Nicht gesucht, aber gefunden

Figurentheater ist für Katja Spiess die innovativste der Darstellenden Künste und eine große Leidenschaft

Foto: Max Kovalenko

Hand aufs Herz! Woran denken Sie, wenn Sie den Begriff Figurentheater hören? Wahrscheinlich kommt vielen, zumindest denjenigen, die noch nie die »IMAGINALE« besucht haben, zuerst und ausschließlich die Augsburger Puppenkiste oder das Kasperle-Theater aus Kindertagen in den Sinn. So ging es vor 29 Jahren auch Katja Spiess, die nach ihrem Studium der Germanistik, Geschichte und der vergleichenden Literaturwissenschaften auf der Suche nach einer Dramaturgie-Stelle im Theater war. Im Bereich Tanz oder Schauspiel sollte es sein. Figurentheater hatte sie gar nicht auf dem Schirm, als ihr durch Zufall ein Job in der Pressestelle/Dramaturgie des FITZ, des Theaters animierter Formen, in Stuttgart angeboten wurde. Sie willigte ein, wollte maximal ein Jahr bleiben. Jetzt sind es 29 Jahre, 20 davon als Leiterin des FITZ und als Mitbegründerin des Festivals »IMAGINALE« im Jahre 2008, das zu den wichtigsten Figurentheaterfestivals in Europa gehört. Sie hat ihre berufliche Liebe dort gefunden, wo sie nicht im Traum darauf gekommen wäre, zu suchen. Die Leidenschaft ist bis heute frisch, wird geradezu ständig neu entfacht. Denn kaum eine Kunstform ist so innovativ und entwickelt sich so dynamisch wie das Figurentheater, sagt Katja Spiess. »Dies liegt an dem ungeheuren Potential an künstlerischer Veränderung und Weiterentwicklung, die im Figurentheater steckt, und an der inspirierenden Kraft, die von diesem Genre ausgeht. Der Fundus dieser virtuosen Kunst reicht vom zerknüllten Papier bis zur filigranen Marionette, von Masken bis zu Licht, Raum und Schatten, von der Stabpuppe bis zum Alltagsobjekt. Grenzüberschreitungen zu Schauspiel, Musik, Tanz und Pantomime sind inzwischen selbstverständlich und machen Figurentheater zu einer sehr zeitgemäßen Kunstform.

Mit Beginn des neuen Jahrtausends bewegen sich vor allem die jungen Theatermacher verstärkt auf die anderen Künste und die Neuen Medien zu. Sie definieren ihr künstlerisches Selbstverständnis nicht mehr im Kontext herkömmlicher Inszenierungs- und Aufführungstraditionen. Bildende Kunst, Performance Art, Musik, Film, Video werden in ästhetische und inhaltliche Strategien eingebunden, die interdisziplinärem Denken entspringen, und unbefangen zu verschiedensten künstlerischen Ausdrucksweisen vereinigt.« So wird auf der Homepage des FITZ mit Begeisterung geworben. Aber nicht nur die fantastische Bandbreite an Formen ist beeindruckend. »Figurentheater kann auf besondere Weise vom Menschen erzählen«, schwärmt Katja Spiess. Es greift die großen Menschheits-Themen auf: Das Leben in all seiner Schönheit und Mühsal, den Tod aber auch die große Politik. Es darf Schabernack treiben, in die tiefsten Abgründe schauen, frech und politisch unkorrekt sein. Und es darf Grenzen überschreiten, die Schauspielern aus Fleisch und Blut gesetzt sind. Man kann den Puppen unendlich viel zumuten. »Aber am Ende vergisst man, dass es Puppen sind und man könnte schwören, dass die Masken nicht starr gewesen sind, weil das Spiel einen emotional so tief berührt hat.«

Für die »IMAGINALE« wählt Katja Spiess alle zwei Jahre die spannendsten internationalen Figurentheaterinszenierungen aus. Sie fährt im In- und Ausland herum, um neue Stücke anzuschauen und besucht viele Festivals. Eigentlich sollte die 8. »IMAGINALE« bereits 2022 stattfinden, aber die Coronabedingten Unsicherheiten machten ein internationales Festival zu diesem Zeitpunkt unmöglich und es wurde um ein Jahr verschoben. Für die »IMAGINALE« 2023, die nun vom 02. bis 12. Februar 2023 stattfindet, konnte sie nur wenig reisen. Stattdessen hat sie viele großartige Künstlerinnen und Künstler angesprochen und nach neuen Arbeiten gefragt. So wird das 8. Festival animierter Formen auch eine kleine Wundertüte mit vielen Stücken, die dann zum ersten Mal zu sehen sein werden.

