
CHOR Nicht viel.
RAMONS MUTTER Woher sollt ihr von Besitz was wissen, woher ich? Hat uns keiner in die Hand gegeben. War Volkseigentum das alles, privat war eher Staatsvergehn, hast kaum mehr davon gehabt als Ärger. Nur Unterricht, das war das einzige. Lernen, lernen, nochmals lernen. Tag, Tobi, Ramon ist im Schuppen.
TOBIAS Danke, Frau Mehlschwitz.
RAMONS MUTTER Aber nicht rauchen, das fliegt sonst alles in die Luft hier wegen dem vielen Altöl von früher.
CHOR Er wollte noch fragen, wo der Schuppen und wie er dorthin, aber da schloss sie von innen die Tür ab. Drehte den Schlüssel zwei Mal und ein drittes Mal.
TOBIAS Stille. Und Gestank. Und Fliegen, sie verfolgen mich.
CHOR Hab dich nicht so, kleiner Mann. Sind bloß Fliegen, gewöhnliche Fliegen. Und die stechen nicht. Sie erinnern nur an das, was zu tun ist, Tobias.
TOBIAS Wie das aussieht hier …
ELLI Zerbrochene Betonplatten im Hof. Als ob hier Panzer durchgefahren wärn oder der Schaufelbagger vom Tagebau nebenan. Korrigiere mich wie folgt: Zerbrochene im was ein Hof gewesen war … ein Baumstrunk in der Mitte, eine Plastebank davor. Nur eine von drei Hausfassaden gestrichen, sonst grauer Putz, der fröhlich bröckelt. Die Fenster offen oder fehlen ganz. Buntes Spielzeug, ein Bagger, ein Traktor umgekippt auf dem Boden neben Pflanzenkübeln.
CHOR Ramon hat auch einen Bruder oder zwei sogar, der weiß, was das heißt. Immer einen Kleinen an den Hacken.
TOBIAS Und überall der Gestank und die Fliegen.
ELLI Dafür hat die Garage ja gottseidank kein Dach, ist also immer schön Durchzug.
RAMON Hey.
TOBIAS Scheiße.
RAMON Was?
TOBIAS Daß ich einfach mal Hallo sagen wollte und du erschreckst mich.
CHOR Wie erbärmlich er aussehen muss in Ramons Augen. Wie der totale Untermensch. Die Flasche. Aber Ramon!
ELLI An die Werkbank gelehnt, unter weißen Neonröhren, eine flackert, ein Moped, frisch lackiert.
RAMON Meine Mutter lässt jeden rein, der die Klingel findet. Ich sag ihr, dass sie da aufpassen soll, ich bin ja auch nicht immer da. Ist gefährlich hier draußen, Zigarette?
TOBIAS Nein, danke muß nicht sein.
RAMON raucht Ist gut gegen die Fliegen.
ELLI An den Wänden Blechschilder RADEBERGER PILSNER, eine verblasste Dynamofahne und das Poster einer Frau, die ihre Beine spreizt, das sich an zwei Ecken gelöst hat und sich im Zugwind hinundherbewegt …
CHOR Oh, und das viele Werkzeug ringsherum, Hammer und Sichel …
RAMON Hier sind manchmal Leute unterwegs, ich sag dir. Willst du was trinken?
TOBIAS Was hast du denn?
CHOR Klasse Antwort, TobiasPhilipp, gut gemacht. Mach weiter so.
RAMON Radeberger und noch nen Kasten Zeckenbier.
TOBIAS Radeberger, das ist gut.
RAMON Kalt wär besser.
TOBIAS Bier ist Bier.
»Mit der Faust in die Welt schlagen«; Sven Marcel Voss (Philipp), Arne Löber (Ramon) Foto: Candy Welz
CHOR Hört, hört! Bier ist Bier!
ELLI Ramon grinst, Tobias unterdrückt ein Würgen. Ein schlaffer Wind ergreift das Poster, läßt es an den losen Enden träge flattern. Das Papier so dünn, dass es sich anhört, als könnte eine Fliege sich nicht von der Wand lösen, wo der klebrige Leim von der Falle sie hält.
CHOR „Fliegen“ Ssssssss…chnlllzsch…p…lopp!
TOBIAS Na dann: Prost, Ramon.
RAMON Tobi, prost!
ELLI Tobias sieht, wie es reißt, das Poster, an den Beinen der Gespreizten entlang … Ramon nimmt einen Schluck aus der Flasche, die freie Hand fährt lässig über den gepolsterten Sitz seines Mopeds. Und ich, ich mach mich vom Hof jetzt.
Ab.
RAMON Deine Alte arbeitet doch im Krankenhaus. Da verdient die doch bestimmt ganz gut.
TOBIAS Alte?
RAMON Mutti, Mensch.
TOBIAS Weiß nicht, kann sein.
RAMON Habt ihr ein Auto?
TOBIAS Renault.
CHOR Das ist doch kein Auto! Oder denkt er etwa auch: Auto ist Auto?
RAMON Warum bist du hergekommen?
TOBIAS Was du alles hast hier, ganz schön alt.
RAMON Mein Vater hat den kompletten Scheiß hier gelassen. Richtig gutes Werkzeug aus der DDR. Kein Billigscheiß, den du bei OBI kaufst.
CHOR Was er jetzt plötzlich gegen OBI hat? OBI ist doch super, OBI sind die besten.
TOBIAS Wo ist dein Vater eigentlich?
RAMON Hat sich verpisst und fickt sich drüben durch.
