Dreizehnte Szene oder Das Stück im Stück

Der Berliner Publizist und Dramatiker Thomas Martin hat eigens für das Theater Heilbronn den Debütroman von Lukas Rietzschel »Mit der Faust in die Welt schlagen« bearbeitet. Dafür hat er einen ganz eigenen sprachlichen und theatralen Zugriff auf den Stoff gefunden.

Die hier veröffentlichte Szene 13 ist in dieser Form nicht auf der Bühne zu sehen, sie hat sich im Lauf der Probenarbeit verändert. Statt der Figur des Tobias‘ ist es in Axel Vornams Inszenierung der ältere Bruder Philipp, der seinen Mitschüler Ramon auf dem ehemaligen LPG-Hof aufsucht.
Die hier veröffentlichte Szene 13 ist in dieser Form nicht auf der Bühne zu sehen, sie hat sich im Lauf der Probenarbeit verändert. Statt der Figur des Tobias‘ ist es in Axel Vornams Inszenierung der ältere Bruder Philipp, der seinen Mitschüler Ramon auf dem ehemaligen LPG-Hof aufsucht. Die Lektüre der ursprünglichen Szene 13 von Thomas Martin ermöglicht nicht nur einen Eindruck seines Schreibansatzes, sondern hinterfragt auch die Form des Erzählens im Theater und damit sich selbst.

13. LPG

Ramons Hof. Tobias, Ramon. Elli. Ramons Mutter.

CHOR
Ein Feld, ein Weg, ein Feld. Dann wieder ein Feld. Abgeerntet, Spuren von Traktoren, die Sonne frei, der Himmel wolkenlos. Ein Gelb, ein Blau.

ELLI
War van Gogh je in der sächsischen Oberlausitz? In Sorbien?

CHOR
Steine auf der Straße an den Feldeinfahrten. Lehmfarbener Acker soweit du sehen kannst, bis Tschechien, bis Polen. Zwischen den Feldern die Höfe. Alte Höfe, große Tore, meistens morsch. Alte Höfe, leere Höfe. LPG-Höfe.

TOBIAS
EllPeGE, was heißt das eigentlich?

CHOR
Die Gärten klein, zur Straße hin von Maschendraht begrenzt. Ramons Häuschen grün gestrichen. Er und seine Mutter plus Geschwister wohnen in einem der drei Häuser, die der Hof mal waren. Der Hof daneben: ZU VERKAUFEN. Ramons Mutter hält Kühe. Kühe und Kinder, sonst hält sie nichts.

TOBIAS unschlüssig am Tor, klopft.

CHOR Nase zu
Wie das stinkt!

ELLI
Aber die geben doch die gute Milch.

CHOR
Und warum ist die so billig, daß der Bauer nicht mal leben kann davon?

ELLI
Weil ihr in der Schule nicht aufgepaßt habt, Honks, darum!

TOBIAS
Weil die uns plattmachen hier in unserm Freilichtmuseum.

CHOR
Ah, Philipp der Kluge. Er spricht!
Quatsch, sieh doch mal hin, das ist Tobias. Der kleinere von beiden.
Und was will der beim großen Ramon?
Ist doch egal, wer das ist, bei Brüdern spielt das keine Rolle.
Genau, ganz egal, wer wen hier spielt, solang wir fantasieren.
Tobi oder Philipp, eh alles nur Theater. Wie bei den Räubern.
WIE BEI DEN RÄUBERN.
Und sie sehn sich so ähnlich, zwei Jahre Altersunterschied, was macht das schon.
WIE BEI DEN RÄUBERN.
Ganz gewöhnliches Theater. Genau.
Bretter und der elektrische Mond und dahinter die Fleischbank, die allein echt ist.
WIE BEI DEN RÄUBERN.
Aber Rindfleisch muß es sein.
WIE BEI DEN RÄUBERN, WIE BEI …

ELLI
Chöre, mein Gott!

CHOR
Wir haben Chöre gesehen der Arbeiter
Haben Chöre gesehen des Proletariats
Chöre der kommunistischen Genossen
Sogar Chöre auf dem Land, Bauernchöre
Haben wir gesehen, aber noch keinen
Chor, der den Kapitalismus repräsentiert.

ELLI
Was für ein Chor sollte das denn sein, bitte?

CHOR
Wir!

TOBIAS
Obzwar ich schon Bauklötzer staune, ganz glauben kann ich das nicht.

ELLI
Hör nicht hin, ist der blanke Populismus.

TOBIAS
Hör ja gar nicht hin.

CHOR
Die alte Form des Dramas ermöglicht es nicht, die Welt so darzustellen, wie wir sie heute sehen!

ELLI
Ganz recht, schließlich dramatisieren wir Romane. Neue Romane! Romane einer ganz neuen Generation. Und nicht nur das: Wir dramatisieren ein Volk. Gut, gut: ein ehemaliges, ein halbes. Aber was red ich, wo wir doch seit … ja seit wann eigentlich? ein Volk sind, ein einiges, echtes, das sein Volksein leben will, verstehen will, versteht sich. Die Sehnsucht nach Echtheit wächst natürlich mit dem Fortschritt digitaler Welten, in der Kunst vor allem. Seht euch doch um, wenn ihr euch umseht. Trotzdem hat die zeitgenössische Dramatik derzeit keinen leichten Stand. Selbst an den Theatern nicht. Erst recht an den Theatern nicht. Das Drama: ein Relikt. Die Postdramatik löst sich im Performativen auf wie Silber in der Säure, Stadtteilprojekte, Recherchen, Bürgerbühnen und offene Formate reagieren schneller und politischer. Das Vertrauen in das Miteinander von Regie und Dramatik schwindet, auch bei uns. Dabei gibt es doch beim Publikum eine Sehnsucht nach Erzählungen, nicht wahr. Das steht sogar in der Zeitung. Und kein Unterschied zu sehen zwischen Ost und West … und da können wir nun konstatieren: Hier ist die Einheit nach nur 30 Jahren doch erreicht, im Dramatisieren von Romanen. Hut ab, kann ich da nur sagen, wenn ich einen hätte.

TOBIAS sitzt auf dem Boden und flickt an seinem BMX herum
Wenn das eine Regieanweisung wäre, würde ich lesen: „Sitzt auf der Erde und flickt an seinem BMX-Rad rum.“ Ich habs verstanden.

CHOR
Aber wem gehört der Roman, und wem das Drama? Wem gehört das Theater?

ELLI
Wo ihr fragt, da sollt ihr Antwort haben: 80 Prozent der, jawohl, 140 öffentlichen Theater in Deutschland sind renovierungsbedürftig. Es gab zwei Bauwellen von Theatern, zwischen 1890 und 1910 und dann die schönen Häuser nach dem Weltkrieg, dem zweiten. Und ihr könnt eben nicht 50 Jahre lang nichts an einem Bauwerk machen, denn dann fällt es zusammen. Und das ist bei uns hier der Fall. Ich kann nur sagen, seht euch um. Jeder Hausbesitzer weiß, er muß fünf bis zehn Prozent der Bausumme jährlich für Reparatur und Sanierung aufwenden. Das ist wie auf einem Bauernhof, weil Eigentum, ihr habts gehört, verpflichtet, auch und erst recht das geistige. Bei den Theatern hat man das gespart. Weggespart. Mit erheblichen Folgekosten, liebes Publikum, neutral bleiben nützt hier gar nichts. Schlägt ja alles zurück auf die Preise, die Öffentliche Hand. Wir subventionieren den eigenen Verfall, kann ich dazu nur sagen. Außerdem sind unsere Theater zu klein geworden: Lüftung, Klima, Brandschutz, Werkstätten, Fundus, all das braucht heute viel mehr Platz. Vom Publikum, das uns die Buden einrennt, gar nicht zu reden, da habt ihrs.

CHOR
Die Theater sind also von heute aus betrachtet gar nicht zukunftsfähig, meinst du das?

ELLI
In der Tat, das meine ich, sie sind nicht zukunftsfähig. Wir haben ein Drittel weniger Festangestellte als noch vor elf Jahren, und mit dieser knappen Personaldecke spielen wir 69.900 Vorstellungen, fast 300 pro Tag, das ist Weltrekord! Im künstlerischen Bereich bekommen auch immer weniger von uns Festverträge, ich weiß, wovon ich rede. Alle im Theater werden ausgequetscht wie die Zitronen. Ich bin nicht sicher, ob das Bild trägt, aber ihr wißt, was ich meine. Das Theater ist doch der Ort, an dem Visionen entwickelt werden, an dem die gesellschaftlichen Zustände kritisch hinterfragt werden, stimmts nicht? Da fangen wir am besten gleich bei uns selber an.

CHOR uneins mit sich selbst
Es handelt sich hier offensichtlich aristotelische Einfühlungs-Dramatik. Die Nachteile dieser Technik könnten bis zu einem gewissen Grad ausgeglichen werden, wenn man das Stück zusammen mit einem Dokumentenfilm, der die Vorgänge in Spanien zeigt, oder irgendeiner propagandistischen Veranstaltung aufführen würde … was meint ihr?