Der Funke muss überspringen

Canan Erek blickt voller Vorfreude auf das erste von ihr kuratierte Festival »Tanz! Heilbronn«

Seit 2021 ist Canan Erek (*1968 in Istanbul, seit 1987 lebt sie in Deutschland) die neue Kuratorin des Festivals »Tanz! Heilbronn«. Die Tänzerin, Choreografin und engagierte Kulturvermittlerin freut sich darauf, vom 17.-22. Mai 2022, ihr erstes Festivalprogramm zu präsentieren.

Canan Erek ist neue Kuratorin von »Tanz! Heilbronn«; Foto: B. Lorenz Walter

Als Tochter aus bildungsbürgerlichem Hause besuchte Canan Erek in ihrer Kindheit und Jugend den klassischen Ballettunterricht in ihrer Heimatstadt Istanbul: »Obwohl ich rein physisch für diese Art von Tanz gar nicht geschaffen war, arbeitete ich hart«, erinnert sie sich an ihre Anfänge. Eines Tages brachte eine Tanzlehrerin eine Videokassette mit zwei legendären Stücken von Pina Bausch mit: »Café Müller« und »Le Sacre du printemps«. Canan, damals 18 Jahre alt, war hingerissen. So kann Tanz also auch aussehen! Sie recherchierte und fand die Folkwang-Hochschule in Essen, in der Pina Bausch den Bereich Tanz leitete. Warum es nicht einfach versuchen! Sie kam nach Deutschland, nahm an einer Audition in Essen teil, wurde genommen und begann 1987 ihre Ausbildung im zeitgenössischen Bühnentanz. »Pina Bausch hat selbst zwar keinen Unterricht gegeben, aber sie kam mehrmals im Jahr, um sich unsere Entwicklung anzuschauen und mit uns über unsere tänzerischen Ausdrucksformen zu reden.« Sie war es auch, die Canan bestärkt hat, nach der Tanz-Ausbildung noch ein Studium der Choreographie dranzuhängen, nachdem sie erste, noch während des Studiums selbstkreierte Stücke der jungen Tänzerin gesehen hatte.

Von Essen ging es ins wilde Ost-Berlin Anfang der 90er-Jahre. Hier studierte sie als erste türkische Studentin an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Choreographie. Die Erfahrungen des Ost-West-Clashs im zusammenwachsenden Berlin fand sie damals zwar spannend, aber auch anstrengend, weil sie sich nirgends zugehörig fühlte, erinnert sich Canan Erek. Ihre künstlerische Heimat wurde ab 1996 das Ballhaus Naunynstraße in Berlin. Ihre Arbeiten wurden in verschiedenen Theatern in Berlin und auf Festivals gezeigt. Als Gastchoreografin arbeitete sie u. a. für die Australian Opera in Sydney, für das Hans Otto Theater in Potsdam und für das Berliner Ensemble. Ein dreijähriges Intermezzo führte sie nach Leipzig als Leiterin des dortigen Tanztheaters. Dann ging sie wieder zurück nach Berlin, um zu tanzen, zu choreografieren und immer mehr nach außergewöhnlichen Ausdrucksformen zu suchen.

Tanz an anderen Orten zu inszenieren, als man ihn erwartet, in Parks etwa oder in Bürgerämtern – eben mitten im öffentlichen Raum, das hat Canan Erek damals schon interessiert. Der besondere Reiz, auf Leute zuzugehen, die sich nicht von vornherein für Tanz begeistern, das fand Canan Erek spannend. Bis heute ist dies ein wichtiges Element ihrer Arbeit, die sich mehr und mehr in den Bereich Kulturvermittlung, Projektmanagement, kulturelle Bildung und Festivalleitung verlagert.

