Diese eine Liebe wird nie zu Ende gehen

Die Heilbronner und ihr Theater: 40 Jahre Theaterneubau am Berliner Platz in Heilbronn
»Ein Theater-Neubau ist kein Ereignis, sondern eine Verpflichtung zu einem Ereignis, das nur durch tägliche harte Arbeit erzielt werden kann: Theater.« – Friedrich Dürrenmatt

Der Theaterneubau am Berliner Platz von oben. Foto: Krug

»Liebe Theaterfreunde! Heute habe ich Ihnen nichts Programmatisches zu sagen – nichts Ihnen ans Herz zu legen – Sie um nichts zu bitten. Keine Sorgen habe ich vor Ihnen auszubreiten – habe um nichts zu kämpfen, das bewahrt, durchgesetzt oder verhindert werden sollte – habe nicht um Ihre Aufmerksamkeit zu werben, um Ihre Behütung oder Ihre Mithilfe. Das wird sicher wiederkommen, liebe Theaterfreunde, wenn das neue Haus erst einmal Normalität und Arbeitsalltag geworden ist, und dann werde ich wieder vor Ihnen stehen mit Nöten und Notwendigkeiten. Heute habe ich nur eines – Ihnen zu danken, daß Sie alle – mit so viel Vertrauen – in so großer Zahl auf uns zugekommen sind, um dabeizusein, wenn wir um und für Leben spielen werden im neuen Theater Heilbronn. Ich würde Ihnen gerne applaudieren – wie Sie so oft uns – wenn die Feder Hände hätte. Ich werde arbeiten, daß Sie Grund haben, bei uns bleiben zu wollen in den kommenden Jahren im neuen Theater, verspricht Ihnen Ihr Klaus Wagner.« So schreibt der 1979 in sein Amt gewählte Intendant in der ersten Ausgabe der Theaterzeitung nach der Eröffnung des Theaterneubaus am Berliner Platz, dessen Geburtstag wir am 16. November 2022 zum vierzigsten Mal feiern dürfen. Er wusste, an wen er sich dankend zu wenden hat, nämlich an all jene, deren vehementer Arbeitseifer in ideeller wie in materieller Hinsicht diesen Theaterbau in einem entscheidenden Maße überhaupt erst ermöglicht hatte. Und das nicht zum ersten Mal in der Geschichte, nein, die Geschichte des Heilbronner Theaterlebens lässt sich nicht ohne die Geschichte seiner außergewöhnlich engagierten Bürgerschaft erzählen, die nicht etwa ein neues, sondern vielmehr alle drei zentralen Theaterbauten der Stadt – ganz zu schweigen von den unzähligen kleineren Bühnen, die als Übergangsstationen fungieren mussten – mit aufgebaut und mitgestaltet hat. Und Klaus Wagner wusste ebenso, auf wen er sich auch im schlimmsten Falle bittend verlassen kann: auf all jene, die in lebendiger Partnerschaft mit dem Theater gemeinsam das Bühnengeschehen dieser Stadt gestalten sollten.

Man sagt, dass der Schwabe mit dem Eintritt ins Schwabenalter, also mit vierzig Jahren, g’scheit würde. Nehmen wir also den vierzigsten Geburtstag des Theaterneubaus zum Anlass, zurückzublicken und zu prüfen, ob der vermeintliche Spätzünder wirklich erst jetzt ins Alter vernünftiger Reife eintritt – oder ob er nicht vielmehr, trotz des »Theaters um das Theater«, das integraler Bestandteil seiner Geschichte ist, schon weitaus früher weise war: Vor allem dann, wenn das Theater wagte, in dankende, bittende, sich gegenseitig fordernde und fördernde Beziehung mit seinem lebendigen Partner, der Heilbronner Bürgerschaft, zu treten.

Ein historischer Blick zurück, der immer auch ein lehrreicher Blick in die Zukunft sein kann.

Text und Recherche: Clemens Miersch
Fotoauswahl und Recherche: Kea Leemhuis, Rebekka Gogl

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Heilbronn kann zurückblicken auf eine bis ins späte Mittelalter zurückreichende Theatertradition, die hier nur schlaglichtartige Betrachtung anhand der drei zentralen Bauten der Heilbronner Theatergeschichte – des Aktientheaters, des Fischer-Theaters und des Theaterneubaus am Berliner Platz – erfahren kann. Wurde Theater hier anfangs vor allem durch die Kirchen und die Zünfte belebt, gastierten spätestens seit dem Dreißigjährigen Krieg viele Wanderschauspieltruppen in Heilbronn, die sich zunehmend und gegen das Misstrauen der Obrigkeit in der Stadtgesellschaft etablieren und der Bevölkerung Bühnenkunst bieten konnten. Entscheidend zur Entwicklung der Theatergeschichte in Heilbronn trug die Erweiterung der Stadt nach Osten bei: Der Heilbronner Bürger Carl Christoph Braunhardt legte im Jahre 1817 jenseits der Stadtmauer – dort, wo sich heute die Harmonie befindet – einen Biergarten an, der 1819/20 um einen Gartensaal erweitert wurde. Dieser wurde zu einer wichtigen Spielstätte für die Wanderbühnen. In der Folge kauften die Bürgerschaft und die Stadt mit aus Aktien gewonnenem Kapital dieses Anwesen. Für Theaterkunst allerdings waren die baulichen Verhältnisse unzulänglich und so wurde erstmals der Ruf nach dem Bau eines Theatergebäudes laut, der an der Westseite des Aktiengartensaales erfolgen sollte. Im Jahre 1842 wurde die Stadt Heilbronn ersucht, diesen Bau nicht nur zu genehmigen, sondern auch finanziell mit zu stemmen. Gleichwohl der Stadtrat das Bauvorhaben genehmigte, stellte sich die Obrigkeit gegen eine Subventionierung vonseiten der Stadt. Erstmals in der Geschichte des Heilbronner Theaterlebens wird in ganz besonderem Maße deutlich, was immer wieder entscheidender Einflussfaktor sein sollte: das besondere Engagement der Heilbronner Bürgerschaft, wenn es darum geht, Theater als notwendigen infrastrukturellen und ideellen Bestandteil ihrer Stadtgesellschaft zu etablieren und zu bewahren. Selbst nach Absage finanzieller Unterstützung durch die Stadt ließen sich die Bürgerinnen und Bürger nicht von dem Vorhaben abbringen. Sie kauften die Anteile der Stadt am Aktiengarten auf und übernahmen den Betrieb in ihre Hände. Damit räumten sie den Weg frei für die Genehmigung des Theaterbaus. Am 9. November 1844 wurde das Aktientheater schließlich eingeweiht. Hier konnte nicht nur eine Intendanz und ein festes Ensemble etabliert werden. Schauspiel-, Opern- und Operettenaufführungen sorgten für regen Publikumsverkehr und Heilbronn gewann nach und nach den Ruf, über ein herausragendes Stadttheater zu verfügen. Regelmäßigkeit kehrte in den Folgejahren in das Theatergebäude ein. Doch schnell wurde auch klar: Der Theaterbau, nun »Rumpelkasten« genannt, reichte in architektonischer Hinsicht nicht mehr aus, um den Ansprüchen neuzeitlicher Theaterkunst gerecht zu werden. Aus Brandschutzgründen wurde das Aktientheater 1903 geschlossen. Die das Gebäude verwaltende Harmonie-Gesellschaft konnte den Bau aufgrund hoher Kosten nicht selbstständig renovieren. So ging das Theater schließlich wieder in städtische Hand über. Doch der bereits im Jahre 1902 entstandene Wunsch nicht nur nach einem Umbau, sondern nach einem Theaterneubau, scheiterte vor allem am mangelnden Geld.

Das Heilbronner Aktientheater. Foto: Stadtarchiv Heilbronn, Fritz Wolff

Im Mai des Jahre 1908 ruft der damalige Oberbürgermeister Paul Göbel schließlich zu Stiftungen und Darlehen für die Realisierung eines neuen Baus auf. Innerhalb kürzester Zeit sind 500 000 Mark zusammengetragen. Wiederum wird die enorme Spendenbereitschaft der Bevölkerung sichtbar. Selbst als die kalkulierten Kosten während der Bauphase nach oben korrigiert werden mussten, scheute man nicht zurück und auch die nun notwendigen 625 898 Mark werden zusammengetragen. »Erbaut von der Bürgerschaft 1912/1913« sollte am Ende ganz treffend die Inschrift am Theaterneubau lauten. Der Bau nach den Entwürfen des Architekten Theodor Fischer konnte beginnen: Am 9. Mai 1912 erfolgte die Grundsteinlegung; am 30. September 1913 wurde das Haus eingeweiht. Ihm sollte jedoch eine viel zu kurze Geschichte beschert sein: Nur 31 Jahre sollte es als Schauspielhaus dienen und dann sein Dasein gute 26 Jahre weitgehend als Ruine fristen. Nicht nur der im Jahre 1914 beginnende Erste Weltkrieg markierte eine Zäsur. Auch die Machtübernahme der Nationalsozialisten und der damit einhergehende Zweite Weltkrieg ließen die Blütejahre der Zwischenkriegszeit, die man am Fischer-Theater erlebte, verblassen. Am 28. Juni 1944 erfolgte die letzte Vorstellung. »Von jetzt ab gehört ihr mir!« sind die Worte, mit denen NSDAP-Kreisleiter Richard Drauz die Theatermacher im Anschluss an die »Nabucco«-Vorstellung zur Kriegsdienstpflicht ruft.