CHOR Ein Vaterproblem. Da macht auch Ramon keine Ausnahme.
TOBIAS Im Westen?
RAMON In Polen, du Blödmann.
CHOR Im Westen! Der ist gut!
TOBIAS Aber du hast ihn noch gekannt, oder?
RAMON Der hat meine Mutter sitzen lassen, da war ich zwei drei Jahre alt. Da hatten wir auch noch mehr Kühe.
CHOR Nase zu Puh, wie das gestunken haben muß!
RAMON Wir kommen auch ohne ihn klar. Und ich hab Freunde.
TOBIAS Du bist der Vater hier.
RAMON Menzel ist der Führer.
TOBIAS Hier?
RAMON Von der Bande.
TOBIAS Bande, wie das klingt.
RAMON Gut klingt das, und nicht jeder darf das sagen.
CHOR Nicht jeder darf dabei sein, nein. Und nicht jeder ist wie Ramon. Jetzt sitzt er auf dem Moped. Sein Haar ist ganz kurz. Das Gel drin läßt es glänzen. Er riecht nach dem Deo aus der Werbung, wie hieß das noch, vergessen …
RAMON Zigarette?
CHOR Der Kuhmist stinkt und Ramon duftet.
RAMON Glaub bloß nicht, man kann damit verdienen. Was die für die Milch zahlen, ist ein Witz. Wenn man das rechnet, machen wir minus. Mit jedem verschissenen Liter. Ich lass mich von meiner Mutter auf gar keinen Fall bezahlen, außer Taschengeld natürlich, prost, sonst könnten wir uns das alles nicht leisten. Scheiß-EU. Der deutsche Bauer ist hier nichts mehr wert. Den haben die Großbetriebe und die Ökos ruiniert. Zigarette?
Sirene
von fern, näher … vorbei.
CHOR Und während Tobi rätselt, was jetzt Scheiß-EU bedeuten soll und ob er schon wieder eine rauchen soll, rast die Feuerwehr vorbei. Wenn man nichts macht, dann brennt der Wald.
TOBIAS Was Eisen nicht heilt, heilt Feuer.
RAMON Was?
TOBIAS Sagt Philipp immer.
RAMON Ich muß jetzt, machs gut.
TOBIAS Wohin?
RAMON Sehn, wos brennt.
CHOR Ramon zum Beispiel, seht ihn euch an. Sieht aus wie ein Kanake, heißt wie ein Kanake, ist katholisch wie ein Kanake, hört Kanakenkaraoke und ist trotzdem deutsch total und komplett von hier. Solche suchen wir.
Feuer.
Übergehend in Traumbild: Regen/Dusche/Tropen/Italienische Oper …
RAMONS MUTTER schwarzam weißen Pfahl der Kolonisatoren: „Der Hof war verlassen, außer von dem Geier, der An ein Wagenrad gekettet mit den Flügeln schlug. Im Keller zwischen den Leichen wartete er auf mich Der mir aus der Hand lesen wollte. Diagnose NOSTALGISCHER KREBS. Flucht in den Hof verfolgt vom Lächeln des Handlesers. Der Geier von seinen Flugversuchen an der Kette gänzlich auf das Wagenrad geflochten, hackte nach dem Himmel. Die Wolken sanfte, gewaltige Tiere in dem schwarzen Blau, das in den Hof fiel.“
Wolkenbruch
und Blitzschlag.
TOBIAS einziger Zuschauer des Dramas, nimmt sein BMX-Rad auf und radelt ab in Szene 14.
Die Holzbildhauerei war auch eine Option. Sarah Finkel ist offenbar eine vielseitig begabte junge Frau. Sie solle ihre tolle Stimme nutzen und diese beruflich einsetzen – zum Beispiel beim Radio, rieten ihr die einen. Auf keinen Fall dürfe sie ihre künstlerisch-kreative Ader verkümmern lassen, meinten die anderen. Also probierte sie erst einmal die bildende Kunst und studierte Holzbildhauerei in dem schönen Ort Oberammergau.
Sarah Finkel als No in »No und ich« (Foto: Thomas Braun)
»Es hat Spaß gemacht. Aber irgendwas hat gefehlt«, sagt die junge Frau mit der dunklen Lockenmähne. Während ihrer Schulzeit in Landshut hat sie Theater gespielt. Warum also nicht versuchen, das Kapital aus künstlerischer Ader und interessanter Stimme zusammen zu nutzen. »Ich habe dann beschlossen, es einfach zu probieren und an Schauspielschulen vorsprechen zu gehen«, erzählt Sarah Finkel. Es hat auf Anhieb geklappt an der Athanor Akademie für Darstellende Kunst in Passau, wo sie von 2013-2017 ihre Schauspielausbildung absolvierte. »Da hatte ich meine innere Ruhe und mein Glück gefunden und das Gefühl richtig zu sein«, sagt die junge Frau. Ihre ersten Berufserfahrungen sammelte sie als freie Schauspielerin in Kurzfilmen und in mehreren Stückengagements am Theater Paderborn. Unter anderem entwickelte sie zum Thema 100 Jahre Frauenwahlrecht einen feministischen Schlagerabend über die Entwicklung der Rolle der Frau von 1919 bis 2019. »Wir sind in den 100 Jahren weit gekommen«, sagt sie, »aber wir dürfen uns nicht ausruhen.« Der Gesang ist ihre große Leidenschaft und der Einsatz für die Rechte der Frauen ein wichtiges, persönliches Anliegen.