Gerade hat Canan Erek eine deutschlandweite Online-Konferenz geleitet: »Auf dem Sprung zur Sparte? – Tanz für junges Publikum«, war sie überschrieben und ging der Frage nach, ob man ähnlich wie das Junge Theater in Deutschland auch den Jungen Tanz als feste Institution an den Theatern etablieren kann. Canan Erek hat beste Erfahrungen auf diesem Gebiet. Seit 2017 leitet sie »PURPLE – Internationales Tanzfestival für junges Publikum« in Berlin. Sie erlebt immer wieder, dass Kinder und Jugendliche durch ihre natürliche, aktive und offene Haltung ein wunderbares Publikum sind, das man eigentlich für alles begeistern kann. Sie haben es sogar sehr leicht, sich in die abstrakten Formen des Tanzes hinein zu fühlen. Diesen Schwerpunkt will sie auch als neue Kuratorin des Festivals Tanz! Heilbronn stärken. Zwei der sieben eingeladenen Stücke wurden explizit für junges Publikum erarbeitet.

Das Festival »Tanz! Heilbronn« findet vom 17. bis 22. Mai 2022 am Theater Heilbronn statt.; Foto: Sergine Laloux

Bei der Auswahl aller Festivalbeiträge ist es Canan Erek wichtig, dass der Funke überspringt und die Zuschauer eine intensive Beziehung zu den Produktionen des zeitgenössischen Tanzes aufbauen können. »Mein Interesse als Künstlerin und Kuratorin gilt zuallererst der kommunikativen Komponente. Wie nimmt ein Stück zum Publikum Kontakt auf, hält die Verbindung und gestaltet einen Dialog?«, fragt sie. Das »Wie« einer ästhetischen Konzeption könne sich mit dem »Was« der inhaltlichen Auseinandersetzung auf vielfältigste Weise verbinden. Für Canan Erek ist es wichtig, dass alle Stücke eine Einladung an das Publikum aussprechen, mit seiner Vorstellungskraft aktiv ins Geschehen einzusteigen und sich auch emotional begeistern zu lassen. So, wie ihr es damals ging, als sie auf einer Videokassette die Stücke von Pina Bausch sah, die so viel Energie in ihr freisetzten, dass sie sich auf den Weg nach Deutschland machte, um es einfach zu versuchen.

Hier gibt es nähere Informationen zu den diesjährigen Programmpunkten von »Tanz! Heilbronn«:

»Fliegende Wörter«. Ein Tanzstück für Klassenzimmer und Schulen von Ceren Oran & Moving Borders
»Le chant des ruines«. Deutsche Erstaufführung der Comapgnie Michèle Noiret (B)
»Cosmic A*«. Deutsche Erstaufführung von Charlie Prince (LB)
»Balancing Bodies« der Compagnie Woest (NL)
»Set of Sets« von GN|MC Guy Nader | Maria Campos (LB/ES)
»Sonoma« von La Veronal (ES)
»Vanishing Point« von Panama Pictures (NL)
Hip-Hop-Tanzworkshop mit Zenny Flex für Jugendliche (13-18 Jahre)
Tanzen im besten Alter mit Nicole Berndt-Caccivio – Kreativer zeitgenössischer Tanz für Menschen 50+

Auf dem Karussell fahren alle gleich schnell

Eine musikalisch-literarische Festwiese

Benefizkonzert am 7. November 2021 im Großen Haus als großes Fest des Miteinanders

Es ist ein so einfaches wie schönes Bild: Ein Kettenkarussell dreht sich – darin sitzen Menschen jeglicher Herkunft, Jung und Alt. Sie lachen und genießen den Rausch der Geschwindigkeit. Niemand fliegt hier höher, schneller oder weiter als der andere, es gibt keine Unterschiede mehr: »Auf dem Karussell fahren alle gleich schnell«.
Das ist auch der Titel des großen Benefizkonzertes am 7. November 2021 um 19.30 Uhr im Großen Haus. Vier Institutionen der Kultur- und Musikszene, die zum ersten Mal miteinander spielen, versammeln sich zum Abschluss des 17-tägigen Theaterprojektes »Kein Schlussstrich!«, das sich mit den Taten des NSU auseinandersetzt, um auf musikalische-literarische Weise die wunderbare gesellschaftliche Utopie einer umfassenden gegenseitigen Akzeptanz zu entwerfen. Auf der Bühne zu erleben sind die phantastischen Gipsy-Jazzmusiker Christoph König (Violine), Dario Napoli (Gitarre) und Benji Nini Winterstein (Rhythmusgitarre), der Poetry Slamer Sulaiman Masomi, das Württembergische Kammerorchester Heilbronn und die Big Band-Besetzung des Landespolizeiorchesters Baden-Württemberg.