TOBIAS zwischen verträumt und zu doof am Fahrrad
Spanien? Ich war noch nie in Spanien …

RAMON aus dem Off hinter dem Bretterzaun
Du kannst nicht neutral bleiben, Theresa!

RAMONS MUTTER Off
Für dich immer noch Mutti, mein Sohn!

ELLI
Jawohl, denn es gibt eine Sehnsucht nach tragischen Konflikten. Nach Gesprächskatalysatoren. Nach Dialog. Absurderweise aber wird danach nicht in der Dramatik gesucht, sondern im Roman. Ist zeitgenössische Dramatik zu komplexeren Erzählungen nicht mehr in der Lage? Wer, wenn nicht die Theater, kann professionellen Begleitschutz dafür bieten, frage ich? Sprechen wir über die Besitzverhältnisse! Zurück zu den Wurzeln, back to the roots! Und dem Zeitgeist auf den Fersen! Die nichtdramatische Form wird gern auch deshalb in Kauf genommen, weil Romaninszenierungen zu publikumsgenerierenden Wiedererkennungseffekten führen. Titel, die in der SPIEGEL-Bestsellerliste vorkommen, sind einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Theaterstücke kommen – wenn überhaupt – nur noch als hochspezialisierte Nischengattung auf dem Buchmarkt vor. Versucht es selbst: findet erstens einen Buchladen, zweitens dort eine Ausgabe mit Stücken, viel Glück! Aber genug jetzt, weiter im Text, dem Roman hinterher, Leser, mir nach: Tobias legt also sein BXM-Rad endlich auf dem Feldweg ab und stellt sich vor das Tor von Mutter Mehlschwitz, da kommt sie. Er sieht durch das rissige Holz auf den Hof. Ablauf: immer der gleiche. Fragen, ob derjenige rauskommen dürfe, von dem man hoffe, daß …

TOBIAS technisch auf der Höhe der Zeit:
Ist Ramon da? Darf er mal raus?

CHOR
Ist Ramon da? Darf er mal raus?

TOBIAS
Darf er?

ELLI
Und wenn die Eltern die Tür öffnen, auch immer das Gleiche.

CHOR
DARF RAMON RAUS? NEIN, DARF ER NICHT. JA, DARF ER DOCH.

»Mit der Faust in die Welt schlagen«; Friedrike Pöschel (Ramons Mutter), Romy Klötzel (Elli)
Foto: Candy Welz

RAMONS MUTTER erscheint in der Türe wie im Folgenden exakt beschrieben:

ELLI
Ramons Mutter: rotgefärbte Haare, fett geschminkt, mit Schmuck behängt, Typ polnische Friseuse, und immer eine Fluppe zwischen den auch rotgefärbten Lippen, hat wohl grad Suppe für die jüngsten auf dem Herd.

TOBIAS
Ich kenne Sie von BILLIGLAND, wo sie an der Kasse sitzen, weil sie den Hof allein nicht halten können. Ist ja nicht mehr LPG, nein, Besitz, das haben wir gelernt, verpflichtet, Frau Mehlschwitz.

RAMONS MUTTER
Genau. Wer hat, der kann machen, was er will damit. Verpißt euch.

CHOR
Wir wollen nichts lernen.

RAMONS MUTTER
Ja, weil ihr viele seid. Aber wieviel seid ihr noch?

CHOR
Genug.

RAMONS MUTTER
Und was habt ihr?

CHOR
Nicht viel.

RAMONS MUTTER
Woher sollt ihr von Besitz was wissen, woher ich? Hat uns keiner in die Hand gegeben. War Volkseigentum das alles, privat war eher Staatsvergehn, hast kaum mehr davon gehabt als Ärger. Nur Unterricht, das war das einzige. Lernen, lernen, nochmals lernen. Tag, Tobi, Ramon ist im Schuppen.

TOBIAS
Danke, Frau Mehlschwitz.

RAMONS MUTTER
Aber nicht rauchen, das fliegt sonst alles in die Luft hier wegen dem vielen Altöl von früher.

CHOR
Er wollte noch fragen, wo der Schuppen und wie er dorthin, aber da schloss sie von innen die Tür ab. Drehte den Schlüssel zwei Mal und ein drittes Mal.

TOBIAS
Stille. Und Gestank. Und Fliegen, sie verfolgen mich.

CHOR
Hab dich nicht so, kleiner Mann. Sind bloß Fliegen, gewöhnliche Fliegen. Und die stechen nicht. Sie erinnern nur an das, was zu tun ist, Tobias.

TOBIAS
Wie das aussieht hier …

ELLI
Zerbrochene Betonplatten im Hof. Als ob hier Panzer durchgefahren wärn oder der Schaufelbagger vom Tagebau nebenan. Korrigiere mich wie folgt: Zerbrochene im was ein Hof gewesen war … ein Baumstrunk in der Mitte, eine Plastebank davor. Nur eine von drei Hausfassaden gestrichen, sonst grauer Putz, der fröhlich bröckelt. Die Fenster offen oder fehlen ganz. Buntes Spielzeug, ein Bagger, ein Traktor umgekippt auf dem Boden neben Pflanzenkübeln.

CHOR
Ramon hat auch einen Bruder oder zwei sogar, der weiß, was das heißt. Immer einen Kleinen an den Hacken.

TOBIAS
Und überall der Gestank und die Fliegen.

ELLI
Dafür hat die Garage ja gottseidank kein Dach, ist also immer schön Durchzug.

RAMON
Hey.

TOBIAS
Scheiße.

RAMON
Was?

TOBIAS
Daß ich einfach mal Hallo sagen wollte und du erschreckst mich.

CHOR
Wie erbärmlich er aussehen muss in Ramons Augen. Wie der totale Untermensch. Die Flasche. Aber Ramon!

ELLI
An die Werkbank gelehnt, unter weißen Neonröhren, eine flackert, ein Moped, frisch lackiert.

RAMON
Meine Mutter lässt jeden rein, der die Klingel findet. Ich sag ihr, dass sie da aufpassen soll, ich bin ja auch nicht immer da. Ist gefährlich hier draußen, Zigarette?

TOBIAS
Nein, danke muß nicht sein.

RAMON raucht
Ist gut gegen die Fliegen.

ELLI
An den Wänden Blechschilder RADEBERGER PILSNER, eine verblasste Dynamofahne und das Poster einer Frau, die ihre Beine spreizt, das sich an zwei Ecken gelöst hat und sich im Zugwind hinundherbewegt …

CHOR
Oh, und das viele Werkzeug ringsherum, Hammer und Sichel …

RAMON
Hier sind manchmal Leute unterwegs, ich sag dir. Willst du was trinken?

TOBIAS
Was hast du denn?

CHOR
Klasse Antwort, TobiasPhilipp, gut gemacht. Mach weiter so.

RAMON
Radeberger und noch nen Kasten Zeckenbier.

TOBIAS
Radeberger, das ist gut.

RAMON
Kalt wär besser.

TOBIAS
Bier ist Bier.

»Mit der Faust in die Welt schlagen«; Sven Marcel Voss (Philipp), Arne Löber (Ramon)
Foto: Candy Welz

CHOR
Hört, hört! Bier ist Bier!

ELLI
Ramon grinst, Tobias unterdrückt ein Würgen. Ein schlaffer Wind ergreift das Poster, läßt es an den losen Enden träge flattern. Das Papier so dünn, dass es sich anhört, als könnte eine Fliege sich nicht von der Wand lösen, wo der klebrige Leim von der Falle sie hält.

CHOR „Fliegen
Ssssssss…chnlllzsch…p…lopp!

TOBIAS
Na dann: Prost, Ramon.

RAMON
Tobi, prost!

ELLI
Tobias sieht, wie es reißt, das Poster, an den Beinen der Gespreizten entlang … Ramon nimmt einen Schluck aus der Flasche, die freie Hand fährt lässig über den gepolsterten Sitz seines Mopeds. Und ich, ich mach mich vom Hof jetzt.

Ab.

RAMON
Deine Alte arbeitet doch im Krankenhaus. Da verdient die doch bestimmt ganz gut.

TOBIAS
Alte?

RAMON
Mutti, Mensch.

TOBIAS
Weiß nicht, kann sein.

RAMON
Habt ihr ein Auto?

TOBIAS
Renault.

CHOR
Das ist doch kein Auto! Oder denkt er etwa auch: Auto ist Auto?

RAMON
Warum bist du hergekommen?

TOBIAS
Was du alles hast hier, ganz schön alt.

RAMON
Mein Vater hat den kompletten Scheiß hier gelassen. Richtig gutes Werkzeug aus der DDR. Kein Billigscheiß, den du bei OBI kaufst.

CHOR
Was er jetzt plötzlich gegen OBI hat? OBI ist doch super, OBI sind die besten.

TOBIAS
Wo ist dein Vater eigentlich?

RAMON
Hat sich verpisst und fickt sich drüben durch.

CHOR
Ein Vaterproblem. Da macht auch Ramon keine Ausnahme.

TOBIAS
Im Westen?