Das Heilbronner Fischer-Theater, »Erbaut von der Bürgerschaft 1912/1913«. Foto: Stadt Heilbronn, Baudezernat

4. Dezember 1944, 19:22 Uhr: »Come in and bomb red TI’s as planned« – »Fliegen Sie ein und bombardieren Sie die roten Zielmarkierer nach Plan«. Der Funkspruch von Maurice A. Smith befiehlt die Bombardierung Heilbronns. 1260 Tonnen Bomben fallen und verursachen einen Vernichtungsgrad der Stadt von 62 Prozent. Auch wenn das alte Fischer-Theater die Luftangriffe vergleichsweise glimpflich überstand, unbrauchbar für den Spielbetrieb wurde es dennoch. Damit kündigte sich bereits eine lange Phase des Theaterspiels in Provisorien und Übergangsbauten wie auch des jahrzehntelangen »Theaters um das Theater« an. Auch wenn die Sehnsucht nach Theater die Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg schnell wieder ergriff und sich auch in konkreter Arbeit realisierte – zum Teil unter widrigen, aber auch die Kreativität notgedrungenermaßen beflügelnden Bedingungen, die der Qualität des Theaters nicht zwangsläufig einen Abbruch taten –, der Streit um die baulichen wie finanziellen Bedingungen eines Neu- oder Wiederaufbaus sollte sich vom Zeitpunkt der Zerstörung des Fischer-Theaters im Jahre 1944 bis zur Eröffnung des Theaterneubaus am 16. November 1982 beinahe so lange ziehen, wie wir heute Geburtstag des Neubaus feiern.

Bereits am 1. November 1945 gab das Heilbronner Künstlertheater, das vorrangig aus Mitgliedern des alten Stadttheaters bestand, im neubezogenen Trappensee-Saal seine erste Vorstellung. Die Tatsache, dass Brennholz als Eintrittspreis diente, verdeutlicht beispielhaft die missliche Lage kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Lange sollte der Trappensee-Saal auch nicht als Spielstätte dienen können: Das Theater musste einer Schule und Filmvorführungen weichen. In der Folge bezog das Theater den Saalbau »Zur Sonne« in Sontheim. Die Zuschauergunst minderte dies keineswegs. Ganz getreu dem damaligen Spielzeitmotto »Und neues Leben blüht aus den Ruinen« kamen in unmittelbarerer Nachkriegszeit allein in der ersten Spielzeit 75 202 Besucher, um eine der 214 Vorstellungen zu sehen. In den folgenden Jahren wandelte sich das Heilbronner Künstlertheater zum Neuen Theater Heilbronn. Doch auch im Sontheimer Provisorium endete am 2. April 1949 der Theaterbetrieb. So ganz ohne Theater wurden nun erneut die Stimmen lauter, die die Neugründung eines Theaters wünschten und die Hoffnung auf einen Wiederaufbau des alten Stadttheaters hegten. Auf der Suche nach weiteren Übergangsspielstätten trat eine Gruppe Theaterbegeisterter 1951 schließlich an den Ortsausschuss des Deutschen Gewerkschaftsbundes heran: Denn der große Saal des Gewerkschaftshauses war eine der wenigen verbliebenen, für Theateraufführungen geeigneten Räumlichkeiten. Der DGB gestand den Theaterenthusiasten sowohl Mittel wie Räumlichkeiten zu, die man – neben weiteren kleinen Ausweichbühnen – lange Jahrzehnte bespielten sollte. Der hohe Zuschauerandrang führte schließlich zur Gründung des Vereins »Kleines Theater Heilbronn e.V.« Der Spielplan wurde diverser; Gastspiele konnten gegeben werden. Zur Spielzeit 1954/55 wurde Walter Bison Oberspielleiter des Theaters, der ab der Spielzeit 1956/57 Intendant werden und die kommenden Jahrzehnte bis 1980 entscheidend prägen sollte.

Und das alte Fischer-Theater am Nordende der Allee? Entsprechend finanziellen Möglichkeiten lediglich teilweise wieder instandgesetzt, diente es als Probenort für das »Kleines Theater Heilbronn e.V.«, vorrangig aber auch als eine Unterkunft für die städtischen Ämter. Bereits 1952 forderten Mitglieder des Kleinen Theaters die Kommunalpolitik zum Wiederaufbau des Alten Theaters auf: Während eines Spektakels geisterten sie in den Trümmern des zerstörten Hauses und begannen symbolisch mit dem Wiederaufbau. Doch nicht nur ihre Stimmen wurden in den folgenden Jahren von Gemeinderat und Stadtverwaltung nicht gehört. Auch gegenüber einem Großteil der Bevölkerung, der sich einen Wiederaufbau wünschte, blieb man zunächst taub. Zunehmend entwickelte sich jedoch das Bewusstsein für die Frage nach einer Wiederbelebung eines zentralen Theaterbaus in der Stadt. Auch die kursorische Berichterstattung öffentlicher Medien wie der Heilbronner Stimme schärfte darauf ein. Unter diesem Druck gestand 1958 der damalige Oberbürgermeister Paul Meyle: »Der Wiederaufbau des Theaters kann nicht länger aufgeschoben werden.« Doch dem prinzipiellen Einverständnis des Gemeinderats musste er schon im Folgejahre entgegenhalten, dass kein für einen solchen Bau hinlänglich erfahrener Architekt gefunden werden konnte.

1960 nahm man schließlich zum auf Theaterbauten spezialisierten Hannoveraner Architekten Gerhard Graubner Kontakt auf. Ortsbesichtigungen der Ruine sowie die Erstellung eines Gutachtens erfolgten, das Graubner Mitte 1961 dem Gemeinderat vorstellte. Er sprach sich gegen einen Wiederaufbau aus und lieferte stattdessen das Modell für einen Theaterneubau an gleicher Stätte. Die FDP-Fraktion durchkreuzte diese Pläne und brachte einen anderen Standort am Bollwerksturm ins Rennen, was heftige Debatten zwischen ihr und der für den alten Platz am Nordende der Allee kämpfenden SPD lostrat. Freie Wähler, Christdemokraten und Liberale setzten sich schließlich 1962 gegen den Oberbürgermeister und die SPD durch: Graubner erhält keinen Planungsauftrag für den Bau – eine Entscheidung, die nur geringe Zeit später gekippt werden sollte. Ein kommunalpolitisches Hin und Her verzögerte die Entscheidung bis zur Vergabe des Planungsauftrags an Graubner Ende 1962. Kostenschätzung damals noch: 10,8 Millionen Mark. Doch einem zeitnahen Bau-, geschweige denn Spielbeginn erteilte Baudezernent Karl Nägele eine klare Absage. Absagen, die sich auch in den folgenden Jahren wiederholen sollten, und den Baubeginn stetig vertagten. Weitere Planungsentwürfe folgten: Einer inzwischen sowohl den Abbruch, die Außenanlagen und die Tiefgarage umfassenden 22,3-Millionen-Mark-Version folgte 1966 der abgespecktere 15,8-Millionen-Mark-Entwurf Graubners. »Ein guter Plan, aber für die Schublade«, so der Stadtrat der Freien Wählervereinigung Willy Schwarz. Im Jahre 1967 befeuerte erneut eine Umfrage der Heilbronner Stimme die Debatte, die ergab, dass eine klare Mehrheit der Befragten für einen Wiederaufbau und weniger für die Realisierung des Graubner-Baus votiere. Dem hielt Oberbürgermeister Hans Hoffmann entgegen: »Die Politik der Gemeinde sollte im Rathaus und nicht im ‚Heilbronner-Stimme‘-Haus gemacht werden!« Den ungebremsten Enthusiasmus der Heilbronner Bürgerschaft, in den Jahrzehnten nach dem Kriegsende bis zum schlussendlichen Neubau unermüdlich Spenden zu sammeln sowie Vereine und Initiativen zu gründen, die sich dem Ziel verschrieben hatten, ein eigenes Stadttheater fest im Stadtbild zu etablieren – etwa den Theater-Förder-Verein im Jahre 1968 unter Vorsitz des Kulturbürgermeisters Erwin Fuchs – , schmälerte dieses Politikdrama zu keiner Zeit. Bis November 1982 sammelte allein der Theater-Förder-Verein 2,6 Millionen Mark für einen neuen Theaterbau.