»Wir wollten das große Theaterprojekt ›Kein Schlussstrich!‹ versöhnlich und mit einem großen musikalischen Dialog beenden«, sagt die geschäftsführende Chefdramaturgin Dr. Mirjam Meuser. Sie hat die gesamte Veranstaltungsreihe für das Theater Heilbronn kuratiert und auch die Idee für das Abschlusskonzert in einem gemeinsamen Brainstorming mit Intendant Axel Vornam und WKO-Intendant Rainer Neumann entwickelt. Ausgangspunkt bei der Ideenfindung war die Theresienwiese, die über viele Jahre ausschließlich die Festwiese für die Heilbronner Bevölkerung war, bis sie sich ab dem 25. April 2007 auch als Tatort des Mordes an Michèle Kiesewetter in das kollektive Gedächtnis der Stadt eingebrannt hat. Das eine ist seither ohne das andere nicht mehr denkbar. So kam es zu dem Gedanken, einmal alle Akteure, die an dieser Erzählung von der Theresienwiese teilhaben, gemeinsam auf eine Bühne zu holen. Warum nicht vereinen, was nicht auf den ersten Blick zusammengehört – im Versuch eines großen gemeinsamen Dialogs? Zumal das Landespolizeiorchester seinen Sitz in Böblingen hat, jenem Ort, an dem auch die junge Polizistin Michèle Kiesewetter stationiert war. Schnell war für beide Orchester klar, dass sie bei diesem ungewöhnlichen Projekt im Theater zusammenarbeiten wollten. Für die weitere Programmgestaltung holte sich das Team den Dirigenten und Arrangeur Christian Dominik Dellacher mit ins Boot, der für diesen Abend die musikalische Leitung übernimmt. Und sie arbeiteten mit der Musikvermittlerin und Kulturmarketing-Expertin Dr. Barbara Volkwein zusammen, die viel Erfahrung in solchen Cross-Over-Projekten besitzt. Barbara Volkwein gewann ein großartiges Gipsy-Jazz-Trio: Christoph König ist eigentlich klassischer Violinist mit Vorliebe zu osteuropäischer Musik, er ist aber auch im Jazz zu Hause und spielt regelmäßig mit großen Vertretern des Gipsy Swings. Dario Napoli gilt europaweit als der aufsteigende Star am Gipsy-Gitarrenhimmel. Der Italiener vertritt die Modernisierung des Django Reinhardt Stils und tritt europaweit bei Jazzfestivals auf. Benji Nini Winterstein ist Gipsy Jazz Rhythmusgitarrist und ist Nachfahre aus der berühmten Musikerfamilie um Titi Winterstein. Er gehört zu den unermüdlichen Arbeitern an der Rhythmusgitarre und ist unverzichtbares Herzklopfen eines Gipsy-Jazz-Orchesters.

Dem Gipsy-Jazz wird im musikalischen Diskurs dieses Abends ein breiter Raum eingeräumt. Denn wegen der bekannten Wattestäbchen-Ermittlungspanne im Fall Kiesewetter richtete sich der Verdacht lange Zeit zu Unrecht auf Vertreterinnen der Sinti und Roma.
Und schließlich ist noch der berühmte deutsch-afghanische Rapper und Bühnenpoet Sulaiman Masomi mit dabei. Er ist einer der besten, wenn es um die Auseinandersetzung mit Rassismus in Deutschland geht, und er schreibt extra für diesen Abend einen Text.

So gehen in diesem musikalisch-literarischen Programm seelenvolles Gedenken und ausgelassene Zuversicht Hand in Hand. Puccini und Gershwin treffen auf die Texte von Sulaiman, Dvořák auf die jazzigen Klänge des Gipsy-Jazz-Trios. Und auch Rimsky-Korsakov und Sting, Piazzolla und Milhaud sind  mit von der musikalischen Partie.