Sarah Finkel als Jameelah in »Tigermilch« (Foto: David Klumpp)
Zwei Sommer lang spielte sie im Kulturmobil Niederbayern, einer professionellen Schauspieltruppe, die ganz den Ursprüngen des Schauspielerberufes verpflichtet ist: Die Schauspieler ziehen von Ort zu Ort und spielen dort für die Menschen abseits der Theaterzentren. Für den Sommer 2019 hatte sie ihr Engagement für das Kulturmobil bereits unterschrieben, als die Einladung zum Vorsprechen aus dem Theater Heilbronn kam. Sarah Finkel überzeugte die Heilbronner Theaterleitung und saß in der Zwickmühle. Die Proben für ihr erstes Stück im Jungen Theater liefen parallel zu denen für das niederbayerische Volksstück »Unkraut«, mit dem sie auf Tournee gehen wollte. Und während ihre neuen Kollegen des Heilbronner Schauspielensembles Sommerpause hätten, würde sie Abend für Abend in einem anderen Ort auf der Bühne stehen und spielen. Nix mit Erholung. »Aber wenn man seinen Vertrag unterzeichnet hat, dann lässt man die Kollegen nicht im Stich«, beschloss Sarah Finkel und stellte mit dieser Entscheidung schon mal eine der wichtigsten Tugenden eines Schauspielers unter Beweis: absolute Zuverlässigkeit. Mit den Heilbronnern einigte sie sich, dass sie zeitversetzt zu ihren Verpflichtungen beim Kulturmobil proben konnte. Und so spielte sie den ganzen Sommer lang vor einem begeisterten Publikum und brach mit ihrer Truppe vom Kulturmobil alle Zuschauerrekorde. Kaum war der letzte Vorhang für »Unkraut« gefallen, startete sie in ihre erste Spielzeit im Festengagement am Jungen Theater Heilbronn.
Sarah Finkel als Jameelah in »Tigermilch« (Foto: David Klumpp)
Ein schönes Haus und ein guter Spielplan, das ist das erste, was ihr zum Theater Heilbronn einfällt. Alles andere will sie auf sich zukommen lassen und erst einmal spielen, spielen, spielen mit dem schönen Gefühl, ein zweijähriges Festengagement zu haben. »Mir ist klar, dass ich in diesen zwei Jahren im Jungen Theater kaum von der Bühne herunterkommen werde«, sagt Sarah Finkel. Ihren Einstand gibt sie als Nowlen, eine 18-jährige Obdachlose in dem Stück »No und ich« von Delphine de Vigan. Ein großartiges Stück, wie sie findet. Sehr aktuell, ohne moralischen Zeigefinger. Auch wenn sie das Gefühl von Obdachlosigkeit nicht kennt, fühlt sie sich ihrer Figur nahe, denn auch sie weiß, was es heißt, für das persönliche Glück zu kämpfen. Ihr Lebensmotto stammt von Samuel Beckett und lautet: »Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail Better.«
Ein Gespräch mit Dr. Mirjam Meuser über »Erinnerung ist Liebe zur Zukunft«
Aus Anlass des 30. Jahrestages des Mauerfalls widmet sich das Theater Heilbronn in einer ganzen Veranstaltungsreihe dem Thema Deutsche Einheit. Unter dem Titel »Erinnerung ist Liebe zur Zukunft« finden monatliche Lesungen, Gesprächsrunden und Filmabende in Kooperation mit dem Kinostar Arthaus-Kino statt. Inhalt aller Veranstaltungen ist es, gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungen aus ihrem historischen Kontext heraus zu untersuchen. Kuratorin der Reihe ist Dr. Mirjam Meuser, Dramaturgin am Theater Heilbronn. Pressereferentin Silke Zschäckel hat sich mit ihr unterhalten.
Dr. Mirjam Meuser (Foto: Thomas Braun)
S.Z.: »Erinnerung ist Liebe zur
Zukunft« – ein sehr schöner, sehr poetischer Titel: Woher kommt er?
M.M.: Eigentlich ist das der
Titel eines Heiner-Müller-Interviews, nur leicht abgewandelt. Der Titel heißt
ursprünglich »Nekrophilie ist Liebe zur Zukunft«. Die Liebe zu den Toten, das
Ausgraben der Toten – das ist die Liebe zur Zukunft. Das ist ein Zentralmotiv
im ganzen Müller’schen Werk. Ich habe das umgewandelt in »Erinnerung ist Liebe zur
Zukunft«, damit es nicht ganz so morbid klingt. Und zum anderen gibt es in der
Geschichtswissenschaft das Teilgebiet der Erinnerungsforschung, und darauf
wollte ich mich beziehen.
S.Z.: Woher rührt dein Interesse
für dieses Thema – die Beschäftigung mit der deutsch-deutschen, insbesondere
auch mit der ostdeutschen Geschichte, obwohl du aus Bayern stammst?