Ein Beispiel der zahlreichen Aktionen der Heilbronner Bürgerschaft zum Sammeln von Spenden für den Theaterbau: Dieser Arbeitskreis von Frauen trug mit Basaren zum Erfolg des Theaterfördervereins bei. Foto: Heilbronner Stimme, Kugler

Im Jahre 1969 erfolgte dann per Gemeinderatsentscheidung die Auftragsvergabe an Gerhard Graubner. Der Weg zum Abriss des Alten Theaters war endgültig freigeräumt: Am 18. Juli 1970 um 16:40 Uhr wurde der Fischer-Bau gesprengt. Weit über 1000 Schaulustige erlebten, wie das Gebäude zu einem riesigen Schutthaufen zusammensackte. »Eine Stunde der Wehmut«, konstatierte der unermüdlich für das Theater kämpfende Bürgermeister Erwin Fuchs. Die Sprengung des alten Gebäudes blieb umstritten, der Wiederaufbau keine Option mehr. Und auch die weitere Planung und Umsetzung des Neubaus sollte noch die ein oder andere städteplanerische Hürde nehmen und viel kommunalpolitischen Zank über sich ergehen lassen müssen. Nur sechs Tage nach der Sprengung des alten Baus folgte die nächste Hiobsbotschaft: Architekt Gerhard Graubner ist tot. Die erneute Verzögerung des Bauvorhabens musste hingenommen werden.

Architekt Gerhard Graubner mit einem Modell des Theaterneubaus. Foto: Heilbronner Stimme, Eisenmenger

Der Finger lag durchgehend mahnend im Finanzbuch der Stadt: Und so provozierten auch die steigenden Kosten, die Oberbürgermeister Hoffmann inzwischen auf 25 bis 30 Millionen bezifferte, weiter die Ablehnung des Graubnerschen Konzepts vonseiten der FDP, CDU und FWV; die Freien Wähler erhoben gar die Forderung nach einem Bürgerentscheid. Während die beiden Fronten stritten, starb der nächste »Vater« des Graubner-Baus: Thomas Münter, der schon unter Graubner für die Bühnentechnik verantwortlich zeichnete, schied 1972 aus dem Leben. Die weitere Planung oblag nun den beiden Architekten Rudolf Biste und Kurt Gerling.

In den beiden darauffolgenden Jahren legten die Fraktionen jeweils unterschiedliche Alternativkonzepte für den Theaterbau vor: Die CDU wollte kostengünstiger das Gelände der Kelter in der Gymnasiumstraße bebauen, die Freien Wähler das Gelände der Weingärtner-Genossenschaft. Mit den Stimmen der SPD, des Oberbürgermeisters sowie der FDP wird 1974 jedoch der Bau des Graubner-Entwurfs am Berliner Platz vom Gemeinderat beschlossen. Für eine weitere Verzögerung sorgte allerdings die mit der Bauplanung verbundene und 1976 abgesegnete Geradeausführung der Allee auf die Weinsberger Straße. Plötzlich erregte die kolportierte Gesamtkostensumme von 60 Millionen Mark Ärger – erneute Kostenrechnungen und Vorschläge günstigerer Theaterpläne zirkulierten. Ausgerechnet der Oberbürgermeister Hoffmann selbst trat 1977 mit einer neuen Idee eines Theater- und Kongresszentrums Harmonie auf. Der Graubner-Plan sei veraltet. Doch auch er, dafür heftig gescholten, konnte es nun nicht mehr ändern: Die Realisierung des Baus nach den Plänen Graubners – oder nun besser: den Plänen Graubners, Bistes und Gerlings – wird im Dezember 1977 knapp, aber mehrheitlich, beschlossen. Nach jahrzehntelangem Gezeter quittierte nun auch der Widerstand gegen den Theaterneubau. Der letztgültige Baubeschluss erging am 16. November 1978 durch den Gemeinderat; der erste Spatenstich folgte am 28. November 1979 durch Oberbürgermeister Hoffmann. Das Ende des »Theaters um das Theater« markierte bekanntlich die Eröffnung des Neubaus, dessen Geburtstag wir dieses Jahr am 16. November zum vierzigsten Mal feiern dürfen. Endbilanz: 67 285 000 Mark, samt Zusatzkosten; Kosten allein für den Theater-Bau: 54 729 000 Mark.

Der erste Spatenstich am 28. November 1979 durch den Heilbronner Oberbürgermeister Dr. Hans Hoffmann: »Damit ist die Verwirklichung des Theaterprojektes eingeläutet!« Foto: Stadt Heilbronn, Baudezernat

Hans Viehweg, Schauspieler und Regisseur am alten Stadttheater, nannte die Eröffnung begeistert »ein Jahrhundert-Ereignis.« Margot Winkler, frühere Opern- und Konzertsängerin, meinte: »Heilbronn kann stolz und glücklich sein über so ein Theater.« Zahlreiche von Euphorie getragene Stimmen ließen sich herbeizitieren. Und dennoch: Der Streit um diesen Theater-Neubau und die damit verbundenen gigantischen Geldsummen haben ihre Spuren hinterlassen. Man muss nicht einmal zwischen den Zeilen lesen und auf die Untertöne achten, um neben den zurecht gelösten und erleichterten Kommentaren auch zahlreiche (Er-)Mahnungen und Warnungen bezüglich des weiteren Fortgangs der Arbeit im neuen Stadttheater zu finden. Denn vor allem eines schien dem Theater aus der kostenschweren Realisierung seines Baus zu erwachsen: Verantwortung – in kultureller nicht minder als in ökonomischer Hinsicht. Zwischen Euphorie, Rechtfertigungsbedürfnis und Bringschulderklärung schillert das Vokabular. Intendant Klaus Wagner etwa formuliert: »Für uns, die wir dieses neue Theater verwaltend und gestaltend in die Zukunft führen sollen, ist dieses Theater natürlich nicht nur eine Freude, die wir genießen, sondern auch eine Verpflichtung. Es geht ja darum, nicht die Einmaligkeit, die uns jetzt so viel Interesse und so viele Interessenten beschert, als Erfolg und Ergebnis zu verbuchen, sondern es geht darum, die Zukunft und Normalität zu garantieren.« Unverhohlen gesteht auch Hans Hoffmann: »Eines möchte ich jedoch nicht verhehlen: Die Entscheidung für das heutige Projekt fiel zum Glück noch vor der Talfahrt in die Rezession. Unter den heutigen wirtschaftlichen Verhältnissen, den derzeitigen finanziellen Voraussetzungen, wäre solch ein Beschluss kaum mehr vorstellbar. Wir haben gerade noch rechtzeitig gebaut. Im Glauben an eine gute Zukunft, im Vertrauen auf eine langfristig gesunde Entwicklung.«

In der Tat: Die zweite Ölkrise und die anhaltende Konsolidierungskrise Anfang der 80er Jahre trafen die deutsche Wirtschaft hart. Auch den deutschen Theatern ging es vielerorts an den Kragen: Waren sie nicht unmittelbar von Schließungen oder Stellenabbau bedroht, so mussten sie doch die immer schwieriger werdende Aufgabe bewältigen, »den Balanceakt zwischen Kunst und Kommerz, Nötigem und Erstrebenswertem, Wagnis und Existenzsicherung souverän zu meistern«, wie der Journalist Joachim Schweller die Lage kommentierte. So bestand zumindest die Gefahr, dass hier die »freie Kunst« gegenüber ökonomisch bilanzierbaren Erfolgsquoten ins Hintertreffen gerät. Und in Heilbronn? Da verbuchte man seit Jahrzehnten nicht nur steigende Zuschauerzahlen – von den 1940er- bis zu den 80er-Jahren hatte sich die Zahl der Besucher pro Spielzeit verdoppelt –, sondern auch steigende Zuschüsse vonseiten der Stadt und des Landes. Und dennoch: In der Situation, in der andere Theater krisengebeutelt Klagelieder anstimmten, baute Heilbronn für 60 Millionen Mark ein neues Theater. Vielleicht ist hier auch der Ursprung jener alarmistischen Rhetoriken zu suchen, die sich rund um die Eröffnung in den Kommentarspalten formierten. Deutlich lässt sich da die Forderung herauslesen, man solle nun das politische Schmierentheater hinter sich lassen und sich stattdessen an anständige Theaterarbeit machen, die letztlich langfristig zu überzeugen weiß – eben durch eine dauerhafte Gewinnung und Bindung des Publikums durch kunstfertige Theaterarbeit. Die Ausreden waren nun ohnehin passé: Auf schwierige bauliche Umstände konnte man sich in diesem Haus mit »idealen Arbeitsbedingungen«, so Verwaltungsdirektor Jürgen Frahm, nicht mehr berufen, wenn es darum gehen sollte, Krisen zu rechtfertigen. Dass aber auch der modernste Stand der Technik nicht automatisch über die gelingende programmatische Ausrichtung des Hauses befand, war ebenso klar.