Ein einmaliges Konzert, wie es es so in Heilbronn noch nie gegeben hat: Für einen langen Augenblick findet das vermeintlich Unvereinbare zueinander und begibt sich in einen großen, lebhaften Dialog. Denn miteinander zu reden, ob mit Worten oder den Mitteln der Musik, ist der einzige Weg, unsere Gesellschaft zu einen.

Die Einnahmen aus dem Konzert gehen an die Hildegard Lagrenne Stiftung, die sich für Bildung, Inklusion und Teilhabe von Sinti und Roma in Deutschland einsetzt.

»Auf dem Karussell fahren alle gleich schnell« am 7. November 2021 um 19.30 Uhr im Großen Haus.

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Schnell mal kreativ sein

Besuch beim Workshop: Stressabbau und Konzentrationssteigerung mit der Theaterpädagogik 

»Sitzen 13 Akademiker um 19.15 Uhr zusammen und machen Grimassen«, schreibt einer in die Chatkommentare und sendet drei dicke Grinse-Smilies hinterher. Seinem Gesicht, in das sich seit geraumer Zeit ein breites Lächeln eingegraben hat, sieht man den Spaß an dieser speziellen Abendunterhaltung an. Wie die anderen Akademiker, die sich zur Online-Konferenz verabredet haben, ist er Lehrer und der Einladung der Abteilung Theaterpädagogik zum Workshop »Energizer und Warm up« gefolgt. Schon zum zweiten Mal haben die Theaterpädagoginnen des Theaters Heilbronn zu einer Online-Fortbildung für Pädagogen eingeladen, in der sie ganz praktische Tipps vermitteln, wie man in einer Schulklasse nach anstrengenden Arbeitsphasen Lockerungsübungen einbaut, oder wie man die Konzentration wieder sammelt, wenn die Energie der Schüler langsam schwindet. Die Idee kam Natascha Mundt, Christine Appelbaum und Anna-Lena Weckesser, weil es im Online-Unterricht zu Corona-Zeiten dreimal schwerer ist, die Aufmerksamkeit der Schüler auf einem hohen Level zu halten. Sie selbst merken es bei der Arbeit mit ihren Kinder- und Jugendclubs, wo die Übungen ihnen schon so manchen guten Dienst erwiesen haben. Das Schöne ist, dass alle Methoden auch in Präsenzveranstaltungen und mit allen Altersgruppen funktionieren. Die Theaterpädagoginnen setzen sie regelmäßig ein, wenn sie in den Schulen der Region unterwegs sind, und kaum jemand kann sich dem Charme dieser so ganz und gar nicht pädagogisch wertvoll daherkommenden Energizer entziehen.
Auch die Lehrer nicht, denen Natascha Mundt und Christine Appelbaum an diesem Abend gern von ihrem Wissen abgeben. Eigentlich wollten sie zu zweit die Gruppe anleiten, aber weil es auch für diesen Termin so viele Anmeldungen gab, wird die Gruppe geteilt. Ich darf beim Online-Workshop vom Team Natascha zuschauen und, um es gleich vorweg zu nehmen: Ich habe schon lange nicht mehr so einen lustigen Abend erlebt.

Die Theaterpädagoginnen Natascha Mundt und Christine Appelbaum leiten die Workshops an.

Los geht’s mit einem Kennlernspiel: Die Computer-Kameras werden mit Post-its abgeklebt, die abgenommen werden, wenn man sich von einer bestimmten Frage der Teamleiterin angesprochen fühlt. Bei der letzten Frage in dieser Rubrik – Wer hätte jetzt lieber Präsenzunterricht? – sind alle Klebezettel weg. 
Bei einer der nächsten Übungen gilt es, schnellstmöglich Gegenstände in einer vorgegebenen Farbe herbei zu schaffen und in die Kamera zu halten. Danach geht es um Wahrnehmungstraining – alle Teilnehmer prägen sich für zwei Minuten die Gesichter und die Bild-Hintergründe der anderen ein. Dann werden die Kameras abgeklebt und jeder ändert zwei Details an sich, die anschließend von den anderen erraten werden müssen: Brille auf, Haare offen, Ordner verschwunden … Man muss schon genau hinschauen und sein Gegenüber bewusst wahrnehmen. Dann wird es wieder sportlich, wenn alle sehr zügig Utensilien heranholen müssen, die mit einem bestimmten Buchstaben anfangen. Wer die meisten Dinge eingesammelt hat, ist Sieger. Die Steigerung dieser Übung ist eine Geschichte, die man rund um diese Gegenstände erfinden soll. Je absurder, desto besser. Ein herrlicher Spaß und ein wunderbares Training für die grauen Zellen.