M.M.: Zunächst mal liegt das an
meinem grundsätzlichen Interesse für Geschichte. Und dann ist es eine
Geschichte, mit der ich unmittelbar konfrontiert worden bin, weil ich während
meines Studiums in Berlin sehr viele Menschen aus Ostdeutschland kennengelernt
habe, unter anderem meinen Doktorvater. Der brachte mir Heiner Müller nahe, und
damit war es unweigerlich verbunden, dass ich anfing, mich mit der ostdeutschen
und der deutsch-deutschen Geschichte zu beschäftigen. Ich lernte einen ganz
anderen Blick auf die historische Vergangenheit kennen, als ich ihn in der
Schule erlebt habe oder als im Westen Geschichte reflektiert wurde. Da wurde
die ganze Historie des Sozialismus ausgespart, die gab es nicht – oder eben
erst ab 1989. In bin in meinem Literaturstudium komischerweise immer wieder bei
den ostdeutschen Professoren gelandet, ohne dass ich vorher wusste, dass sie
aus der ehemaligen DDR kommen. Und bei den Philosophen, die ich aus Ostdeutschland
kennengelernt habe, spielte das Lehren von Zusammenhängen eine größere Rolle
als beim Studium im Westen, wo das Vertiefen in einzelne Positionen und Autoren
wichtig war, weniger das Woher und das Wohin.
S.Z.: Nach welchen Aspekten hast
du die Reihe konzipiert? Welche Themen wolltest du unbedingt drin haben?
M.M.: Ich habe die Reihe nicht
allein konzipiert. Das war eine Gemeinschaftsarbeit, da sind Ideen vom gesamten
Leitungsteam dabei. Wir haben versucht,
verschiedene Themenschwerpunkte zu setzen. Es war klar, dass es eine
Auftaktveranstaltung geben soll, in der wir die letzten 30 Jahre noch mal
untersuchen. Eine Veranstaltung zum Wirken der Treuhand war Axel Vornam und Uta Koschel, die auch
mitgedacht hat, sehr wichtig. Für mich persönlich ist auch die
Geopolitik-Veranstaltung von Belang, weil ich möchte, dass wir das Thema in
einen größeren globalen Kontext stellen. Denn mit 1989/90 ist nicht nur die DDR
verschwunden, sondern auch die alte BRD. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks hat
ein massiver weltweiter Veränderungsprozess begonnen. Das kommt erst jetzt so
langsam im gesellschaftlichen Bewusstsein an. Und dann war mir auch wichtig,
die Vorgeschichte der friedlichen Revolution anzuschauen. Die kam ja nicht aus
dem nichts. Welche Entwicklungen haben eigentlich dazu geführt, dass am Ende
die Mauer aufging?
S.Z.: Hast du eine Veranstaltung,
auf die du dich ganz besonders freust?
M.M.: Ich freu mich auf die
erste, weil ich auf die unterschiedlichen Sichtweisen sehr gespannt bin. Wir
haben eine Frau auf dem Podium, Adriana Lettrari, Gründerin des »Netzwerks 3te
Generation Ostdeutschland«, die inzwischen in der Wirtschaftsberatung tätig
ist, außerdem den Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz und den Theatermann Axel
Vornam, die von Martin Sabrow, einem sehr profilierten Historiker befragt
werden. Ich glaube, das kann sehr spannend werden. Ich freue mich auch sehr auf
die Treuhand-Veranstaltung, ein Thema, bei dem, glaube ich, noch viel
Aufarbeitung notwendig ist. Auch da bin ich gespannt auf das Podium. Wir haben den
investigativen Journalisten Dirk Laabs eingeladen, außerdem Marcus Böick, einen
jungen Historiker, der mit seiner Dissertation die erste historische
Aufarbeitung der Geschichte der Treuhand geschrieben hat. Und für die
Moderation kommt André Steiner, ein renommierter Wirtschaftshistoriker, der
sowohl die Geschichte der DDR als auch der BRD kennt.
S.Z.: War es schwierig, die sehr
hochkarätigen Gäste von dem Konzept zu überzeugen oder haben gleich alle
gesagt: Wir sind dabei?
M.M.: Ich habe sehr oft die
Erfahrung gemacht, dass die Leute das Konzept gut finden und dass sie deshalb
auch gerne kommen.
S.Z.: Was erhoffst du dir von
dieser Reihe? Sowohl von den einzelnen Abenden als auch als Quintessenz am
Ende?
M.M.: Von den Abenden erhoffe ich
mir spannende Diskussionen, von denen ich mir wünsche, dass sich das Publikum
miteinbeziehen lässt. Ich hoffe auf einen Dialog, einen Austausch – letztlich
auch zwischen Ost und West, um die vielen Vorurteile, die es doch noch gibt,
aufzubrechen und einander besser verstehen zu lernen. Es wäre schön, wenn es
gelingen würde, die subjektiven Sichten und die historischen Zusammenhänge besser
miteinander ins Verhältnis zu setzen. Das wäre mir ganz wichtig.
»Man braucht gar nicht vor ein Publikum zu treten, wenn man nicht bereit ist, etwas von seiner Lebenserfahrung, seinen Gefühlen, seinen Meinungen und seiner Fantasie Preis zu geben.« Ivan
Eine Szene aus den Proben.
Im Generationenclub treffen Welten aufeinander, jung, alt,
Ost, West, verwurzelt, zugezogen, Nord, Süd, nah und fern. Alle Spieler bringen
ihre Lebensgeschichten und -erfahrungen mit, aus denen ein eigenes Stück
entsteht.
In diesem Jahr ist die Stückentwicklung »Das Gewebe der
Gegenwart braucht rote Fäden« entstanden. Orientiert am Spielzeitmotto
SINNSUCHER_NoLimits haben sich die Spieler auf die Suche gemacht nach dem, was
dem Leben einen Sinn gibt. Geschichten, Erfahrungen, Lebensfäden werden immer
wieder verknüpft, beschreibt Andrea die Entstehung des Stückes.
Ob es Geschichten aus ihrer Kindheit in einer anderen fernen
Heimat sind, Geschichten vom Ankommen, Geschichten vom Altsein, vom Jungsein.