Die Theaterkasse, damals noch im Kiosk der Allee-Unterführung, erlebte schon ein halbes Jahr vor der ersten Premiere im neuen Haus einen wahren Ansturm. So wurden innerhalb von sechs Wochen über 5000 Jahresmieten gebucht. Foto: Foto Heidelind Andritsch

Offensichtlich ist: Mit ungetrübter Freude startete auch die Geschichte des neuen Stadttheaters nicht. »Heilbronn tat und tut sich schwer mit dem Theater«, konstatiert der Journalist und spätere Vorsitzende des Theatervereins Heilbronn Uwe Jacobi. »Und trotzdem wurde und wird es geliebt. Sonst wäre die kulturelle Tat, einen solchen Neubau auf den Berliner Platz zu stellen, nicht möglich gewesen.« Nun sei die Bevölkerung gefordert, »das Theater als ihr Theater anzunehmen«, so Erwin Fuchs. Auf die andere Seite dieser Wahrheit verweist Uwe Jacobi in der Heilbronner Stimme: »Nach den Bürgern«, die in vielfältiger Hinsicht diesen Bau ja überhaupt erst ermöglicht hatten, »ist es nun am Theater, zur kulturellen Tat zu schreiten.« Man wird es als lohnenswert zu wiederholenden Gemeinplatz werten können, dass die Entwicklung eines Theater nie ein Einbahnstraßenverkehr ist. Sie besteht nur in und durch das dynamische Miteinander sich gegenseitig ansprechender und anregender Partner. Vonseiten des Theaters hat man demnach vielleicht nicht in erster Linie zu beweisen, dass das Haus »sein Geld wert ist«. Vielleicht hat man in erster Linie dem Publikum, der Bevölkerung, die eben so viel Geld in die Hand genommen hat, um ein eigenes Theater in ihrer Stadt zu etablieren, etwas zu bieten, was man für Geld nun mal nicht kaufen kann, gleichwohl Geld dafür vonnöten sein wird; etwas, was nur Theater bieten kann, nämlich, eine genuine neue ästhetische Erfahrung zu machen. Das bedeutet sicher nicht, dem Publikum nach dem Mund zu reden, sondern es auch zu fordern. Das bedeutet aber sicherlich, das Publikum – vor allem ein Publikum, das, wie das Heilbronner, so persistent am Gedanken eines eigenen Theaters festgehalten hat und festhält, es nicht minder gefordert wie tatkräftig gefördert hat – ernst zu nehmen, es zu erheitern, zu unterhalten, seine existentiellen Erfahrungen in theatrale Bilder zu überführen und zu befragen. Ein Blick zurück auf die letzten 40 Jahre – zu dem wir Sie herzlich einladen – muss erweisen, wie das dem Theater Heilbronn gelungen ist. Man wird jedoch den Gedanken nicht los, dass die vermeintlich mit dem vierzigsten Lebensjahr einsetzende Vernunft dem Theater Heilbronn in lebendiger Partnerschaft mit seiner Bürgerschaft schon weit vorher beschieden war.

DIe Eröffnungsinszenierung von »My fair Lady« erinnert mit dem alten Stadttheater als Kulisse an den langen Weg bis zur Eröffnung des Theater-Neubaus. Foto: Archiv Heilbronner Stimme

Es gibt einen Text von Walter Bison anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Heilbronner Volkbühne mit dem Titel »Die Bedeutung«, der immer noch so heutig und hellsichtig ist, dass er es verdient gehabt hätte, hier in Gänze zitiert zu werden. Bison schreibt darin: »Wie oft wurde das Theater totgesagt, wie oft wurde ihm der Untergang prophezeit. Wenn man das Theater zerstören könnte, so wäre es in den Bombennächten, wie die Mehrzahl seiner Gebäude, zugrundegegangen. Es lebte weiter, noch ehe seine Häuser, wie heute in fast allen Theaterstädten, wieder aufgebaut waren. Es fand zu neuen Formen in Zimmern und Scheunen. Das geschah nicht allein, weil das Verlangen nach Unterhaltung und Zerstreuung nicht zu unterdrücken ist, […] es geschah vor allem, weil im Theater von jeher ein Gesetz waltet, das wesenhafte Schichten des Menschen anspricht und sich aus tieferen Quellen tränkt. Unbeirrbar, immer seinem Ursprung treu, ruft das Theater zur Besinnung, zur Selbsterkenntnis, zum Geist. Es ruft heute in eine Zeit hinein, die berstend voll ist von verwirrenden, kaum greifbaren technischen Dingen, von Entwicklungen, Entdeckungen, deren Ziel der Mitlebende kaum begreifen kann und immer mehr zu fürchten lernt. Auch in dieser Zeit ruft das Theater wie durch die Jahrhunderte: ›Mensch, verliere Dich und Dein Wesen nicht!‹« Bison wusste nicht minder als die Heilbronner Bevölkerung: »Die enge Beziehung, die innere Bindung zum Menschen und zum Menschlichen macht das Theater zum geistigen Mittelpunkt einer Stadt.«

Kleines Weinlexikon für Anfänger

Wein ist ein besonderer Saft. Er atmet Geschichte. Und mit jedem Schluck bekennt sich der Weinschmecker zum Genuss. Er dokumentiert Bodenständigkeit, Selbstbewusstsein, Feingefühl, Stil, Geschmack, Geist und neuerdings eben auch Zeitgeist sowie fließende Kenntnisse in Weinlatein.

Wer mit Weinliebhabern, Önologen oder Sommeliers über Wein spricht, versteht zuweilen nur Kauderwelsch. Da ist dann zum Beispiel von einem »adstringierendem Finish« die Rede, von einer »grasigen Blume« oder einem »fleischigen Körper«. Man kann dieses Wortgeklingel und die teils blumig-gespreizten Ausdrücke einfach nur amüsant finden. Doch was sich hinter dem vermeintlich überkandidelten Weinlatein auch verbirgt, ist ein natürlich gewachsenes Weinvokabular, das sich mit der Zeit entwickelt hat – nicht zuletzt aus der Not heraus: Wie beschreibt man einem anderen Menschen, was man gerade riecht, fühlt oder schmeckt?

»Weinprobe für Anfänger«, Foto: Jochen Klenk

Tatsächlich handelt es sich bei dem Weinlatein oft nur um eine, teils lautmalerische, Beschreibung von vergleichenden Geschmackseindrücken – ein Versuch, mit Worten und für andere zu beschreiben, was man eigentlich nur subjektiv erleben kann: Aromen, Odeurs und Geschmackskomponenten eines guten Tropfens, die die Nase oder die Papillen unter der Zunge gerade wahrnehmen. Zumindest sind der Fachwelt und Weinkennern bisher kaum Alternativen dazu eingefallen. Auch der Wein hat eben seine ganz eigene Sprache.

Abgang

Mit dem Abgang des Weines (auch Nachhall, Finish oder Finale genannt) wird der Nachgeschmack bezeichnet. Also jene Empfindungen, die die Aroma- und Geschmacksstoffe des Weins auf dem Gaumen hinterlassen. Er enthält je nach Rebsorte und Lagerung eine Fülle von Geschmacksnoten, die sich nach einem kurzen Moment im Mund entfalten.

Adstringierend

Adstringierend, von Lateinischen »adstringere« bedeutet »zusammenziehen«. Ein schwerer oder sehr säurehaltiger Wein wird als adstringierend bezeichnet, wenn sich im Mund aufgrund der Kombination von Säure und Tanninen sprichwörtlich alles zusammenzieht.

Alkohol

Bei der Gärung des Weins entsteht Alkohol. Der jeweilige Alkoholgehalt wird in Volumenprozent (Vol.-%) angegeben. Damit Wein seinen Charakter entwickeln kann, braucht er einen bestimmten Alkoholgehalt. Wein enthält in der Regel zwischen 9 und 14 Prozent Alkohol. Vergorener Most gilt erst dann als Wein, wenn er mindestens 8,5 Prozent Alkohol enthält. Ein zu niedriger oder zu hoher Alkoholgehalt wirkt sich zudem negativ auf den Geschmack aus.

Aroma

Mit dem Aroma ist die gesamte Vielfalt des Geschmacks und seiner Dufteindrücke gemeint. Wein hat bis zu fünfhundert verschiedene Aromastoffe, die unterschiedlich konzentriert vorkommen. Sie reichen von Frucht- und Kräuteraromen über Gewürze bis hin zu chemischen Substanzen wie Schwefel. Die Aromen haben ihren Ursprung in der Traube selbst oder entstehen bei der Gärung und im Ausbau.

Assemblage

Tatsächlich werden viele Weine nicht aus einer einzigen Rebsorte gekeltert, sondern aus teils bis zu vier (oder mehr) Rebsorten zusammengefügt. Dieses Verfahren heißt Assemblage oder auch Verschnitt. Assemblieren ist eine Kunst: Profis lassen durch den Prozess des Assemblierens höherwertige Weine entstehen, die sich durch Harmonie im Geschmack und eine gleichbleibende Qualität auszeichnen – sogenannte Cuvées. Bekannte Cuvées sind zum Beispiel der Rioja, Chateauneuf du Pape oder Chianti. Aber natürlich werden mit der Technik auch schon mal Farbe und Geschmack eines eher minderwertigen Weins korrigiert.

Ausbau

Als Ausbau wird die Gesamtheit der kellerwirtschaftlichen Arbeiten von der Phase der Gärung bis zur Abfüllung des Weins benannt. Er ruht nun im Stahltank oder Holzfass, um zu reifen. Hier entwickelt der Wein seinen Charakter, seine Struktur und Komplexität. Dieser Prozess kann abhängig von der Weinart, dem Jahrgang, der Qualität und dem Potenzial wenige Wochen bis zu einigen Jahren dauern.