Bereit für den Workshop.

Nach einer kurzen Pause wird es nun richtig spaßig. Zunächst gilt es, berühmte Bilder nachzustellen. Dann soll man die Grimasse seines Vorgängers nachmachen (O-Ton der Ermunterung von Natascha Mundt: Man muss keine Angst haben, sich zum Obst zu machen). Wer will, kann hier mit seiner Gruppe die beste Grimasse küren. »Die Klassen lieben es, sie machen wirklich alle mit«, versichert die Theaterpädagogin.
Dann folgt die Aufgabe, Emotionen in unterschiedlichen Abstufungen darzustellen: zum Beispiel ein bisschen Freude, größere Freude, riesengroße Freude. An dieser Stelle ist bei vielen Workshopteilnehmern durchaus schauspielerisches Talent erkennbar.
Mein Highlight ist folgende Übung: Alle stellen sich mit dem Rücken zur Kamera. Wenn sie nach vorne schauen, befinden sie sich in einer bestimmten Rolle. Wie sieht ein typischer Lehrer aus? Vom Erklärbär bis zur (gegenwärtig) ratlosen Person ist eine große Auswahl an Persönlichkeitstypen. Und dann die Aufforderung: Dreht euch um als eure Schüler! Köpfe mit zerrauften Haaren und zerknirschten Gesichtern schauen jetzt aus den Video-Kacheln. Aber alle mit einem liebevollen Augenzwinkern, bei dem man erkennen kann, warum die Lehrer nach vielen Stunden online-Unterricht noch den Workshop absolvieren – für ihre Schüler nämlich!
So manche Übung könnte man auch als Party-Spaß in sein Repertoire aufnehmen, wenn es denn wieder möglich ist. Einen Zungenbrecher zu sprechen etwa – zuerst normal, dann ganz schnell, hinterher in Zeitlupe, mit einer vorgestellten großen Kartoffel im Mund, einem Zahnstocher quer oder einer heißen Kirsche. Oder man tauscht alle Vokale in ein A: Faschers Fratze faschte frasche Fasche …
Und versuchen Sie mal, in der Gruppe bis 21 zu zählen, jeweils einer nach dem anderen, ohne festzulegen, wer wann dran ist. Immer wenn zwei zur gleichen Zeit eine Zahl nennen, muss wieder von vorn begonnen werden. An diesem Abend kommen all die schlauen und engagierten Lehrerinnen und Lehrer nicht weiter als bis zur Sieben. Macht nichts! Dafür haben sie jede Menge Muskeln gelockert, Stress abgebaut und Glückshormone freigesetzt. So viel ist sicher!

Der Workshop wird für alle interessierten Lehrkräfte wieder angeboten. Wer Interesse hat, kann sich auf der Warteliste unter: theaterpaedagogik@theater-hn.de anmelden.

Podcast-Hörer wissen mehr

Theater Heilbronn lädt zum neuen Podcast-Format »HörBühne« ein

Ab morgen können Freunde des Heilbronner Theaters und solche, die es werden wollen, noch näher dran sein an allem, was im Theater passiert. Am 11. Februar beginnt das Theater unter dem Titel »HörBühne – hören was sich im Theater abspielt« mit einer regelmäßigen Podcast-Reihe. Zwei im Monat wird akustisch hinter die Kulissen geblickt, oder es werden Hintergrundinformationen zu den Inszenierungen des Theaters präsentiert, die man sonst nirgends bekommt. Es gibt Interviews mit den Theatermachern und Experten zu den Themen der Stücke oder Hörreportagen, die den Theaterleuten beim Arbeiten einfach auf die Finger schauen. Fakt ist: Podcast-Hörer wissen mehr und können die Theaterabende als bestens informierte Zuschauer genießen.