Manche Geschichten erzählen über Krieg, der sich vor über siebzig in das Leben
der Menschen einschrieb, als die Erzählenden noch Kinder waren. Jetzt wird er mit
den Erfahrungen junger Menschen von heute in Verbindung gebracht. Parallelen zu
den Erzählungen Geflüchteter, die heute in Deutschland Schutz suchen, werden
offenbar. So laufen hier jeden Mittwoch Geschichten aus vielen Ländern und
Kulturen, unterschiedlicher Generationen zusammen und werden im Spiel
verwoben.
Aus den Proben.
Egal ob die Spieler seit der ersten Stunde des Generationenclubs
vor sechs Jahren wie Ivan, Bruni, Beate, Edi, Andrea und Barbara dabei oder erst in den
letzten Monaten hinzugekommen sind wie Stefan, Sebastian, Alara und Sam, sie
alle finden im wöchentlichen Training zueinander. In der Arbeit – mit
Clubleiterin Evelyn Döbler – am eigenen Stück lernen sie alle viel über sich und
die anderen und erfahren, wie aus einer willkürlichen Gruppe eine Gemeinschaft
wachsen kann. Dank des Clubs, sagt Andrea, habe sie gelernt, zu sehen welches
Potential in ihr selbst und auch den anderen schlummert.
Es ist die Freude, die Gemeinschaft, das gemeinsame
Nachdenken, das Spielen, das Lachen, die Verbindung mit den anderen, das
voneinander Lernen, was die Clubber antreibt, sich jeden Mittwoch zu treffen. Es
ist das Zuhören, das Gehörtwerden, das ihnen Kraft, Hoffnung, Stärke gibt einen
Platz zu finden, im Club, in der Gruppe, aber auch den eigenen Platz in der
Gesellschaft besser auszuloten. Das
alles übertragen sie in ihre Stücke.
Wie Achtsam bin ich gegenüber anderen? Wie gehen wir miteinander um? Wo ist mein Platz in dieser Gesellschaft? Was können wir voneinander lernen? Was verbindet uns? Was trennt uns? Was gibt uns Halt? Wonach suchen wir im Leben? Das sind die Fragen denen sie sich gestellt haben. Jede Woche treten sie miteinander neu in Kontakt. Begegnen sich freundschaftlich mit Vertrauen, Verständnis und ihren Texten, die sie im Spiel zusammenbringen. Beharrlich und mit großem Einfühlungsvermögen für jeden einzelnen treibt Clubleiterin Evelyn Döbler die Gruppe voran. Mit Disziplin, Kraft und Kreativität suchen sie nach dem Verbindenden im Club und in der Gesellschaft. So wird der Club für sie zu einem Ort des Ankommens, der Erdung, der Einbettung im Hier und Jetzt, in Heilbronn. Ihr Stück ist der Wunsch, etwas davon hinauszutragen, von diesem Gefühl der Gemeinschaft und den Geschichten, die in ihr entstehen können.
Die Statistinnen von »Hexenjagd« erzählen über ihre Erfahrungen.
Die Statistinnen mit Stella Goritzki und Stefan Eichberg. Foto: Jochen Quast
Anfang Januar 2019
sind 27 junge Mädchen und Frauen im Alter von 13 bis 24 Jahren dem Aufruf des
Theaters gefolgt, um an dem Statistinnen-Casting für die Inszenierung von
Arthur Millers »Hexenjagd« teilzunehmen. Regisseurin Uta Koschel und
Dramaturgin Sophie Püschel suchten für die Inszenierung eine Gruppe junger
Mädchen, die die Schauspielerinnen Stella Goritzki und Ipek Özgen bei verschiedenen
Szenen als »Mädchen aus Salem« unterstützen.
Wir haben einige der Statistinnen
über ihre Motivation, sich für das Casting zu bewerben, befragt:
Anna Lena Knecht: »Theaterspielen macht mir extrem viel
Spaß. Ein paar aus dem Kolpingtheater und mein Vater haben mich auf einen
Artikel der Heilbronner Stimme aufmerksam gemacht, in dem stand, dass
Statistinnen gesucht werden. Daraufhin habe ich mich für das Casting
angemeldet.«
Lilly Eichberg: »Ich war wahnsinnig interessiert, wie die
Entwicklung von der ersten Probe, bis hin zum komplett fertigen Stück abläuft.
Ich wollte wissen, wie es ist ein Teil des Ganzen zu sein.«
Anna Laukhuf: »Ich liebe Theater und mich reizte die
Vorstellung, eine andere Perspektive und Rolle einzunehmen und mich aktiv am
Schauspielgeschehen zu beteiligen, anstatt die Position der Zuschauerin zu
bekleiden. Außerdem fand ich es verlockend, so Einblicke in die Prozesse hinter
der Bühne zu bekommen und ein Stück von der Idee bis hin zur fertigen Inszenierung
zu begleiten.«
Die Mädchen aus Salem
spielen in »Hexenjagd« eine entscheidende Rolle, denn ihr Vergehen: nachts im
Wald zu tanzen, setzt die Ereignisse in dem kleinen Ort in Gang. In der streng
puritanischen Gemeinde Salem sind solch weltliche Vergnügen wie Tanzen oder das
Lesen von Büchern strengstens verboten. Als die Mädchen beim Tanzen entdeckt
werden, brechen einige von ihnen ohnmächtig zusammen, aus Angst vor der ihnen
drohenden Strafe. Unter ihnen ist auch die Tochter des Pfarrers Parris, als sie
nicht mehr aus ihrer Ohnmacht erwachen will, keimt schnell das Gerücht von
Hexerei auf. Auf der Suche nach Schuldigen werden die Mädchen ins Verhör
genommen und unter Druck gesetzt, zu gestehen bzw. der Hexerei Schuldige zu
benennen. Von nun an greifen Denunziationen und Misstrauen um sich. Die Bezichtigung,
ein Werkzeug des Teufels zu sein, eignet sich bestens, um unliebsame Gegner aus
dem Weg zu räumen. So wird Salem im Zuge der Hexenprozesse in eine Art
Massenhysterie aus Lügen, Angst und Machtmissbrauch versetzt.