Barrique

Das Barrique ist ein kleines Eichenholzfass, das 225 Liter fasst. Rot- oder Weißweine werden in ihm gelagert, um dem Wein ein Vanillearoma zu verleihen. Vor allem jüngere Fässer geben dem Wein einen intensiveren Vanillegeschmack. Aus Kostengründen werden mancherorts allerdings auch nur Eichenspäne dem Wein in einem Stahltank zugesetzt, um auf die kostspielige Fasslagerung zu verzichten und trotzdem das typische Aroma zu erhalten. Weine, die im Barrique ausgebaut werden, weisen aber einen höheren Gehalt an Gerbstoffen oder Tanninen auf. Spezielle Fassbauer sind in der Lage, durch Dauer und Intensität des Ausbrennens solcher Fässer (dem sogenannten »Toasting«), dem Wein eine einzigartige Geschmacksrichtung zu geben.

Blume

Die Blume ist, anders als das Aroma, nur der angenehme Duft, den ein Wein ausstrahlt. Er entwickelt sich im Glas, daher riechen Weinkenner vor dem Trinken gerne am Wein, um seine verschiedenen Aromen besser wahrzunehmen – schwenken entfaltet diese zusätzlich. Gleichermaßen wird hier auch von einem Bouquet gesprochen, das mit Attributen wie »feinfruchtig-blumig« oder »grün« bezeichnet wird. Die Grundlage des Bouquets findet sich in der jeweiligen Rebsorte und dem Reifegrad der Trauben. Sie verleihen dem Wein seine typische Charakteristik.

Chambrieren

Meint das langsame Aufwärmen des Rotweines auf Zimmertemperatur. Die Rotweine werden in der Regel aus dem kalten Keller in den Wohnraum gestellt und sollen hier ein paar Stunden vor dem Öffnen auf rund 18 Grad gebracht werden. Doch Vorsicht: Heute sind Wohnräume meist wärmer als früher und die Zimmertemperatur entspricht nicht der optimalen Trinktemperatur.

Dekantieren

Das Dekantieren meint das Umfüllen des Weins in eine Karaffe, die am Boden in der Regel weit und ausladend (»bauchig«) geformt ist und nach oben hin schmal verläuft. Das Dekantieren dient in erster Linie dazu, den Wein von dem Bodensatz (sogenanntes Depot) zu trennen, der sich nach langem Lagern in der Flasche gebildet hat. Ein weiterer Grund ist der Luftstrom, dem der Wein beim Umgießen ausgesetzt ist. In dem Fall spricht man allerdings vom Karaffieren: Der Wein soll dabei atmen und seine Aromen voll entwickeln. Der Geschmacksunterschied ist teils deutlich, hochwertige Rotweine werden daher häufig dekantiert und karaffiert. Richtig alte Weine können allerdings bei zu viel Luftkontakt »umkippen« und werden dann ungenießbar.

»Weinprobe für Anfänger«, Foto: Jochen Klenk

Grasig, grün

Mit grasig beschreibt das Weinlatein den Geschmack oder den Duft eines jungen Weißweines. Er zeigt deutliche Aromen von frischem Gras. Auch der Begriff »grün« oder »grasig-grün« wird hierbei häufig verwendet. Ein typischer Vertreter dieser Aromen ist die Rebsorte Sauvignon Blanc.

Jungwein

Der Jungwein ist ein Wein, dessen alkoholische Gärung noch nicht abgeschlossen ist, er wurde noch nicht von der Hefe getrennt.

Lage

Wie bei Immobilien gilt auch beim Wein: Lage, Lage, Lage. Die Lage eines Weinanbaugebietes entscheidet maßgeblich über die Qualität der Reben und den Geschmack des Weines. Entscheidend sind hierbei die Sonneneinstrahlung, die Wasserdurchlässigkeit der Böden, die Temperaturen bei Tag, aber auch bei Nacht, sowie ob es sich um eine Höhen- oder eine Hanglage handelt.

Lüften

Mit dem Lüften ist im Weinlatein das Entkorken eines Rotweins gemeint. Die Flasche wird dabei rund ein bis zwei Stunden vor dem Einschenken geöffnet, der Wein kann in der Flasche atmen und entfaltet in dieser Zeit sein Bouquet.

Reinsortig

Von reinsortigen Weinen spricht der Winzer, wenn ein Wein nur aus einer einzigen Traubensorte besteht. Reinsortige Weine werden als Weiß- und Rotweine hergestellt. Aber Achtung: Reinsortiger Wein darf immer noch bis zu 15 Prozent andere Trauben enthalten.

Restzucker

Der nach der Gärung im Wein zurückgebliebene Zucker wird Restzucker genannt. Ein Wein wird als »trocken« bezeichnet, wenn der Restzucker unter 9 Gramm pro Liter (und der Gesamtsäuregehalt bei maximal 2 Gramm pro Liter) liegt. Als »halbtrocken« gelten bis zu 18 Gramm pro Liter (Gesamtsäureanteil nicht mehr als 10 Gramm pro Liter). Als »lieblich« wiederum gelten Weine mit bis zu 45 Gramm pro Liter, »süßer Wein« hat hingegen über 45 Gramm Restzucker pro Liter.

Säure

Neben dem Restzucker und dem Alkoholgehalt ist die Säure das Rückgrat des Weins. Sie bestimmt seine Struktur und Haltbarkeit. Abhängig von der Sorte und Reife der Trauben liegt der Säuregehalt des Weins zwischen 3 und 16 Gramm pro Liter. Als Faustregel gilt: Je wärmer das Anbaugebiet, desto geringer ist der Säuregehalt im Wein.

Schwer

Als schwer werden extraktreiche und stark aromatische Weine bezeichnet. Sie weisen in der Regel einen hohen Alkoholgehalt auf und haben eine sättigende Wirkung.

Tannine

Auch Gerbstoffe genannt, sitzen in den Kernen, Stielen und Schalen der Traube. Abhängig von der Konzentration schmeckt Tannin leicht bitter und hinterlässt ein pelziges Gefühl auf der Zunge. Im Weißwein ist Tannin ein unerwünschter Stoff, während er im Rotwein zum besseren Aroma beiträgt. Tannine verhindern die frühe Oxidation des Weines und machen es so möglich, dass Rotweine länger gelagert werden können.

Terroir

Im Grunde heißt Terroir nur »Gegend«. Die Übersetzung wird dem Begriff allerdings nicht gerecht. Terroir umfasst mehr, es beschreibt Eigenschaften oder besser gesagt den Charakter eines bestimmten Gebiets, einer Region und welchen Einfluss etwa das Land, der Boden und das Mikroklima auf die dort angebauten Weinreben haben. Neben der Rebsorte erhält der angebaute Wein gerade durch das Terroir seinen ganz eigenen Charakter. Und je kleiner das Gebiet und je knapper die dort hergestellten Weine, desto exklusiver – bestes Beispiel: der Champagner aus der Champagne.

Viskosität

Bezeichnet die Zähflüssigkeit des Weins. Sie deutet auf einen höheren Zucker- bzw. Alkoholgehalt im Wein hin. Die Viskosität überprüft man, in dem man das Glas bis zu einem Drittel füllt, leicht schräg hält und dann beobachtet, wie schnell der Wein am Glasrand zurückfließt. Gelegentlich lassen sich hier auch sogenannte Kirchenfenster in der Verlaufsstruktur wahrnehmen. Sie deuten auf einen hohen Glyzerin-Gehalt hin.

Weinstein

Ist der Trivialname für das Kalium- oder Calciumsalz der Weinsäure. Er setzt sich am Boden oder am Korken der Flasche ab und wird oft fälschlicherweise als Zucker angesehen. Im Mund fühlt er sich wie scharfkantiger Sand an und schmeckt leicht säuerlich, die Weinqualität beeinträchtigt er aber nicht.

Quellen und Lesetipps zur Vertiefung:

https://www.wein-lexikon.de/Spezial:Alle_Seiten

https://www.wineamigos.de/pages/weinwissen

»Weinprobe für Anfänger« ist noch bis zum 26. Juni im Komödienhaus zu erleben.

Cosmic A* — Mythologische Körperbilder vereint mit gesellschaftspolitischer Reflexion

Im März 2020 war Charlie Prince als Artist in Residence am Theater Heilbronn zu Gast und hat sein Tanzstück »Cosmic A*« entwickelt. Es wird nun als Deutsche Erstaufführung bei der diesjährigen Ausgabe von »Tanz! Heilbronn« zu sehen sein. Der libanesisch-kanadische Künstler begibt sich auf die Suche nach Darstellungsweisen einer arabischen Identität – jenseits von Vorurteilen und äußeren Zuweisungen. Prince selbst ordnet das Stück dem Arab-Futurismus zu – einer relativ neuen, selbstbewussten künstlerischen Bewegung. Dabei gibt er aber zu bedenken, dass es nicht die eine arabische Identität gibt.