RAMON
In Polen, du Blödmann.

CHOR
Im Westen! Der ist gut!

TOBIAS
Aber du hast ihn noch gekannt, oder?

RAMON
Der hat meine Mutter sitzen lassen, da war ich zwei drei Jahre alt. Da hatten wir auch noch mehr Kühe.

CHOR Nase zu
Puh, wie das gestunken haben muß!

RAMON
Wir kommen auch ohne ihn klar. Und ich hab Freunde.

TOBIAS
Du bist der Vater hier.

RAMON
Menzel ist der Führer.

TOBIAS
Hier?

RAMON
Von der Bande.

TOBIAS
Bande, wie das klingt.

RAMON
Gut klingt das, und nicht jeder darf das sagen.

CHOR
Nicht jeder darf dabei sein, nein. Und nicht jeder ist wie Ramon. Jetzt sitzt er auf dem Moped. Sein Haar ist ganz kurz. Das Gel drin läßt es glänzen. Er riecht nach dem Deo aus der Werbung, wie hieß das noch, vergessen …

RAMON
Zigarette?

CHOR
Der Kuhmist stinkt und Ramon duftet.

RAMON
Glaub bloß nicht, man kann damit verdienen. Was die für die Milch zahlen, ist ein Witz. Wenn man das rechnet, machen wir minus. Mit jedem verschissenen Liter. Ich lass mich von meiner Mutter auf gar keinen Fall bezahlen, außer Taschengeld natürlich, prost, sonst könnten wir uns das alles nicht leisten. Scheiß-EU. Der deutsche Bauer ist hier nichts mehr wert. Den haben die Großbetriebe und die Ökos ruiniert. Zigarette?

Sirene von fern, näher … vorbei.

CHOR
Und während Tobi rätselt, was jetzt Scheiß-EU bedeuten soll und ob er schon wieder eine rauchen soll, rast die Feuerwehr vorbei. Wenn man nichts macht, dann brennt der Wald.

TOBIAS
Was Eisen nicht heilt, heilt Feuer.

RAMON
Was?

TOBIAS
Sagt Philipp immer.

RAMON
Ich muß jetzt, machs gut.

TOBIAS
Wohin?

RAMON
Sehn, wos brennt.

CHOR
Ramon zum Beispiel, seht ihn euch an. Sieht aus wie ein Kanake, heißt wie ein Kanake, ist katholisch wie ein Kanake, hört Kanakenkaraoke und ist trotzdem deutsch total und komplett von hier. Solche suchen wir.

Feuer. Übergehend in Traumbild: Regen/Dusche/Tropen/Italienische Oper …

RAMONS MUTTER schwarz am weißen Pfahl der Kolonisatoren:
„Der Hof war verlassen, außer von dem Geier, der
An ein Wagenrad gekettet mit den Flügeln schlug.
Im Keller zwischen den Leichen wartete er auf mich
Der mir aus der Hand lesen wollte. Diagnose
NOSTALGISCHER KREBS. Flucht in den Hof
verfolgt vom Lächeln des Handlesers. Der Geier
von seinen Flugversuchen an der Kette gänzlich
auf das Wagenrad geflochten, hackte nach
dem Himmel. Die Wolken sanfte, gewaltige
Tiere in dem schwarzen Blau, das in den Hof fiel.“

Wolkenbruch und Blitzschlag.

TOBIAS einziger Zuschauer des Dramas, nimmt sein BMX-Rad auf und radelt ab in Szene 14.

»Mit der Faust in die Welt schlagen« könnt ihr noch bis zum 19. Mai 2020 im Großen Haus sehen.

Unsere Neuen: Sarah Finkel

Die Holzbildhauerei war auch eine Option. Sarah Finkel ist offenbar eine vielseitig begabte junge Frau. Sie solle ihre tolle Stimme nutzen und diese beruflich einsetzen – zum Beispiel beim Radio, rieten ihr die einen. Auf keinen Fall dürfe sie ihre künstlerisch-kreative Ader verkümmern lassen, meinten die anderen. Also probierte sie erst einmal die bildende Kunst und studierte Holzbildhauerei in dem schönen Ort Oberammergau.

Sarah Finkel als No in »No und ich« (Foto: Thomas Braun)

»Es hat Spaß gemacht. Aber irgendwas hat gefehlt«, sagt die junge Frau mit der dunklen Lockenmähne. Während ihrer Schulzeit in Landshut hat sie Theater gespielt. Warum also nicht versuchen, das Kapital aus künstlerischer Ader und interessanter Stimme zusammen zu nutzen.
»Ich habe dann beschlossen, es einfach zu probieren und an Schauspielschulen vorsprechen zu gehen«, erzählt Sarah Finkel. Es hat auf Anhieb geklappt an der Athanor Akademie für Darstellende Kunst in Passau, wo sie von 2013-2017 ihre Schauspielausbildung absolvierte. »Da hatte ich meine innere Ruhe und mein Glück gefunden und das Gefühl richtig zu sein«, sagt die junge Frau. Ihre ersten Berufserfahrungen sammelte sie als freie Schauspielerin in Kurzfilmen und in mehreren Stückengagements am Theater Paderborn. Unter anderem entwickelte sie zum Thema 100 Jahre Frauenwahlrecht einen feministischen Schlagerabend über die Entwicklung der Rolle der Frau von 1919 bis 2019. »Wir sind in den 100 Jahren weit gekommen«, sagt sie, »aber wir dürfen uns nicht ausruhen.« Der Gesang ist ihre große Leidenschaft und der Einsatz für die Rechte der Frauen ein wichtiges, persönliches Anliegen.

Sarah Finkel als Jameelah in »Tigermilch« (Foto: David Klumpp)

Zwei Sommer lang spielte sie im Kulturmobil Niederbayern, einer professionellen Schauspieltruppe, die ganz den Ursprüngen des Schauspielerberufes verpflichtet ist: Die Schauspieler ziehen von Ort zu Ort und spielen dort für die Menschen abseits der Theaterzentren. Für den Sommer 2019 hatte sie ihr Engagement für das Kulturmobil bereits unterschrieben, als die Einladung zum Vorsprechen aus dem Theater Heilbronn kam. Sarah Finkel überzeugte die Heilbronner Theaterleitung und saß in der Zwickmühle. Die Proben für ihr erstes Stück im Jungen Theater liefen parallel zu denen für das niederbayerische Volksstück »Unkraut«, mit dem sie auf Tournee gehen wollte. Und während ihre neuen Kollegen des Heilbronner Schauspielensembles Sommerpause hätten, würde sie Abend für Abend in einem anderen Ort auf der Bühne stehen und spielen. Nix mit Erholung. »Aber wenn man seinen Vertrag unterzeichnet hat, dann lässt man die Kollegen nicht im Stich«, beschloss Sarah Finkel und stellte mit dieser Entscheidung schon mal eine der wichtigsten Tugenden eines Schauspielers unter Beweis: absolute Zuverlässigkeit. Mit den Heilbronnern einigte sie sich, dass sie zeitversetzt zu ihren Verpflichtungen beim Kulturmobil proben konnte. Und so spielte sie den ganzen Sommer lang vor einem begeisterten Publikum und brach mit ihrer Truppe vom Kulturmobil alle Zuschauerrekorde. Kaum war der letzte Vorhang für »Unkraut« gefallen, startete sie in ihre erste Spielzeit im Festengagement am Jungen Theater Heilbronn.

Sarah Finkel als Jameelah in »Tigermilch« (Foto: David Klumpp)

Ein schönes Haus und ein guter Spielplan, das ist das erste, was ihr zum Theater Heilbronn einfällt. Alles andere will sie auf sich zukommen lassen und erst einmal spielen, spielen, spielen mit dem schönen Gefühl, ein zweijähriges Festengagement zu haben. »Mir ist klar, dass ich in diesen zwei Jahren im Jungen Theater kaum von der Bühne herunterkommen werde«, sagt Sarah Finkel. Ihren Einstand gibt sie als Nowlen, eine 18-jährige Obdachlose in dem Stück »No und ich« von Delphine de Vigan. Ein großartiges Stück, wie sie findet. Sehr aktuell, ohne moralischen Zeigefinger. Auch wenn sie das Gefühl von Obdachlosigkeit nicht kennt, fühlt sie sich ihrer Figur nahe, denn auch sie weiß, was es heißt, für das persönliche Glück zu kämpfen. Ihr Lebensmotto stammt von Samuel Beckett und lautet: »Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail Better.«

Vorurteile aufbrechen und Geschichte(n) verstehen

Ein Gespräch mit Dr. Mirjam Meuser über »Erinnerung ist Liebe zur Zukunft«

Aus Anlass des 30. Jahrestages des Mauerfalls widmet sich das Theater Heilbronn in einer ganzen Veranstaltungsreihe dem Thema Deutsche Einheit. Unter dem Titel »Erinnerung ist Liebe zur Zukunft« finden monatliche Lesungen, Gesprächsrunden und Filmabende in Kooperation mit dem Kinostar Arthaus-Kino statt. Inhalt aller Veranstaltungen ist es, gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungen aus ihrem historischen Kontext heraus zu untersuchen. Kuratorin der Reihe ist Dr. Mirjam Meuser, Dramaturgin am Theater Heilbronn. Pressereferentin Silke Zschäckel hat sich mit ihr unterhalten.