Szenenfoto aus »Hexenjagd« Foto: Jochen Quast.
Aus dem Casting sind zwei
Gruppen von je fünf Statistinnen hervorgegangen. Die meisten brachten bereits
erste Erfahrungen aus Theater-AGs und -clubs oder früheren Statistinnenrollen
mit.
Doch der
professionelle Theaterbetrieb hielt für sie neue Eindrücke und einige Überraschungen
bereit.
Anna Laukhuf: »Vor allem ist mir aufgefallen, wie
leidenschaftlich die Schauspieler oder auch andere Mitarbeiter ihre Arbeit
ausüben. Man spürt eine Atmosphäre, die davon geprägt ist, dass jeder seine
Arbeit als Berufung und nicht bloß als Job ansieht.«
Christiane Staudacher berichtete: Ȇberrascht haben mich die vielen und
unterschiedlichen Abteilungen, die ein so großes Haus besitzt und den für eine
Produktion notwendig sind. Angefangen bei den Kostümen, die alle selbst genäht werden,
hin zum Bühnenbild, das exklusiv für jede einzelne Produktion angefertigt wird,
bis zur Gesamtorganisation einer solch großen Produktion, vor und hinter der
Bühne.«
Einen neuen Blick, was eine Inszenierung alles umfasst,
gewann auch Leonie Decker:
»Überrascht hat mich, wieviel Wert auf jedes Detail in Make-up, Bühnenbild und
Text gelegt wurde. Unsere Kostüme wurden alle maßgeschneidert und es galt zu
unserem Leid striktes BH-Verbot, nur um auch wirklich den Eindruck der Zeit
einzufangen, welcher von der Regisseurin gewünscht wurde. Als Zuschauer hatte
ich nie bemerkt, wie viele Ideen von verschiedenen Seiten in ein einzelnes
Stück fließen, um dieses komplett werden zu lassen. Darauf werde ich zukünftig,
wenn ich ins Theater gehe, mehr achten.«
Im März begann für die
Schauspielerinnen und Schauspieler die sechswöchige Probenzeit und natürlich
auch für die Statistinnen. Für die Mädchen war es eine bereichernde und
zusammenschweißende Zeit.
Szenenfoto »Hexenjagd«; Foto: Steffen Nödl
Matilda Martinez über die Proben: »Es gab so viele kleine
Momente, Momente mit den anderen Statistinnen, den Schauspielern: Es waren alle
so offen und nett, die Atmosphäre war einfach jedes Mal so unbeschreiblich.«
Leonie Decker verriet uns: »Wir als Statistinnengruppe untereinander hatten Backstage wahnsinnig viel Spaß und ich habe jede einzelne meiner Mitstatistinnen als Freundin lieb gewonnen. Zudem wurde durch dieRegisseurin und die anderen Darsteller auf der Bühne eine Atmosphäre kreiert, welche mich motiviert hat auf der Bühne mein Bestes zu geben. Im Kopf geblieben ist mir, als wir das erste Mal unsere „Vogelszene“ probten, welche sehr intensiv war. Es hat uns einiges an Mimik und Stimme abverlangt, aberda alle hochmotiviert mitmachten, in mir auch ein Hochgefühl ausgelöst. Somit würde ich das als „schönsten Probenmoment“ bezeichnen.«
Hinter den Kulissen. Foto: Steffen Nödl
Am 4. Mai 2019 ging es dann für das Ensemble und die erste Gruppe der Mädchen aus Salem auf die Bühne des Großen Hauses. Seitdem spielen abwechselnd die beiden Gruppen in den Vorstellungen.
Szenenfoto »Hexenjagd«; Foto: Jochen Quast
Für Anna Laukhuf war gerade der Abend der Premiere ganz
besonders: »Mein schönster Moment waren die letzten gemeinsamen Erlebnisse
hinter der Bühne vor der Premiere. Fast jeder hat dem anderen ein kleines
Glücks-Präsent überreicht, was mich sehr gerührt hat. Alle Geschenke enthielten
auch – direkt oder indirekt – eine Botschaft, die mit dem Stück zu tun hatte.
Mich hat begeistert, wie viel Gedanken sich alle darüber gemacht haben und wie
viel Wertschätzung auch uns als Statistinnen entgegengebracht wurde.«
Wie viel Arbeit und Disziplin hinter den Proben und den
Vorstellungen steckt, hat Lilly Eichberg beeindruckt: »Auf den Proben oder in
den Pausen während Vorstellungen wird manchmal rumgealbert. Trotzdem müssen
dann alle zum richtigen Zeitpunkt wieder konzentriert sein und ihre Arbeit
machen, wenn es weiter geht. Das war eine gute Erkenntnis.«
Ob sich die Erwartungen, mit denen sich die Mädchen beim Casting beworben haben, in Erfüllung gingen wollten wir natürlich auch von ihnen wissen.