»Cosmic A*« von Charlie Prince, Foto: Paul Sixta

Aufgewachsen in einem Dorf in den Bergen Libanons emigriert der damals 10-jährige Charlie Prince 2001 mit seiner Familie nach Kanada. Wenige Jahre später zieht die Familie wieder in den Libanon und als 16-Jähriger kehrt Prince zurück nach Kanada. Er studiert Musik, klassischen und zeitgenössischen Tanz in Montreal. Stets ist er konfrontiert mit der Frage nach Herkunft und Tradition. Und in Europa, wo er heute lebt, trägt sein Körper noch immer die Schwingungen seiner Heimat in sich. Durch die Unruhen im Libanon, der kurz vor dem Staatsbankrott stand, kam Charlie Prince 2019 die Idee zum Titel seines Stücks: Cosmic A*. Der Titel bezieht sich im kosmischen Sinn auf Alles und auf Nichts. Im Libanon sah Prince viele junge Menschen, die sich gegen das korrupte System auflehnten, »sah ihre Kraft, die Freude, den Zorn und wie Körper sich vermischen«, erzählt er in einem Interview mit der Heilbronner Stimme vom 20. März 2020.

Prince erschafft Körperbilder, die an Zentauren und hybride Fabelwesen erinnern.
Fotos: Paul Sixta

Sein Körper wird in »Cosmic A*« zu einem archäologischen Raum, der sich an Ausgrabungen beteiligt. Er taucht ein in eine imaginierte Mythologie und erschafft Körperbilder, die an Zentauren und hybride Fabelwesen erinnern. Mit seiner choreografischen Arbeit will Prince die Vergangenheit aus der Gegenwart wiederherstellen, um so Zukunft zu schaffen. Begleitet werden seine Bewegungen auf der Bühne durch den Live-Percussionisten Joss Turnbull, der mit traditionellen arabischen Instrumenten wie der Zarb und elektronischer Verfremdung dichte zeitgenössische Klänge erzeugt.

Entstanden ist ein beeindruckender Tanzabend, den ihr am 18. Mai 2022 um 19:30 Uhr im Komödienhaus erleben könnt. Tickets für »Cosmic A*« gibt es auf unserer Webseite und an der Theaterkasse.

»Sonoma« ein opulentes spanisches Tanzstück

Am Samstag, den 21.05.2022 um 19.30 Uhr erwartet euch ein ganz besonderer, surrealer und höchst poetischer Tanzabend im Großen Haus. Die berühmte spanische Kompanie »La Veronal« zeigt das Stück »Sonoma«. Inspiriert durch den künstlerischen Kosmos des Filmemachers Luis Buñuel entwickelt der Choreograf Marcos Morau dieses Werk als Hommage an die spanische Kultur. Tanz, Musik und Poesie verschmelzen zu vieldeutigen Bildern einer schönen und fremdartigen Traumwelt, in der die Entwicklung der Frauen vom späten Mittelalter hin zu selbstbewussten Individuen gezeigt wird. Dem schwindelerregenden Tempo des modernen Lebens ausgesetzt, gleiten die Frauen wie Aufziehpuppen über die Bühne. Dominiert von prachtvollen Szenen und Gesängen strebt dieses rein weibliche Kollektiv aus der Tradition in die Moderne und befreit sich mit lauten Trommelschlägen und Schreien aus den Fesseln des Konformismus. Kraftvoller Körpereinsatz trifft hier auf außergewöhnliche Schönheit.

»Sonoma« La Veronal, Foto Anna Fàbrega

Der spanische Choreograf Marcos Morau gründete 2005 das Kollektiv »La Veronal«. Diese außergewöhnliche Kompanie vereint Künstlerinnen und Künstler aus den Bereichen Tanz, Film, Fotografie und Literatur. Gemeinsam erschaffen sie beeindruckende Bilder von ungewöhnlicher Schönheit, symbolträchtige Welten aus Bewegung, Kunst, Architektur, Text und Musik.
Als jüngster Preisträger erhielt Marcos Morau 2013 den Nationalen Spanischen Tanzpreis und ist heute einer der gefragtesten Choreografen Europas. Sein Ensemble genießt international großes Ansehen und ist regelmäßig auf allen wichtigsten internationalen Tanzfestivals vertreten und in diesem Jahr zum ersten Mal auch bei »Tanz! Heilbronn« zu sehen.

Tickets und weitere Informationen.

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Eine Anleitung zum Überleben durch Tanz

Als der Abend »Le Chant des ruines« 2019 entstand, ahnte die Brüsseler Choreografin Michèle Noiret sicher selbst nicht, wie brandaktuell die Thematik werden würde. Die fünf Tänzerinnen und Tänzer befinden sich in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist. In einer Welt, in der sich die Gesellschaft so rasch wandelt, das man kaum hinterherkommt mit dem Anpassen. Es wird immer schwieriger, sich zurechtzufinden – alles scheint den Tanzenden durch die Finger zu rinnen. Wie orientiert man sich in einer Katastrophenlandschaft? Diesen Versuch wagt der Tanzabend, an dem sich die Tänzerinnern und Tänzer gegenseitig Halt geben wollen.

»Le Chant des ruines« ist eine Anleitung zum Überleben durch Tanz. Foto: Sergine Laloux

Mit der Corona-Pandemie haben auch wir die Zerbrechlichkeit und Instabilität der Welt, wie wir sie kennen, am eigenen Leib gespürt. Wir wussten nicht, wie lange wir in dieser Ausnahmesituation leben würden und hatten Angst – sowohl vor der Krankheit, als auch vor den uns bis dato unbekannten Maßnahmen wie Lockdown und sozialer Isolation. Nun stellt »Le Chant des ruines« kein Szenario der Corona-Pandemie dar. Doch unsere Erfahrungen können uns sicher weitere Perspektiven auf diesen Abend eröffnen. »Le Chant des ruines« ist eine Anleitung zum Überleben durch Tanz und bei »Tanz! Heilbronn« als Deutsche Erstaufführung zu sehen. Vielleicht hätten wir diese gerne schon vor Beginn der Pandemie gekannt. Sicher ist, dass das Stück uns neue Hoffnung und Kraft schenken kann für all die Herausforderungen, die wir im Leben noch meistern werden.

Die Tänzerinnen und Tänzer versuchen, sich in einer Katastrophenlandschaft zu orientieren. Foto: Sergine Laloux

Der Tanzabend »Le Chant des ruines«, mit dem das Festival eröffnet wird, ist ein beeindruckendes Erlebnis. Michèle Noiret verbindet Tanz, Theater und Film zu einem einzigartigen großen Kunstwerk, das die Tänzerinnern und Tänzer durch ihre starke Bühnenpräsenz kreieren – mit einem Höchstmaß an Kreativität und tänzerischem Ausdruck. Denn Freude und Schönheit, so die Choreografin, sind auch eine Form des Widerstandes gegen die Krisen unserer Zeit.

»Le Chant des ruines« (zu deutsch »Das Lied der Ruinen«) erlebt ihr am Dienstag, den 17. Mai um 19:30 Uhr im Großen Haus als Eröffnungsstück des 12. Festivals »Tanz! Heilbronn«. Auf unserer Webseite gibt es weitere Infos und die Tickets.


Der Funke muss überspringen

Canan Erek blickt voller Vorfreude auf das erste von ihr kuratierte Festival »Tanz! Heilbronn«

Seit 2021 ist Canan Erek (*1968 in Istanbul, seit 1987 lebt sie in Deutschland) die neue Kuratorin des Festivals »Tanz! Heilbronn«. Die Tänzerin, Choreografin und engagierte Kulturvermittlerin freut sich darauf, vom 17.-22. Mai 2022, ihr erstes Festivalprogramm zu präsentieren.

Canan Erek ist neue Kuratorin von »Tanz! Heilbronn«; Foto: B. Lorenz Walter

Als Tochter aus bildungsbürgerlichem Hause besuchte Canan Erek in ihrer Kindheit und Jugend den klassischen Ballettunterricht in ihrer Heimatstadt Istanbul: »Obwohl ich rein physisch für diese Art von Tanz gar nicht geschaffen war, arbeitete ich hart«, erinnert sie sich an ihre Anfänge. Eines Tages brachte eine Tanzlehrerin eine Videokassette mit zwei legendären Stücken von Pina Bausch mit: »Café Müller« und »Le Sacre du printemps«. Canan, damals 18 Jahre alt, war hingerissen. So kann Tanz also auch aussehen! Sie recherchierte und fand die Folkwang-Hochschule in Essen, in der Pina Bausch den Bereich Tanz leitete. Warum es nicht einfach versuchen! Sie kam nach Deutschland, nahm an einer Audition in Essen teil, wurde genommen und begann 1987 ihre Ausbildung im zeitgenössischen Bühnentanz. »Pina Bausch hat selbst zwar keinen Unterricht gegeben, aber sie kam mehrmals im Jahr, um sich unsere Entwicklung anzuschauen und mit uns über unsere tänzerischen Ausdrucksformen zu reden.« Sie war es auch, die Canan bestärkt hat, nach der Tanz-Ausbildung noch ein Studium der Choreographie dranzuhängen, nachdem sie erste, noch während des Studiums selbstkreierte Stücke der jungen Tänzerin gesehen hatte.