Dr. Mirjam Meuser (Foto: Thomas Braun)

S.Z.: »Erinnerung ist Liebe zur Zukunft« – ein sehr schöner, sehr poetischer Titel: Woher kommt er?

M.M.: Eigentlich ist das der Titel eines Heiner-Müller-Interviews, nur leicht abgewandelt. Der Titel heißt ursprünglich »Nekrophilie ist Liebe zur Zukunft«. Die Liebe zu den Toten, das Ausgraben der Toten – das ist die Liebe zur Zukunft. Das ist ein Zentralmotiv im ganzen Müller’schen Werk. Ich habe das umgewandelt in »Erinnerung ist Liebe zur Zukunft«, damit es nicht ganz so morbid klingt. Und zum anderen gibt es in der Geschichtswissenschaft das Teilgebiet der Erinnerungsforschung, und darauf wollte ich mich beziehen.

S.Z.: Woher rührt dein Interesse für dieses Thema – die Beschäftigung mit der deutsch-deutschen, insbesondere auch mit der ostdeutschen Geschichte, obwohl du aus Bayern stammst?

M.M.: Zunächst mal liegt das an meinem grundsätzlichen Interesse für Geschichte. Und dann ist es eine Geschichte, mit der ich unmittelbar konfrontiert worden bin, weil ich während meines Studiums in Berlin sehr viele Menschen aus Ostdeutschland kennengelernt habe, unter anderem meinen Doktorvater. Der brachte mir Heiner Müller nahe, und damit war es unweigerlich verbunden, dass ich anfing, mich mit der ostdeutschen und der deutsch-deutschen Geschichte zu beschäftigen. Ich lernte einen ganz anderen Blick auf die historische Vergangenheit kennen, als ich ihn in der Schule erlebt habe oder als im Westen Geschichte reflektiert wurde. Da wurde die ganze Historie des Sozialismus ausgespart, die gab es nicht – oder eben erst ab 1989. In bin in meinem Literaturstudium komischerweise immer wieder bei den ostdeutschen Professoren gelandet, ohne dass ich vorher wusste, dass sie aus der ehemaligen DDR kommen. Und bei den Philosophen, die ich aus Ostdeutschland kennengelernt habe, spielte das Lehren von Zusammenhängen eine größere Rolle als beim Studium im Westen, wo das Vertiefen in einzelne Positionen und Autoren wichtig war, weniger das Woher und das Wohin.

S.Z.: Nach welchen Aspekten hast du die Reihe konzipiert? Welche Themen wolltest du unbedingt drin haben?

M.M.: Ich habe die Reihe nicht allein konzipiert. Das war eine Gemeinschaftsarbeit, da sind Ideen vom gesamten Leitungsteam dabei. Wir haben versucht,  verschiedene Themenschwerpunkte zu setzen. Es war klar, dass es eine Auftaktveranstaltung geben soll, in der wir die letzten 30 Jahre noch mal untersuchen. Eine Veranstaltung zum Wirken der Treuhand  war Axel Vornam und Uta Koschel, die auch mitgedacht hat, sehr wichtig. Für mich persönlich ist auch die Geopolitik-Veranstaltung von Belang, weil ich möchte, dass wir das Thema in einen größeren globalen Kontext stellen. Denn mit 1989/90 ist nicht nur die DDR verschwunden, sondern auch die alte BRD. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks hat ein massiver weltweiter Veränderungsprozess begonnen. Das kommt erst jetzt so langsam im gesellschaftlichen Bewusstsein an. Und dann war mir auch wichtig, die Vorgeschichte der friedlichen Revolution anzuschauen. Die kam ja nicht aus dem nichts. Welche Entwicklungen haben eigentlich dazu geführt, dass am Ende die Mauer aufging?

S.Z.: Hast du eine Veranstaltung, auf die du dich ganz besonders freust?

M.M.: Ich freu mich auf die erste, weil ich auf die unterschiedlichen Sichtweisen sehr gespannt bin. Wir haben eine Frau auf dem Podium, Adriana Lettrari, Gründerin des »Netzwerks 3te Generation Ostdeutschland«, die inzwischen in der Wirtschaftsberatung tätig ist, außerdem den Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz und den Theatermann Axel Vornam, die von Martin Sabrow, einem sehr profilierten Historiker befragt werden. Ich glaube, das kann sehr spannend werden. Ich freue mich auch sehr auf die Treuhand-Veranstaltung, ein Thema, bei dem, glaube ich, noch viel Aufarbeitung notwendig ist. Auch da bin ich gespannt auf das Podium. Wir haben den investigativen Journalisten Dirk Laabs eingeladen, außerdem Marcus Böick, einen jungen Historiker, der mit seiner Dissertation die erste historische Aufarbeitung der Geschichte der Treuhand geschrieben hat. Und für die Moderation kommt André Steiner, ein renommierter Wirtschaftshistoriker, der sowohl die Geschichte der DDR als auch der BRD kennt.

S.Z.: War es schwierig, die sehr hochkarätigen Gäste von dem Konzept zu überzeugen oder haben gleich alle gesagt: Wir sind dabei?

M.M.: Ich habe sehr oft die Erfahrung gemacht, dass die Leute das Konzept gut finden und dass sie deshalb auch gerne kommen.

S.Z.: Was erhoffst du dir von dieser Reihe? Sowohl von den einzelnen Abenden als auch als Quintessenz am Ende?

M.M.: Von den Abenden erhoffe ich mir spannende Diskussionen, von denen ich mir wünsche, dass sich das Publikum miteinbeziehen lässt. Ich hoffe auf einen Dialog, einen Austausch – letztlich auch zwischen Ost und West, um die vielen Vorurteile, die es doch noch gibt, aufzubrechen und einander besser verstehen zu lernen. Es wäre schön, wenn es gelingen würde, die subjektiven Sichten und die historischen Zusammenhänge besser miteinander ins Verhältnis zu setzen. Das wäre mir ganz wichtig.

Hier geht es zum Programm der Reihe: https://www.theater-heilbronn.de/programm/erinnerung/erinnerung.php

Wie aus Heilbronner Lebensgeschichten Theater wird

»Man braucht gar nicht vor ein Publikum zu treten, wenn man nicht bereit ist, etwas von seiner Lebenserfahrung, seinen Gefühlen, seinen Meinungen und seiner Fantasie Preis zu geben.« Ivan

Eine Szene aus den Proben.

Im Generationenclub treffen Welten aufeinander, jung, alt, Ost, West, verwurzelt, zugezogen, Nord, Süd, nah und fern. Alle Spieler bringen ihre Lebensgeschichten und -erfahrungen mit, aus denen ein eigenes Stück entsteht.

In diesem Jahr ist die Stückentwicklung »Das Gewebe der Gegenwart braucht rote Fäden« entstanden. Orientiert am Spielzeitmotto SINNSUCHER_NoLimits haben sich die Spieler auf die Suche gemacht nach dem, was dem Leben einen Sinn gibt. Geschichten, Erfahrungen, Lebensfäden werden immer wieder verknüpft, beschreibt Andrea die Entstehung des Stückes.

Ob es Geschichten aus ihrer Kindheit in einer anderen fernen Heimat sind, Geschichten vom Ankommen, Geschichten vom Altsein, vom Jungsein. Manche Geschichten erzählen über Krieg, der sich vor über siebzig in das Leben der Menschen einschrieb, als die Erzählenden noch Kinder waren. Jetzt wird er mit den Erfahrungen junger Menschen von heute in Verbindung gebracht. Parallelen zu den Erzählungen Geflüchteter, die heute in Deutschland Schutz suchen, werden offenbar. So laufen hier jeden Mittwoch Geschichten aus vielen Ländern und Kulturen, unterschiedlicher Generationen zusammen und werden im Spiel verwoben. 

Aus den Proben.

Egal ob die Spieler seit der ersten Stunde des Generationenclubs vor sechs Jahren wie Ivan, Bruni, Beate,  Edi, Andrea und Barbara dabei oder erst in den letzten Monaten hinzugekommen sind wie Stefan, Sebastian, Alara und Sam, sie alle finden im wöchentlichen Training zueinander. In der Arbeit – mit Clubleiterin Evelyn Döbler – am eigenen Stück lernen sie alle viel über sich und die anderen und erfahren, wie aus einer willkürlichen Gruppe eine Gemeinschaft wachsen kann. Dank des Clubs, sagt Andrea, habe sie gelernt, zu sehen welches Potential in ihr selbst und auch den anderen schlummert.

Es ist die Freude, die Gemeinschaft, das gemeinsame Nachdenken, das Spielen, das Lachen, die Verbindung mit den anderen, das voneinander Lernen, was die Clubber antreibt, sich jeden Mittwoch zu treffen. Es ist das Zuhören, das Gehörtwerden, das ihnen Kraft, Hoffnung, Stärke gibt einen Platz zu finden, im Club, in der Gruppe, aber auch den eigenen Platz in der Gesellschaft besser auszuloten.  Das alles übertragen sie in ihre Stücke.