Hinter den Kulissen. Foto: Steffen Nödl
Anna Lena Knecht: »Ich hatte keine konkreten Erwartungen,
sondern viel mehr die Hoffnung, dass auch wir Statistinnen gut in die
Schauspielgruppe integriert werden. Dies hat sich definitiv erfüllt.«
Leonie Decker: »Ich hatte die Erwartungshaltung als
Statisten wäre man »nur« eine Hintergrundfigur und würde auch dementsprechend
behandelt. Jedoch die freundliche und auch unterstützende Art, welche die
anderen Darsteller und Mitarbeiter gegenüber uns Statistinnen hatten, hat dafür
gesorgt, dass ich mich sofort wertgeschätzt gefühlt habe.«
Matilda Martinez: »Um ehrlich zu sein, wusste ich gar nicht,
was auf mich zukommen würde und ich habe viel mehr daran gedacht, das Casting
aus Spaß zu machen. Mittlerweile bin ich mehr als froh, dass ich diese
Erfahrung machen durfte.
Und wie fühlt es sich an, auf der Bühne im Großen Haus zu stehen?
Szenenfoto »Hexenjagd«, Foto Steffen Nödl
Matilda Martinez: »Es ist unbeschreiblich, auf der großen Bühne
stehen zu dürfen. Mit den »Großen« zu spielen, zu sehen, wie sie die Charaktere
verkörpern, von ihnen zu lernen … . Man kann dieses Gefühl nicht beschreiben,
es ist einfach ein pures Glücksgefühl, das so viele verschiedene Emotionen
freisetzt.«
Lilly Eichberg: »Es macht total viel Spaß! Während der
Vorstellung ist man auf der Bühne meistens sehr konzentriert. Man vergisst
fast, dass man auf der Bühne im Großen Haus steht und einem so viele Leute zusehen. Ich realisiere das meist erst,
wenn ich wieder von der Bühne runter bin.«
Christiane Staudacher: »Auf einer Bühne zu stehen, ist für
mich ein unbeschreibliches Erlebnis. Ich fühle mich dort einfach wohl. Ein
Traum ist für mich in Erfüllung gegangen.«
Für alle war es eine aufregende und
besondere Zeit. Auf die Frage ob sie es noch mal machen würden, haben alle sofort
mit JA! geantwortet.
Szenenfoto »Hexenjagd«, Foto: Jochen Quast
Leonie Kurz: »Auf jeden Fall würde ich es nochmal machen! Es
macht einfach unglaublich viel Spaß, und kein Abend ist wie der andere!«
Christiane Staudacher: »Meine Erfahrungen am Theater Heilbronn
möchte ich auf keinen Fall missen, und wer weiß, was die Zukunft für mich
vorhat?«
Lilly Eichberg: »Auf jeden Fall! Es hat sehr viel Spaß
gemacht, und ich habe viele neue Erfahrungen gesammelt.«
Matilda Martinez: »Ich würde es jederzeit wieder tun. Das
Casting, die Proben, die Vorstellungen würde ich nicht mehr missen wollen.«
Leonie Decker: » Die Erfahrung am Theater hat mich viele
Dinge gelehrt und in meinem Leben weitergebracht, des Weiteren hat es Spaß
gemacht und mich mit neuen Menschen zusammengeführt. Meine Antwort lautet: 100% Ja!«
Wir danken allen Statistinnen von »Hexenjagd« für ihre Unterstützung und Spielfreude. Wer sie noch mal auf der Bühne erleben möchte hat noch am 6., 12. & 14. Juli die Gelegenheit.
Ein Probenbesuch bei der »Gärtnerin«
Mozarts »La finta giardiniera« probt (noch) auf der Probebühne
Die Pause ist vorbei. Geprobt wird der Anfang des zweiten Aktes. Laut Libretto befinden wir uns in einer Halle im Palast des Podestà, des Bürgermeisters von Lagonero (deutsch: Schwarzensee). Real befinden wir uns auf der Probebühne 2 im Probenzentrum in der Christophstraße. Noch sind die Stellwände aus Pappkarton. Die davor stehenden Gartenmöbel für die Gartenoper sind schon die Originale, die bei der Premiere von »La finta giardiniera« auf der BUGA zum Einsatz kommen werden.
Die Darsteller von »La finta giardiniera« hier noch im Probenzentrum. (Foto: Andreas Donders)
»Alles OK?« fragt Regisseur Axel Vornam seine (noch) unsichtbaren Sänger hinter der Kulisse. »Seid ihr so weit? Los geht’s.« Auftritt Manuela Vieira von rechts. Arminda war im ersten Akt eigentlich nach Lagonero gekommen, um sich mit dem Grafen Belfiore zu verloben. Dummerweise hat er kurz vor der Pause seine tot geglaubte Ex Violante wieder getroffen. Kein Wunder, dass die mondäne Arminda auf die Bühne rast, im kleinen Schwarzen, mit Sonnenbrille und topmodischer Handtasche, die sie in ihrer Erregung auf einen der Gartenstühle wirft.
So ist es zumindest gedacht. Diesmal fällt die Handtasche neben den
Stuhl. »Stop«, unterbricht Axel Vornam lachend, »Manuela hat sich verworfen.« Die Szene beginnt von vorne. Wegen so einer
Lappalie unterbrechen? Aber natürlich, denn jedes Detail einer Inszenierung hat
seine Bedeutung. Dass die Handtasche da landet, wo sie landen soll, ist für den
weiteren Verlauf des Geschehens nicht ganz unwichtig: In einer späteren Szene
kommt sie genau auf diesem Stuhl als zentrales Requisit zum Einsatz, wenn das
Dienstmädchen Serpetta (Clémence Boullu) ein diebisches Interesse am Inhalt
hat.