Von Essen ging es ins wilde Ost-Berlin Anfang der 90er-Jahre. Hier studierte sie als erste türkische Studentin an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Choreographie. Die Erfahrungen des Ost-West-Clashs im zusammenwachsenden Berlin fand sie damals zwar spannend, aber auch anstrengend, weil sie sich nirgends zugehörig fühlte, erinnert sich Canan Erek. Ihre künstlerische Heimat wurde ab 1996 das Ballhaus Naunynstraße in Berlin. Ihre Arbeiten wurden in verschiedenen Theatern in Berlin und auf Festivals gezeigt. Als Gastchoreografin arbeitete sie u. a. für die Australian Opera in Sydney, für das Hans Otto Theater in Potsdam und für das Berliner Ensemble. Ein dreijähriges Intermezzo führte sie nach Leipzig als Leiterin des dortigen Tanztheaters. Dann ging sie wieder zurück nach Berlin, um zu tanzen, zu choreografieren und immer mehr nach außergewöhnlichen Ausdrucksformen zu suchen.

Tanz an anderen Orten zu inszenieren, als man ihn erwartet, in Parks etwa oder in Bürgerämtern – eben mitten im öffentlichen Raum, das hat Canan Erek damals schon interessiert. Der besondere Reiz, auf Leute zuzugehen, die sich nicht von vornherein für Tanz begeistern, das fand Canan Erek spannend. Bis heute ist dies ein wichtiges Element ihrer Arbeit, die sich mehr und mehr in den Bereich Kulturvermittlung, Projektmanagement, kulturelle Bildung und Festivalleitung verlagert.

Gerade hat Canan Erek eine deutschlandweite Online-Konferenz geleitet: »Auf dem Sprung zur Sparte? – Tanz für junges Publikum«, war sie überschrieben und ging der Frage nach, ob man ähnlich wie das Junge Theater in Deutschland auch den Jungen Tanz als feste Institution an den Theatern etablieren kann. Canan Erek hat beste Erfahrungen auf diesem Gebiet. Seit 2017 leitet sie »PURPLE – Internationales Tanzfestival für junges Publikum« in Berlin. Sie erlebt immer wieder, dass Kinder und Jugendliche durch ihre natürliche, aktive und offene Haltung ein wunderbares Publikum sind, das man eigentlich für alles begeistern kann. Sie haben es sogar sehr leicht, sich in die abstrakten Formen des Tanzes hinein zu fühlen. Diesen Schwerpunkt will sie auch als neue Kuratorin des Festivals Tanz! Heilbronn stärken. Zwei der sieben eingeladenen Stücke wurden explizit für junges Publikum erarbeitet.

Das Festival »Tanz! Heilbronn« findet vom 17. bis 22. Mai 2022 am Theater Heilbronn statt.; Foto: Sergine Laloux

Bei der Auswahl aller Festivalbeiträge ist es Canan Erek wichtig, dass der Funke überspringt und die Zuschauer eine intensive Beziehung zu den Produktionen des zeitgenössischen Tanzes aufbauen können. »Mein Interesse als Künstlerin und Kuratorin gilt zuallererst der kommunikativen Komponente. Wie nimmt ein Stück zum Publikum Kontakt auf, hält die Verbindung und gestaltet einen Dialog?«, fragt sie. Das »Wie« einer ästhetischen Konzeption könne sich mit dem »Was« der inhaltlichen Auseinandersetzung auf vielfältigste Weise verbinden. Für Canan Erek ist es wichtig, dass alle Stücke eine Einladung an das Publikum aussprechen, mit seiner Vorstellungskraft aktiv ins Geschehen einzusteigen und sich auch emotional begeistern zu lassen. So, wie ihr es damals ging, als sie auf einer Videokassette die Stücke von Pina Bausch sah, die so viel Energie in ihr freisetzten, dass sie sich auf den Weg nach Deutschland machte, um es einfach zu versuchen.

Hier gibt es nähere Informationen zu den diesjährigen Programmpunkten von »Tanz! Heilbronn«:

»Fliegende Wörter«. Ein Tanzstück für Klassenzimmer und Schulen von Ceren Oran & Moving Borders
»Le chant des ruines«. Deutsche Erstaufführung der Comapgnie Michèle Noiret (B)
»Cosmic A*«. Deutsche Erstaufführung von Charlie Prince (LB)
»Balancing Bodies« der Compagnie Woest (NL)
»Set of Sets« von GN|MC Guy Nader | Maria Campos (LB/ES)
»Sonoma« von La Veronal (ES)
»Vanishing Point« von Panama Pictures (NL)
Hip-Hop-Tanzworkshop mit Zenny Flex für Jugendliche (13-18 Jahre)
Tanzen im besten Alter mit Nicole Berndt-Caccivio – Kreativer zeitgenössischer Tanz für Menschen 50+

Die Theaterclubs treffen sich wieder

Unsere Theaterclubs haben mit ihren Proben begonnen. Ich war dabei und gebe heute einen Einblick in die ersten Treffen, die endlich wieder hier vor Ort im Theater stattfinden können. Nach fast 2 Jahren wurde das aber auch Zeit! In der letzten Spielzeit fanden die Clubs zum ersten Mal online statt. Das hat auch gut funktioniert, und gemeinsam konnten die Theaterpädagoginnen und die Clubmitglieder tolle Stücke erarbeiten, aber letztlich ist es für alle nicht das gleiche, wie live und in Farbe miteinander zu spielen. „Vor Ort hat man einfach andere Möglichkeiten. Mehr Möglichkeiten auch, mit Körperlichkeit und Raum zu arbeiten. Man ist sich insgesamt näher, hat einen anderen Austausch und das Spielen ist noch dynamischer“, erzählt Schulreferentin Anna-Lena Weckesser, die den Club der 13- bis 16-Jährigen betreut.

Die Mitglieder des Theaterclubs für 9-12-Jährige machen sich Gedanken zum Spielzeitmotto »Wi(e)dersprechen« – gemeinsam mit Schauspielerin Nora Rebecca Wolff.

Wie wichtig diese Dynamik untereinander und das Einnehmen von Raum für die Arbeit der Clubs sind, erlebe ich bei meinem Besuch in den Theaterclubs hautnah. Theaterpädagogin Christine Appelbaum leitet gemeinsam mit der Schauspielerin Nora Rebecca Wolff den Club der 9- bis 12-Jährigen. An diesem Tag steht das Thema Emotionen auf dem Plan. Alle Kinder laufen kreuz und quer durch den Probenraum und nehmen dabei verschiedene Emotionen an. Mal sind sie fröhlich und hüpfen munter durch die Gegend, mal schlurfen sie traurig über’s Parkett, um dann wieder selbstbewusst-mutig mit erhobener Brust zu stolzieren.
Im Club der 16- bis 27-jährigen, den die Theaterpädagogin Natascha Mundt und der Schauspieler Andreas Schlegel betreuen, gestaltet sich dieser Raumlauf etwas anders, denn hier steht heute der Körper im Fokus. So sollen sie in unterschiedlichen Geschwindigkeiten den Raum durchqueren, aber alle so synchron wie möglich. Nach einer kleinen Übungsrunde wird wild zwischen verschiedenen Tempi hin und her geswitcht – vom Rennen geht es prompt ins Schneckentempo und dann wieder ins hastige Eilen oder gemächliche Schlendern. Anschließend macht sich die Gruppe auf die Reise und läuft über den Mond, durch Treibsand und über Scherben. Besonders unterhaltsam wird es für mich als Beobachterin, als sich die jungen Erwachsenen in Paaren durch den Raum bewegen und die hintere Person die vordere imitiert. Da wird zwischen den Säulen entlang getänzelt, sich plötzlich geduckt, um gleich darauf hoch in die Luft zu springen, oder der Raum wird kurzerhand zum Catwalk.

Wer traut sich als nächstes ins Rampenlicht?

Nach diesen Übungen zum Ankommen folgt ein weiterer, ganz wichtiger Aspekt der Theaterclubs, der bei den Online-Treffen ganz eindeutig zu kurz kam: Das Erlebnis, auf einer echten Theaterbühne zu stehen. Heute probieren die Jugendlichen sich zum ersten Mal aus und trauen sich, jeweils einzeln eine Weile einfach stumm auf der Bühne zu stehen. Im Rampenlicht, vor den restlichen Clubmitgliedern, ganz alleine und im Mittelpunkt. Das kostet noch einige Überwindung und Frederik gibt zu, „dass die Zeit dort auf der Bühne plötzlich viel langsamer vergeht und auch ein kleiner Erwartungsdruck entsteht, wenn alle Augen auf dich gerichtet sind.“ Und auch im Club der 9-12-Jährigen geht es heute das erste Mal auf die Bühne: einen Zungenbrecher vorlesen. Und als wenn das noch nicht schwer genug ist, sollen die Kinder ihn noch mit einer der zuvor erprobten Emotionen vortragen. Und das machen sie bereits sehr überzeugend. In diesem Punkt profitieren die Mitglieder ganz klar von den Live-Treffen, denn hier wird auch ihr Selbstbewusstsein geschult und sie bewegen sich vielleicht auch ein wenig aus ihrer Komfortzone heraus. Die 10-jährige Uljana freut sich ganz besonders, denn sie macht beim Theaterclub mit, weil sie Theater so gerne mag und auch mal selbst auf der Bühne stehen möchte.