Wie Achtsam bin ich gegenüber anderen? Wie gehen wir miteinander um? Wo ist mein Platz in dieser Gesellschaft? Was können wir voneinander lernen? Was verbindet uns? Was trennt uns? Was gibt uns Halt? Wonach suchen wir im Leben? Das sind die Fragen denen sie sich gestellt haben. Jede Woche treten sie miteinander neu in Kontakt. Begegnen sich freundschaftlich mit Vertrauen, Verständnis und ihren Texten, die sie im Spiel zusammenbringen. Beharrlich und mit großem Einfühlungsvermögen für jeden einzelnen treibt Clubleiterin Evelyn Döbler die Gruppe voran. Mit Disziplin, Kraft und Kreativität suchen sie nach dem Verbindenden im Club und in der Gesellschaft. So wird der Club für sie zu einem Ort des Ankommens, der Erdung, der Einbettung im Hier und Jetzt, in Heilbronn. Ihr Stück ist der Wunsch, etwas davon hinauszutragen, von diesem Gefühl der Gemeinschaft und den Geschichten, die in ihr entstehen können.

»Das Gewebe der Gegenwart hat rote Fäden« seht Ihr am 12. Oktober um 18.00 Uhr und am 13. Oktober um 15.00 Uhr in der BOXX.

Zum ersten Mal auf der großen Bühne

Die Statistinnen von »Hexenjagd« erzählen über ihre Erfahrungen.

Die Statistinnen mit Stella Goritzki und Stefan Eichberg. Foto: Jochen Quast

Anfang Januar 2019 sind 27 junge Mädchen und Frauen im Alter von 13 bis 24 Jahren dem Aufruf des Theaters gefolgt, um an dem Statistinnen-Casting für die Inszenierung von Arthur Millers »Hexenjagd« teilzunehmen. Regisseurin Uta Koschel und Dramaturgin Sophie Püschel suchten für die Inszenierung eine Gruppe junger Mädchen, die die Schauspielerinnen Stella Goritzki und Ipek Özgen bei verschiedenen Szenen als »Mädchen aus Salem« unterstützen.

Wir haben einige der Statistinnen über ihre Motivation, sich für das Casting zu bewerben, befragt:

Anna Lena Knecht: »Theaterspielen macht mir extrem viel Spaß. Ein paar aus dem Kolpingtheater und mein Vater haben mich auf einen Artikel der Heilbronner Stimme aufmerksam gemacht, in dem stand, dass Statistinnen gesucht werden. Daraufhin habe ich mich für das Casting angemeldet.«

Lilly Eichberg: »Ich war wahnsinnig interessiert, wie die Entwicklung von der ersten Probe, bis hin zum komplett fertigen Stück abläuft. Ich wollte wissen, wie es ist ein Teil des Ganzen zu sein.«

Anna Laukhuf: »Ich liebe Theater und mich reizte die Vorstellung, eine andere Perspektive und Rolle einzunehmen und mich aktiv am Schauspielgeschehen zu beteiligen, anstatt die Position der Zuschauerin zu bekleiden. Außerdem fand ich es verlockend, so Einblicke in die Prozesse hinter der Bühne zu bekommen und ein Stück von der Idee bis hin zur fertigen Inszenierung zu begleiten.«

Die Mädchen aus Salem spielen in »Hexenjagd« eine entscheidende Rolle, denn ihr Vergehen: nachts im Wald zu tanzen, setzt die Ereignisse in dem kleinen Ort in Gang. In der streng puritanischen Gemeinde Salem sind solch weltliche Vergnügen wie Tanzen oder das Lesen von Büchern strengstens verboten. Als die Mädchen beim Tanzen entdeckt werden, brechen einige von ihnen ohnmächtig zusammen, aus Angst vor der ihnen drohenden Strafe. Unter ihnen ist auch die Tochter des Pfarrers Parris, als sie nicht mehr aus ihrer Ohnmacht erwachen will, keimt schnell das Gerücht von Hexerei auf. Auf der Suche nach Schuldigen werden die Mädchen ins Verhör genommen und unter Druck gesetzt, zu gestehen bzw. der Hexerei Schuldige zu benennen. Von nun an greifen Denunziationen und Misstrauen um sich. Die Bezichtigung, ein Werkzeug des Teufels zu sein, eignet sich bestens, um unliebsame Gegner aus dem Weg zu räumen. So wird Salem im Zuge der Hexenprozesse in eine Art Massenhysterie aus Lügen, Angst und Machtmissbrauch versetzt.

Szenenfoto aus »Hexenjagd« Foto: Jochen Quast.

Aus dem Casting sind zwei Gruppen von je fünf Statistinnen hervorgegangen. Die meisten brachten bereits erste Erfahrungen aus Theater-AGs und -clubs oder früheren Statistinnenrollen mit.

Doch der professionelle Theaterbetrieb hielt für sie neue Eindrücke und einige Überraschungen bereit.

Anna Laukhuf: »Vor allem ist mir aufgefallen, wie leidenschaftlich die Schauspieler oder auch andere Mitarbeiter ihre Arbeit ausüben. Man spürt eine Atmosphäre, die davon geprägt ist, dass jeder seine Arbeit als Berufung und nicht bloß als Job ansieht.«

Christiane Staudacher berichtete: »Überrascht haben mich die vielen und unterschiedlichen Abteilungen, die ein so großes Haus besitzt und den für eine Produktion notwendig sind. Angefangen bei den Kostümen, die alle selbst genäht werden, hin zum Bühnenbild, das exklusiv für jede einzelne Produktion angefertigt wird, bis zur Gesamtorganisation einer solch großen Produktion, vor und hinter der Bühne.«

Einen neuen Blick, was eine Inszenierung alles umfasst, gewann auch Leonie Decker:
»Überrascht hat mich, wieviel Wert auf jedes Detail in Make-up, Bühnenbild und Text gelegt wurde. Unsere Kostüme wurden alle maßgeschneidert und es galt zu unserem Leid striktes BH-Verbot, nur um auch wirklich den Eindruck der Zeit einzufangen, welcher von der Regisseurin gewünscht wurde. Als Zuschauer hatte ich nie bemerkt, wie viele Ideen von verschiedenen Seiten in ein einzelnes Stück fließen, um dieses komplett werden zu lassen. Darauf werde ich zukünftig, wenn ich ins Theater gehe, mehr achten.«

Im März begann für die Schauspielerinnen und Schauspieler die sechswöchige Probenzeit und natürlich auch für die Statistinnen. Für die Mädchen war es eine bereichernde und zusammenschweißende Zeit.

Szenenfoto »Hexenjagd«; Foto: Steffen Nödl

Matilda Martinez über die Proben: »Es gab so viele kleine Momente, Momente mit den anderen Statistinnen, den Schauspielern: Es waren alle so offen und nett, die Atmosphäre war einfach jedes Mal so unbeschreiblich.«

Leonie Decker verriet uns: »Wir als Statistinnengruppe untereinander hatten Backstage wahnsinnig viel Spaß und ich habe jede einzelne meiner Mitstatistinnen als Freundin lieb gewonnen. Zudem wurde durch die Regisseurin und die anderen Darsteller auf der Bühne eine Atmosphäre kreiert, welche mich motiviert hat auf der Bühne mein Bestes zu geben. Im Kopf geblieben ist mir, als wir das erste Mal unsere „Vogelszene“ probten, welche sehr intensiv war. Es hat uns einiges an Mimik und Stimme abverlangt, aberda alle hochmotiviert mitmachten, in mir auch ein Hochgefühl ausgelöst. Somit würde ich das als „schönsten Probenmoment“ bezeichnen.«

Hinter den Kulissen. Foto: Steffen Nödl

Am 4. Mai 2019 ging es dann für das Ensemble und die erste Gruppe der Mädchen aus Salem auf die Bühne des Großen Hauses. Seitdem spielen abwechselnd die beiden Gruppen in den Vorstellungen.

Szenenfoto »Hexenjagd«; Foto: Jochen Quast

Für Anna Laukhuf war gerade der Abend der Premiere ganz besonders: »Mein schönster Moment waren die letzten gemeinsamen Erlebnisse hinter der Bühne vor der Premiere. Fast jeder hat dem anderen ein kleines Glücks-Präsent überreicht, was mich sehr gerührt hat. Alle Geschenke enthielten auch – direkt oder indirekt – eine Botschaft, die mit dem Stück zu tun hatte. Mich hat begeistert, wie viel Gedanken sich alle darüber gemacht haben und wie viel Wertschätzung auch uns als Statistinnen entgegengebracht wurde.«

Wie viel Arbeit und Disziplin hinter den Proben und den Vorstellungen steckt, hat Lilly Eichberg beeindruckt: »Auf den Proben oder in den Pausen während Vorstellungen wird manchmal rumgealbert. Trotzdem müssen dann alle zum richtigen Zeitpunkt wieder konzentriert sein und ihre Arbeit machen, wenn es weiter geht. Das war eine gute Erkenntnis.«

Ob sich die Erwartungen, mit denen sich die Mädchen beim Casting beworben haben, in Erfüllung gingen wollten wir natürlich auch von ihnen wissen.