Aber zurück zur Szene. Korrepetitorin Jinhee Park gibt am Klavier den
Einsatz. Recitativo. Auftritt Paul Sutton von hinten. Der Graf Belfiore kommt auf
die »Terrasse« und muss sich den Fragen und Vorwürfen Armindas
stellen. Die steigern sich zur virtuosen Arie »Vorrei punirti indegno« (Ich wollte dich bestrafen, Unwürdiger), nicht
umsonst »Aria
agitata« bezeichnet.
Aufgeputscht von Leidenschaft und Eifersucht reißt Arminda ihren abgewandten
Bräutigam herum. Ein glückliches Paar sieht anders aus. Und hier sieht man, was
sich in der Inszenierung Axel Vornams durch die ganze Oper ziehen wird: Es sind
die Frauen, die die Hosen anhaben und den Männern zeigen, wo es lang geht. Im
Falle von Beatriz Simoes in der »Hosenrolle« des Contino Ramiro ganz buchstäblich.
Noch etwas wird in der kleinen Szene klar: Mit »La finta giardiniera« bedient der damals erst 18jährige Wolfgang
Amadeus Mozart zwar die gängigen Typen und Muster der komischen Oper seiner
Zeit, aber – wie um 1775 üblich – gehören durchaus auch ernste Momente und
tiefe Leidenschaften zum Repertoire. Deshalb nennt Mozart »La finta« auch »Dramma giocoso« – ein »lustiges
Drama«.
Diese Probe ist schon fast eine der letzten im Probenzentrum. In der darauffolgenden Woche geht es auf die Bundesgartenschau. »Oh Dio, oh Numi« singt Manuela Vieira, alias Arminda, gerade im nächsten Rezitativ. Genau! Mögen die Wettergötter der Gärtnerin gewogen sein!
Die Premiere der Oper »La Finta Giardiniera« ist am Sonntag 9. Juni 2019, 20:00 Uhr auf der Sparkassenbühne auf dem BUGA-Gelände.
Die Kostüme der »Affäre Rue de Lourcine« forderten den
Einfallsreichtum unseres Herrenschneidermeisters Tilo Voss heraus. Denn die Kleidung
der beiden ehemaligen Internatsabsolventen Lenglumé und Mistingue sollte nicht
nur die glorreichen Zeiten des Slapsticks aus der Stummfilmzeit erinnern,
sondern muss auch auf der Theaterbühne für Einiges herhalten.
»Die Affäre Rue de Lourcine« (v.l.n.r. Marek Egert, Nils Brück und Hannes Rittig)
Die Schnittmuster für die historischen Hosen im
Buster-Keaton- / Charlie-Chaplin-Stil waren schnell entwickelt, doch wie sollten
die Zusatzfunktionen in der Hose des Lenglumé untergebracht werden, ohne dass
die Hose völlig aus der Form geriet?
In dieser Hose verschwinden nicht nur jede Menge Requisiten,
sondern auch der Hausherr selbst. Das stellte den Schneidermeister vor die Herausforderung
eine überproportionale Hose zu entwerfen, die jedoch zunächst möglichst normal aussieht.
Bereits die historischen Hosen der Stummfilmhelden, die als Vorbild dienten, sind
zu groß für ihre Träger. Die Proportionen weichen vom klassischen Hosenschnitt ab.
Wie lässt sich das noch steigern, so dass der Schauspieler
Nils Brück nahezu komplett verschwinden kann?
Nils Brück bei der Anprobe
In mehreren Schritten haben Schneidermeister und Schauspieler
sich an die endgültige Ausgestaltung der Hose herangetastet, bis alles saß. Vom
tieferen Schnitt über die Einarbeitung eines Stretchkeils aus dehnbarem Stoff,
eingelegte Falten in die Seitennäthe und die Verlängerung der Hose am Bund wurde
sie immer wieder überarbeitet. Die Stoffmengen mussten so gut eingearbeitet
werden, dass sie den Proportionen der Hose des zweiten Hauptdarstellers Hannes
Rittig ähnlich blieben. Die Zusatzfunktionen wie die sieben Taschen, in denen
ganze Wasserflaschen verschwinden, sollen natürlich nicht vorab erkennbar sein.
Die Bewährung fand die Hose dabei im
Praxistest während der Proben: Ob jetzt einer oder mehrere Druckknöpfe oder
Magneten die zusätzlichen Stoffe verschwinden lassen, testet Nils Brück immer
wieder im Spiel, bis es optimal passte.
So wurde der Prototyp dieser ungewöhnlichen Hose in enger Zusammenarbeit von Schneiderei und Schauspieler weiterentwickelt, bis daraus das fertige Kostüm der Inszenierung entstand.
Das Ergebnis könnt Ihr noch zwei Mal in der »Affäre Rue de Lourcine« bewundern. Und achtet genau drauf, was alles in der Hose verschwindet oder aus ihr heraus zum Vorschein kommt, um die Erinnerungslücken der durchzechten Nacht der beiden Zechbrüder zu füllen.
»Die Affäre Rue de Lourcine« läuft nur noch am 25. und 26. April 2019 im Komödienhaus des Theaters Heilbronn.