Zum Abschluss der Clubtreffen geht es jeweils nochmal in Kleingruppen auf die Bühne. Die Kinder spielen kleine Szenen vor, die sie sich zu gemeinsam bestimmten Szenarien in kürzester Zeit selbst ausgedacht und einstudiert haben. Im Club von Natascha Mundt dürfen die jungen Erwachsenen lebende Power-Point-Präsentationen halten. Hierbei erklärt immer eine Person, was auf dem Bild zu sehen ist, und die übrigen stellen das Präsentierte als Standbild dar. Alle setzen das wirklich gut um und bringen viel Humor und Witz ein.

Die Jugendlichen spielen eine selbstausgedachte Szene zum Thema »den Eltern widersprechen«.

Nachdem bei diesen ersten Treffen erstmal die Grundlagen in Sprechen, Körperarbeit, Improvisation und Schauspiel von den Teilnehmenden ausprobiert werden konnten, werden sie nach der Weihnachtspause langsam beginnen, inhaltlich in die Stückentwicklung einzusteigen für ihre Aufführungen im Mai. Hier dreht sich dann thematisch alles um unser Spielzeitmotto, das »Wi(e)dersprechen«, das die einzelnen Clubs auf ihre eigene Art und Weise auf der Bühne umsetzen werden. »Der Theaterclub ist mein kleines Highlight der Woche geworden«, freut sich Anna-Lena Weckesser. Und hofft, dass alle Clubs sich auch im neuen Jahr weiterhin vor Ort treffen können und letztlich auch ihr entwickeltes Stück auf der Bühne der BOXX präsentieren können. Und auch ich werde mir das sicher nicht entgehen lassen.

Kinderreporter zu Gast zur Kinderpressekonferenz

In dieser Spielzeit haben wir endlich wieder regelmäßig die Kinderreporter der Heilbronner Stimme im Haus! Ihren ersten Einsatz hatten sie jetzt zur Kinderpressekonferenz – und haben hier von unserem Team des Jungen Theaters Einführungen in die Stücke bekommen, die in dieser Spielzeit in der BOXX gezeigt werden. Dann gab es noch Infos zu unserem Workshop-Angebot und zu den Theaterclubs, bevor die Nachwuchsreporter ihre zahlreichen Fragen stellen konnten. Diese reichten von Konzeptionellem (Wer denkt sich die Workshops aus und wer sucht die Stücke aus?) über die Handwerkskunst der Schauspieler (Passt sich der Schauspieler eher der Rolle an oder die Rolle / die Figur sich dem Schauspieler?) bis hin zum allgemeinen Theaterbetrieb (Was hat das Theater im Lockdown gemacht und wie steht es eigentlich um die Barrierefreiheit?). Nicole Buhr, die Leiterin des Jungen Theaters, die Theaterpädagoginnen Natascha Mundt und Christine Appelbaum sowie die Schulreferentin Anna-Lena Weckesser wussten auf fast jede Frage eine Antwort (Wie viele verschiedene Jobs es am Theater tatsächlich gibt, das hatten wir bislang auch noch nicht genau nachgezählt!) und konnten den Kindern viele kleine Anekdoten erzählen.

Unser Team des Jungen Theaters stand den Kinderreportern Rede und Antwort (v.l. Christine Appelbaum, Natascha Mundt, Nicole Buhr, Anna-Lena Weckesser) Foto: Kea Leemhuis


Die Kooperation mit der Heilbronner Stimme besteht bereits seit der Spielzeit 2019/20 und umfasst neben der Pressekonferenz eine Theaterführung, einen praktischen Workshop mit der Theaterpädagogik und Rezensionen von unseren Kinder- und Jugendstücken. Die Theaterführung wurde coronabedingt zwar noch verschoben, einen ersten Blick in die BOXX samt aufgebautem Bühnenbild für »Petty Einweg« konnten die Kinder aber schon erhaschen. Dann machten sie sich, bestückt mit jeder Menge Notizen, vielen neuen Infos und einem BOXX-Turnbeutel auf den Weg nach Hause, um ihre Artikel zu verfassen. Wir sind schon sehr gespannt!

Anekdoten zum »Endspiel« – Teil 2

Noch einmal wollen wir euch mit interessanten Hintergrundinfos zu Samuel Becketts »Endspiel« versorgen, das in der Inszenierung unseres Intendanten Axel Vornam am 26. Novemer 21 die letzte Vorstellung hat.

Das »Endspiel« provozierte – wie alle Texte Becketts – eine ganze Flut von Interpretationsansätzen. Auch an den Namen der beiden Figuren »Hamm« und »Clov« arbeiteten sich ganze Generationen von Theatermenschen und Literaturwissenschaftlern ab. Ernst Schröder, der Hamm in Becketts eigener Inszenierung in der Werkstatt des Berliner Schiller Theaters 1967, erklärte sich die Namensgebung damit, dass seine Figur wie ein Hammer auf drei Nägel (seine Interpretation der Namen Clov, Nagg und Nell) einschlägt.

»Endspiel« von Samuel Beckett, Foto: Candy Welz

Etwas peinlich wurde es für den legendären Philosophen Theodor W. Adorno: In seinem Aufsatz »Versuch, das Endspiel zu verstehen« von 1961 leitete er Hamm von Hamlet her, Clov sein ein »verkrüppelter Clown«. Bei einer Feierstunde des Suhrkamp Verlag zu Ehren Becketts bestand er auf seiner Interpretation, obwohl der Autor ihm schon vorher beim Mittagessen heftig widersprochen hatte. Darauf hin flüsterte Samuel Beckett seinem Verleger Siegfried Unseld ins Ohr: »Das ist der Fortschritt der Wissenschaft, dass die Professoren mit ihren Irrtümern weitermachen können!«

Wofür stehen für Sie Hamm und Clov? Spannen Sie Ihre interpretatorischen Muskeln bei der letzten Vorstellung unseres »Endspiels« am 26. November!

»Endspiel« von Samuel Beckett, Foto: Candy Welz

Gemeinsam in die Zukunft spielen – experimenta und Theater Heilbronn richten gemeinsam ein Festival aus

Was haben Wissenschaft und Theater gemeinsam? Wie können sie sich gegenseitig befruchten? Das sind die Fragen, aus denen sich das Heilbronner Festival »Science & Theatre« entwickelt hat. Zum zweiten Mal laden experimenta und Theater Heilbronn vom 17. bis zum 21. November zum Forschen, Entdecken und Staunen ein.

Sechs ganz unterschiedliche Inszenierungen zeigen, was die Bühnenkunst aus und mit Wissenschaft alles anstellen kann: Ein bekannter Autor lässt von sich selbst ein Roboter-Double anfertigen, das in einem Stück auftritt. Zwei Schwestern sehen in Künstlicher Intelligenz die Lösung ihrer persönlichen Pflegeprobleme. Kuriose Maschinen machen in der lustvollen Performance einer niederländischen Gruppe Musik »auf Kollisionskurs«. Oder bei einer spannenden Mitmachaktion erfahren Kinder, was Zucker in ihrem Körper so alles auslösen kann. Und ein knallbunter Bühnencomic wirft einen ebenso skurrilen wie gruseligen Blick in die Zukunft.

»Schwarze Schwäne« von Christina Kettering ist das Gewinnerstück des ersten Autorenwettbewerbs »­Science & Theatre« des Jahres 2019, den das Theater Heilbronn ausgelobt hatte und wird nun im Science Dome der experimenta uraufgeführt.

In die Zukunft richtet sich auch der Dramenwettbewerb, der Teil des Festivals ist: Am 21. November kann das Publikum bei den Szenischen Lesungen der drei Gewinnerstücke mitentscheiden, welches 2022 auf den Spielplan kommt. Im Augenblick laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren, einen Vorgeschmack auf das Festival liefern aber schon die Trailer auf unserer Homepage. Freuen Sie sich auf fünf prall gefüllte Tage, die Kopf, Herz und Bauch – das Team der experimenta hat auch Science Häppchen vorbereitet – zugleich ansprechen werden!

Hier gibt’s weitere Infos zu den einzelnen Programmpunkten:

»Schwarze Schwäne« (UA) von Christina Kettering
»Uncanny Valley / Unheimliches Tal« von Rimini Protokoll
»Ramkoers« von der Muziektheatergroep BOT
»Auf Zucker – ein Selbstversuch in sieben Süßigkeiten« vom Fundus Theater – Theatre of Research
»Die Mondmaschine« von Mass & Fieber OST
»The Last Mortal« von half past selber schuld
Dramenwettbewerb »Science & Theatre«
Podiumsdiskussion »Künstliche Intelligenz und Theater«