Hinter den Kulissen. Foto: Steffen Nödl

Anna Lena Knecht: »Ich hatte keine konkreten Erwartungen, sondern viel mehr die Hoffnung, dass auch wir Statistinnen gut in die Schauspielgruppe integriert werden. Dies hat sich definitiv erfüllt.«

Leonie Decker: »Ich hatte die Erwartungshaltung als Statisten wäre man »nur« eine Hintergrundfigur und würde auch dementsprechend behandelt. Jedoch die freundliche und auch unterstützende Art, welche die anderen Darsteller und Mitarbeiter gegenüber uns Statistinnen hatten, hat dafür gesorgt, dass ich mich sofort wertgeschätzt gefühlt habe.« 

Matilda Martinez: »Um ehrlich zu sein, wusste ich gar nicht, was auf mich zukommen würde und ich habe viel mehr daran gedacht, das Casting aus Spaß zu machen. Mittlerweile bin ich mehr als froh, dass ich diese Erfahrung machen durfte.

Und wie fühlt es sich an, auf der Bühne im Großen Haus zu stehen?

Szenenfoto »Hexenjagd«, Foto Steffen Nödl

Matilda Martinez: »Es ist unbeschreiblich, auf der großen Bühne stehen zu dürfen. Mit den »Großen« zu spielen, zu sehen, wie sie die Charaktere verkörpern, von ihnen zu lernen … . Man kann dieses Gefühl nicht beschreiben, es ist einfach ein pures Glücksgefühl, das so viele verschiedene Emotionen freisetzt.«

Lilly Eichberg: »Es macht total viel Spaß! Während der Vorstellung ist man auf der Bühne meistens sehr konzentriert. Man vergisst fast, dass man auf der Bühne im Großen Haus steht und einem so viele  Leute zusehen. Ich realisiere das meist erst, wenn ich wieder von der Bühne runter bin.«

Christiane Staudacher: »Auf einer Bühne zu stehen, ist für mich ein unbeschreibliches Erlebnis. Ich fühle mich dort einfach wohl. Ein Traum ist für mich in Erfüllung gegangen.«

Für alle war es eine aufregende und besondere Zeit. Auf die Frage ob sie es noch mal machen würden, haben alle sofort mit JA! geantwortet.

Szenenfoto »Hexenjagd«, Foto: Jochen Quast

Leonie Kurz: »Auf jeden Fall würde ich es nochmal machen! Es macht einfach unglaublich viel Spaß, und kein Abend ist wie der andere!«

Christiane Staudacher: »Meine Erfahrungen am Theater Heilbronn möchte ich auf keinen Fall missen, und wer weiß, was die Zukunft für mich vorhat?«

Lilly Eichberg: »Auf jeden Fall! Es hat sehr viel Spaß gemacht, und ich habe viele neue Erfahrungen gesammelt.«

Matilda Martinez: »Ich würde es jederzeit wieder tun. Das Casting, die Proben, die Vorstellungen würde ich nicht mehr missen wollen.«

Leonie Decker: » Die Erfahrung am Theater hat mich viele Dinge gelehrt und in meinem Leben weitergebracht, des Weiteren hat es Spaß gemacht und mich mit neuen Menschen zusammengeführt.  Meine Antwort lautet: 100% Ja!«

Wir danken allen Statistinnen von »Hexenjagd« für ihre Unterstützung und Spielfreude. Wer sie noch mal auf der Bühne erleben möchte hat noch am 6., 12. & 14. Juli die Gelegenheit.

Ein glückliches Paar sieht anders aus …

Ein Probenbesuch bei der »Gärtnerin«
Mozarts »La finta giardiniera« probt (noch) auf der Probebühne

Die Pause ist vorbei. Geprobt wird der Anfang des zweiten Aktes. Laut Libretto befinden wir uns in einer Halle im Palast des Podestà, des Bürgermeisters von Lagonero (deutsch: Schwarzensee). Real befinden wir uns auf der Probebühne 2 im Probenzentrum in der Christophstraße. Noch sind die Stellwände aus Pappkarton. Die davor stehenden Gartenmöbel für die Gartenoper sind schon die Originale, die bei der Premiere von »La finta giardiniera« auf der BUGA zum Einsatz kommen werden.

Die Darsteller von »La finta giardiniera« hier noch im Probenzentrum. (Foto: Andreas Donders)

»Alles OK?« fragt Regisseur Axel Vornam seine (noch) unsichtbaren Sänger hinter der Kulisse. »Seid ihr so weit? Los geht’s.« Auftritt Manuela Vieira von rechts. Arminda war im ersten Akt eigentlich nach Lagonero gekommen, um sich mit dem Grafen Belfiore zu verloben. Dummerweise hat er kurz vor der Pause seine tot geglaubte Ex Violante wieder getroffen. Kein Wunder, dass die mondäne Arminda auf die Bühne rast, im kleinen Schwarzen, mit Sonnenbrille und topmodischer Handtasche, die sie in ihrer Erregung auf einen der Gartenstühle wirft.

So ist es zumindest gedacht. Diesmal fällt die Handtasche neben den Stuhl. »Stop«, unterbricht Axel Vornam lachend, »Manuela hat sich verworfen.« Die Szene beginnt von vorne. Wegen so einer Lappalie unterbrechen? Aber natürlich, denn jedes Detail einer Inszenierung hat seine Bedeutung. Dass die Handtasche da landet, wo sie landen soll, ist für den weiteren Verlauf des Geschehens nicht ganz unwichtig: In einer späteren Szene kommt sie genau auf diesem Stuhl als zentrales Requisit zum Einsatz, wenn das Dienstmädchen Serpetta (Clémence Boullu) ein diebisches Interesse am Inhalt hat.

Aber zurück zur Szene. Korrepetitorin Jinhee Park gibt am Klavier den Einsatz. Recitativo. Auftritt Paul Sutton von hinten. Der Graf Belfiore kommt auf die »Terrasse« und muss sich den Fragen und Vorwürfen Armindas stellen. Die steigern sich zur virtuosen Arie »Vorrei punirti indegno« (Ich wollte dich bestrafen, Unwürdiger), nicht umsonst »Aria agitata« bezeichnet. Aufgeputscht von Leidenschaft und Eifersucht reißt Arminda ihren abgewandten Bräutigam herum. Ein glückliches Paar sieht anders aus. Und hier sieht man, was sich in der Inszenierung Axel Vornams durch die ganze Oper ziehen wird: Es sind die Frauen, die die Hosen anhaben und den Männern zeigen, wo es lang geht. Im Falle von Beatriz Simoes in der »Hosenrolle« des Contino Ramiro ganz buchstäblich.

Noch etwas wird in der kleinen Szene klar: Mit »La finta giardiniera« bedient der damals erst 18jährige Wolfgang Amadeus Mozart zwar die gängigen Typen und Muster der komischen Oper seiner Zeit, aber – wie um 1775 üblich – gehören durchaus auch ernste Momente und tiefe Leidenschaften zum Repertoire. Deshalb nennt Mozart »La finta« auch »Dramma giocoso« – ein »lustiges Drama«.

Diese Probe ist schon fast eine der letzten im Probenzentrum. In der darauffolgenden Woche geht es auf die Bundesgartenschau. »Oh Dio, oh Numi« singt Manuela Vieira, alias Arminda, gerade im nächsten Rezitativ. Genau! Mögen die Wettergötter der Gärtnerin gewogen sein!

Die Premiere der Oper »La Finta Giardiniera« ist am Sonntag 9. Juni 2019, 20:00 Uhr auf der Sparkassenbühne auf dem BUGA-Gelände.

Die Chose mit der Hose

Die Kostüme der »Affäre Rue de Lourcine« forderten den Einfallsreichtum unseres Herrenschneidermeisters Tilo Voss heraus. Denn die Kleidung der beiden ehemaligen Internatsabsolventen Lenglumé und Mistingue sollte nicht nur die glorreichen Zeiten des Slapsticks aus der Stummfilmzeit erinnern, sondern muss auch auf der Theaterbühne für Einiges herhalten.

»Die Affäre Rue de Lourcine« (v.l.n.r. Marek Egert, Nils Brück und Hannes Rittig)

Die Schnittmuster für die historischen Hosen im Buster-Keaton- / Charlie-Chaplin-Stil waren schnell entwickelt, doch wie sollten die Zusatzfunktionen in der Hose des Lenglumé untergebracht werden, ohne dass die Hose völlig aus der Form geriet?

In dieser Hose verschwinden nicht nur jede Menge Requisiten, sondern auch der Hausherr selbst. Das stellte den Schneidermeister vor die Herausforderung eine überproportionale Hose zu entwerfen, die jedoch zunächst möglichst normal aussieht. Bereits die historischen Hosen der Stummfilmhelden, die als Vorbild dienten, sind zu groß für ihre Träger. Die Proportionen weichen vom klassischen Hosenschnitt ab.

Wie lässt sich das noch steigern, so dass der Schauspieler Nils Brück nahezu komplett verschwinden kann?

Nils Brück bei der Anprobe

In mehreren Schritten haben Schneidermeister und Schauspieler sich an die endgültige Ausgestaltung der Hose herangetastet, bis alles saß. Vom tieferen Schnitt über die Einarbeitung eines Stretchkeils aus dehnbarem Stoff, eingelegte Falten in die Seitennäthe und die Verlängerung der Hose am Bund wurde sie immer wieder überarbeitet. Die Stoffmengen mussten so gut eingearbeitet werden, dass sie den Proportionen der Hose des zweiten Hauptdarstellers Hannes Rittig ähnlich blieben. Die Zusatzfunktionen wie die sieben Taschen, in denen ganze Wasserflaschen verschwinden, sollen natürlich nicht vorab erkennbar sein.  Die Bewährung fand die Hose dabei im Praxistest während der Proben: Ob jetzt einer oder mehrere Druckknöpfe oder Magneten die zusätzlichen Stoffe verschwinden lassen, testet Nils Brück immer wieder im Spiel, bis es optimal passte.

So wurde der Prototyp dieser ungewöhnlichen Hose in enger Zusammenarbeit von Schneiderei und Schauspieler weiterentwickelt, bis daraus das fertige Kostüm der Inszenierung entstand.  

Das Ergebnis könnt Ihr noch zwei Mal in der »Affäre Rue de Lourcine« bewundern. Und achtet genau drauf, was alles in der Hose verschwindet oder aus ihr heraus zum Vorschein kommt, um die Erinnerungslücken der durchzechten Nacht der beiden Zechbrüder zu füllen.

»Die Affäre Rue de Lourcine« läuft nur noch am 25. und 26. April 2019 im Komödienhaus des Theaters Heilbronn.

»Üben, üben, üben, bis alles sitzt«

In dieser Spielzeit hat er als Tartuffe, als Schöller und als Lenglumé in »Die Affäre Rue de Lourcine« das Publikum zum Schmunzeln, Lachen, sogar zum Japsen gebracht. Nils Brück spricht mit Dramaturg Andreas Frane über die harte Arbeit an der Komödie.

»Die Affäre Rue de Lourcine« Nils Brück, Hannes Rittig; Foto: Thomas Braun

Andreas Frane: Welche Voraussetzungen und Eigenschaften sollte man mitbringen, wenn man Komödie spielen will?

Nils Brück: Mein Wissen stützt sich vor allem auf Erfahrungen aus der Praxis. Komödie braucht aus meiner Sicht viele Zutaten: Zuerst einmal Spielfreude – Verspieltsein, Mut – Übermut, Disziplin – Anarchie, Timing, Rhythmus, Genauigkeit, Instinkt, Publikumsnähe und die Bereitschaft zum Scheitern.

Kann man »komisch sein« lernen?

Ich glaube, es gibt schon Schauspieler, die für dieses Genre besonders begabt sind. Und eine häufige Beschäftigung mit Komödien verschiedenster Herkunft (aus Frankreich, Großbritannien, Irland, Amerika, Deutschland) hilft sicher auch, seine Fähigkeiten auf diesem Gebiet zu entwickeln. Aber nur das und ausschließlich für die Bühne zu erlernen? Das gibt es wahrscheinlich nicht. Anders ist es im Zirkus. Da gibt es ja viele und auch tolle Clownsschulen. Auch die Pantomimen haben eine Spezialausbildung. Beide von mir sehr geschätzte und bewunderte Kunstformen.

Karl Valentin hat einmal gesagt: »Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.« Trifft das besonders auf die Komödie zu?

Absolut. Man durchläuft während der Proben verschiedenste Phasen. Das Entwickeln einer Situation, das Ausreizen des Scheiterns (denn es geht in der Komödie immer um das Scheitern, um die Not von Individuen in Extremsituationen, um die Zuspitzung einer unlösbaren Schwierigkeit) macht gerade zu Beginn einer Arbeit großen Spaß. Dann geht es um Genauigkeit, um das richtige Timing und um eine Wiederholbarkeit des Ganzen. Das ist harte Arbeit. Auch das gesamte Team kann ja nicht zwanzig, dreißig Mal über das Gleiche lachen. Dabei geht oft der Spaß verloren. Und man muss wie ein Jongleur üben, üben, üben, bis alles sitzt. Belohnt wird man dann, sollte alles gelingen, mit dem herzlichen Lachen des Publikums.

Hierzu vielleicht eine kleine Anekdote aus unserer letzten Vorstellung der »Affaire Rue de Lourcine«: Nach einem Satz in meinem Monolog lachte eine Frau ganz laut auf. Als sie merkte, dass sie die Einzige war, sagte sie »Oh Gott« und hielt sich den Mund zu. Ich hatte mich aber über die Reaktion gefreut und habe sie von der Bühne aus angesprochen: »Ach bitte, Sie können ruhig weiter lachen. Wir freuen uns…« Zum Lachen muss man eben nicht in den Keller gehen …

»Die Affäre Rue de Lourcine« Hannes Rittig, Nils Brück ; Foto: Thomas Braun

Wie viele Freiheiten darf / kann man sich denn erlauben?

Tja, das ist eine gute Frage, die auch von uns immer wieder diskutiert wird. Denn wo ist der Grat zwischen dem, was neu hinzukommt und dem Abend gut tut, und dem, was den Abend eher beschädigt? Da trifft man den Punkt nicht immer. Aber trotzdem ist es wichtig, eine Lebendigkeit zu erhalten. Das ist nicht so leicht in unserem Metier.

Es ist viel von Techniken bei Komikern und Komödianten die Rede. Wie verhindert man andererseits, dass Komödie auf der Bühne »technisch« wird und wirkt?

Ich glaube bei allen Stücken, so auch in der Komödie, kommt es darauf an, die Spielsituationen immer wieder neu zu erleben. Jeder Abend sollte ein Unikat sein und somit ein Erlebnis für das Publikum schaffen, dass eben nur an dem speziellen Abend in dieser Form stattfindet. Es ist alles live! Es geht um ein Gemeinschaftserlebnis, mit allen Fehlern, die passieren, mit Zustimmung oder Ablehnung des Publikums. Man muss sich also als Schauspieler trauen, sich im Moment zu bewegen.

Gibt es Gags, Techniken, Witze, die beim Publikum garantiert funktionieren?

Ja, gibt es schon, denke ich. Man muss Sie aber dosiert einsetzen, sonst nutzen sie sich ab. Welche das sind, wird aber nicht verraten …

Nils, ich bedanke mich herzliche für dieses Gespräch.

Den mörderisch komischen Monsieur Lenglumé aus »Die Affäre Rue de Lourcine« spielt Nils Brück nur noch am 20., 25. Und 26. April im Komödienhaus.

»Die Affäre Rue de Lourcine« Sven-Marcel Voss, Nils Brück ; Foto: Thomas Braun

Meine musikalischen Gedanken

Ein Beitrag von Claire Winkelhöfer

»Musik ist die Sprache der Leidenschaft«. Dies pflegte Richard Wagner zu sagen und ich als leidenschaftliche Musikerin, schließe mich dieser Aussage voll und ganz an. Ich bin Claire Winkelhöfer und gehe in die zehnte Klasse des Landesgymnasiums für Musik in Wernigerode. Während meiner Zeit als Praktikantin in der Theaterpädagogik des Theaters Heilbronn wurde mir die Aufgabe zuteil, eine eigene musikalische Interpretation, inspiriert von der Erzählung »Der goldne Topf« von E.T.A. Hoffmann, zu erarbeiten.

Claire Winkelhöfer auf der Probebühne

Während des Lesens von »Der goldne Topf«, entstand in meinem Kopf, wie das häufig bei Musikern der Fall ist, bereits die ein oder andere Idee für eine musikalische Umsetzung. Ich habe die Eigenschaft, gleich sehr groß und meist in einem Orchestersatz zu denken. Zudem bin ich, als begeisterte Wagnerianerin, ein großer Fan der Leitmotivtechnik. Ein Leitmotiv ist ein häufig wiederkehrendes, in dem Fall musikalisches Motiv, welches bestimmten Personen, Gegenständen, Ereignissen, Stimmungen usw. zugeordnet ist und diese charakterisiert. Mein Faible für diese Technik wirkt sich demzufolge auch auf mein künstlerisches Schaffen aus. Besonders faszinierend daran finde ich diesen bestimmten Wiedererkennungswert innerhalb eines Werkes. Ich empfinde es als sehr spannend, wenn ich durch das Erklingen eines Leitmotivs bereits eine Vorahnung bekomme, welche Person wohl gleich wieder auftauchen wird, womöglich sogar schon da und nur nicht zu sehen ist, oder genau weiß, von welchem Gegenstand oder Ereignis die Rede ist, ohne dass explizit davon gesprochen wurde. Ich dachte mir, die beiden unterschiedlichen Welten, die es in »Der goldne Topf« gibt, müssten durch verschiedene Leitmotive geprägt und zum Ausdruck gebracht werden. Für die mystische Welt stellte ich mir Instrumente vor, die gemeinsam sphärische Klänge produzieren können. Im Allgemeinen dachte ich an Flöten, eine Harfe und hohe Streicher. Allerdings fände ich Hörner als Melodieinstrumente sehr ansprechend. Wenn man kein ganzes großes Orchester zur Hand hat, dann reicht auch ein Klavier in hoher Lage mit viel rechtem Pedal, um die verschiedenen Melodieteile ein bisschen ineinander verschwimmen zu lassen. Eventuell wäre noch eine Geige denkbar. Als Leitmotiv stellte ich mir eine relativ ruhige Melodie vor, die mit höheren, kleineren Melodien unterlegt ist. Es sollte im Piano bis Pianissimo, also leise bis sehr leise, aber maximal im Mezzoforte, halblaut, gespielt werden. Im Kontrast hierzu dachte ich bei der normalen Welt an eher plumpe Klänge, die durchaus auch einen bedrohlichen Charakter haben dürfen. In einem Orchester würden an dieser Stelle die Blechbläser die Arbeit bekommen, sowie die tieferen Streicher, die einen tiefen Klangteppich erzeugen könnten. Wenn kein Orchester zur Verfügung steht, so kann man wieder ein Klavier in Betracht ziehen, diesmal jedoch in tiefer Lage. Hier könnte man noch zusätzlich das linke Pedal benutzen, um einen dumpfen Klang zu erzeugen. Als Grundbild für ein Leitmotiv dachte ich an ein mittleres Tempo. Es sollte zwar nicht allzu langsam sein, doch darf es auf keinen Fall hektisch wirken. Auch sollte es nicht zu leise werden, um einen Gegensatz zum anderen Motiv zu schaffen.

Im Verlauf meines Praktikums hatte ich das Vergnügen, die Inszenierung von »Der goldne Topf« von Maik Priebe zu sehen und somit auch die musikalische Umsetzung von Stefan Leibold zu hören. Diese war zwar völlig konträr zu meinen Gedanken, jedoch höchst interessant. Die musikalische Gestaltung war nicht auf die Leitmotivik ausgelegt, sondern eher darauf, mit einfachsten Mitteln einen beeindruckenden Klangteppich zu erzeugen. Wobei »einfach« in diesem Fall nicht als »leicht« zu verstehen ist, sondern bedeutet, dass mit einfachen Gegenständen gearbeitet wurde, die nicht schwer zu bedienen sind. Der geschaffene Klangteppich wurde nicht mit herkömmlichen Instrumenten gestaltet, sondern durch alltägliche Gegenstände oder den Menschen selbst. Durch das Übereinanderlegen dieser unterschiedlichen Klänge konnten Stimmungen erzeugt werden, die sonst eher selten zu finden sind, aber wie geschaffen dafür sind, eine mystische Atmosphäre zu erzeugen.

Obwohl ein großer Kontrast zwischen diesen beiden musikalischen Gedanken liegt, gibt es durchaus auch gemeinsame Überlegungen. Beispielsweise das Erschaffen einer mystischen Welt durch das Zusammenwirken verschiedenster Stimmungen und Klänge. In meinem Fall arbeite ich lieber mit Leitmotiven als mit Klangteppichen.

Zum Abschluss möchte ich sagen, dass ich es toll fand mir die Inszenierung mit Musik ansehen und anhören durfte und mich anschließend selbst an einer musikalischen Interpretation dazu ausprobieren durfte. Meine fertige Arbeit kann unter hier angehört werden.

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Hoch lebe der Dialekt

Schauspieler Hannes Rittig trainiert das Sprechen in vielen Mundarten

Hannes Rittig (Foto: M24 Heilbronn)

Einer sammelt Briefmarken, der nächste Autogramme oder Schallplatten. Wer es sich leisten kann, legt sich Kollektionen von Uhren, Antiquitäten oder Oldtimern zu. Der Wert des Schatzes von Hannes Rittig ist in Geld nicht zu messen.  Aber wie andere Sammler auch investiert er viele Stunden in die Pflege seines Hobbies. Der Schauspieler am Heilbronner Theater sammelt Dialekte und versucht diese so gut zu lernen, dass er sie zur „Bühnenreife“ bringt, ohne dass Muttersprachler im jeweiligen Gebiet die Nase rümpfen – obwohl es ein Reinheitsgebot in Sachen Dialekt eigentlich kaum mehr gibt.
„Für mich als Schauspieler ist das wie ein Materialbaukasten, aus dem ich nach Belieben schöpfen kann“, sagt Hannes Rittig. Die Besucher der letzten Weihnachtsmatinee am Theater dürften sich gern an die szenische Lesung der Geschichte „Die Bescherung verzögert sich um voraussichtlich zehn Minuten“ von Sebastian Schnoy erinnern. Hier hat Rittig in sekundenschnellen Wechseln den mitspielenden Bahnreisenden aus allen Ecken Deutschlands in einem verspäteten ICE am Weihnachtstag sowie dem handelnden Zugpersonal den dialektalen Zungenschlag verpasst. Bayerisch, Rheinländisch, Österreichisch, Norddeutsch, Schwäbisch – oft nur in schnellen Halbsätzen und wild durcheinander. Atemberaubend! Und äußerst amüsant.

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Mit genau solchen Lesungen hat es angefangen, genauer gesagt mit Texten von Hans Fallada wie „Jeder stirbt für sich allein“ und „Der eiserne Gustav“, die Hannes Rittig in Greifswald, der Geburtsstadt des Schriftstellers, vorgetragen hat. Lesungen von rund anderthalb Stunden Länge werden nur lebendig, wenn man die Figuren mit ihren Eigenheiten ausstattet, beschreibt der Schauspieler. Dazu gehört neben Stimmfärbung und Sprechweise eben auch der Dialekt. Die ersten Steine für seine Sprachsammlung hat er quasi nebenbei eingesammelt: Mit dem Berlinerischen und dem Anhaltinischen ist er aufgewachsen, im Studium kam das Leipziger Sächsisch dazu, aber vor allem auch das Bühnenhochdeutsch, das für ihn als Schauspieler natürlich die Norm ist. Während seines ersten Engagements in Chemnitz lernte er, zwischen dem Leipziger  und dem Chemnitzer Sächsisch zu nuancieren. Außerdem erwarb  er von Freunden aus anderen Regionen Deutschlands eher unterbewusst weitere Dialekte – so zum Beispiel das Fränkische von seinem damaligen Kommilitonen und Schauspielkollegen Tobias D. Weber, der aus Erlangen stammt. Sein nächstes Engagement führt ihn nach Greifswald, wo er den Pommerschen Dialekt in sein Repertoire aufnahm. „Für mich ist es wichtig, dass ich Leute habe, die ich sehr mag und mit denen ich Zeit verbringe. Ich beobachte deren Sprechweise, die Haltung und präge mir bestimmte Ausdrücke ein“, beschreibt Hannes Rittig seine Learning-by-doing-Methode. Diese Vorbildmenschen ruft er sich vor sein inneres Auge, wenn er einen Dialekt imitieren will. Aus Greifswald ist es beispielsweise der Fußballtrainer seiner Söhne. Er erhebt dabei keinen Anspruch auf Perfektion. „Es ist fast wie beim Spielen von Tieren“, beschreibt er. Einige signifikante Eigenschaften reichen aus, um einen Tiger als Tiger, einen Elefanten als Elefanten und einen Affen als Affen darzustellen – so wie er es gerade in unzähligen Vorstellungen von Kiplings „Dschungelbuch“ praktiziert hat. Genauso ist es mit den Dialekten – einige prägnante Ausdrücke, Wörter und vor allem die Sprachmelodie genügen, um eine bestimmte Mundart zu markieren.

Beim Schwäbischen versagt die Learning-by-Doing-Methode

Einzig bei einem Dialekt versagt die bisher mit so großer Leichtigkeit praktizierte Methode, beim Schwäbischen – dem nächsten Regiolekt, den Hannes Rittig sich als Neubürger Heilbronns unbedingt aneignen will. Hier hat er sich seine Nachbarn als Coaches gesucht, mit denen sich seine Familie angefreundet hat. „Die Frau kommt von der Schwäbischen Alb, der Mann  aus Heilbronn und die beiden machen mit mir Unterricht“, erzählt der Schauspieler.  Das Schwäbische ist sehr gemütlich und verspielt mit den vielen Verniedlichungsformen und es hat einen feinen Sing-Sang. Ihn wundere es gar nicht, dass aus dieser Region, wo die Sprache so kleinteilig und erfindungsreich ist, so viele Tüftler kommen, die mit der feinen Selbstironie „Wir können alles. Außer Hochdeutsch“  an ihrem Image arbeiten, sagt Hannes Rittig. Natürlich muss er in seinem Beruf in erster Linie das Hochdeutsche pflegen. Aber sonst ist er der Meinung: Hoch lebe der Dialekt! „Der steht für Heimat, Geborgenheit und Wohlfühlen.“