Katja Schlonski für den Podcast in Aktion. (Foto: Rebekka Mönch)

Das Theater Heilbronn hat sich für dieses neue Format eine Expertin ins Team geholt: Katja Schlonski, die viele Jahre als Reporterin, Moderatorin und Redakteurin beim SWR gearbeitet hat. Als leidenschaftliche Radiomacherin ist sie natürlich Profi beim Erstellen von Hörfunkbeiträgen. Für den Theaterpodcast kann sie dabei alle Register ihres Könnens ziehen und Radiofeatures erstellen, die im besten Sinne alte Schule sind und für die es im normalen Sendealltag kaum mehr Platz gibt.

Dafür hat sich Katja Schlonski in ihrem heimischen Arbeitszimmer ein Tonstudio eingerichtet. Ihre beruflichen Wurzeln liegen übrigens im Theater. Nach dem Studium ging sie ans Junge Theater Göttingen. Sie arbeitete als Regieassistentin hinter den Kulissen und stand als Schauspielerin auf der Bühne. Weitere Theaterstationen waren das Theater Konstanz und die Staatstheater Karlsruhe und Oldenburg, bevor ihr Weg sie zum Radio führte. »Die Liebe zum Theater ist immer geblieben. Irgendwie schließt sich jetzt ein Kreis«, sagt sie. Aus ihrer eigenen Erfahrung weiß sie um die Sensibilität, das Wechselspiel aus Nähe und Distanz, die es braucht, um den Kreativen am Theater in den Proben, die eigentlich geschützte Räume sind, zuschauen zu dürfen.

Katja Schlonski schaut im Podcast hinter die Kulissen. (Foto: privat)

Ursprünglich sollte die Begleitung der Uraufführungsinszenierung »Schwarze Schwäne« mit mehreren Podcasts das Pilotprojekt für die »HörBühne« sein. Katja Schlonski besuchte dafür einige Proben, interviewte die Akteure und beleuchtete die Arbeit am Stück unter den unterschiedlichsten Blickwinkeln. Da sich die Premiere aber Corona-bedingt verschiebt, werden diese Beiträge später ausgestrahlt. Stattdessen beginnt die »HörBühne« nun mit Geschichten rund ums Theater, die davon erzählen, was sich im Haus am Berliner Platz alles ereignet, wenn offiziell nichts passiert. Die prägnante Erkennungsmelodie wurde übrigens von Markus Herzer arrangiert, der als Musiker an vielen musikalischen Inszenierungen des Theaters Heilbronn beteiligt ist. Sie leitet jeden Podcast ein – als unverwechselbares Signal: Hören Sie zu! Hier gibt’s was Spannendes auf die Ohren!

Am 11. Februar 2020 um 17.30 Uhr geht die erste Folge unseres Podcasts an den Start. Ihr könnt den Podcast direkt auf unserer Webseite hören unter:
https://www.theater-heilbronn.de oder bei Spotify, iTunes, Deezer und vielen anderen Podcast-Apps.

Jeden 2. und 4, Donnerstag im Monat gibt es eine neue Folge.
Startet mit uns einen Lauschangriff auf die Geschichten im Theater.


Wodka gegen strenge Gerüche

Die Kostümwerkstatt kennt so manches Hausmittel zur Pflege von Kleidung

Als die Kostümwerkstatt des Theaters Heilbronn zum wiederholten Mal eine größere Menge Wodkaflaschen bestellte, bat der Intendant den Leiter Manuel-Roy Schweikart zu einem vertraulichen Gespräch zu sich. Was ist denn bei Ihnen los? Wozu brauchen Sie denn den ganzen Wodka? Hat da jemand ein Problem? Der Chef der Kostüm­abteilung konnte den Theater­leiter beruhigen: Wodka ist einfach das beste Mittel gegen Schweißgerüche bei Kostümen, die nicht permanent gereinigt werden können. Man füllt das hochprozentige Getränk in eine Sprühflasche und bringt den Wodkanebel auf das Kleidungsstück auf. Anschließend wird es zum Lüften aufgehängt und duftet am nächsten Tag wieder frisch. Warum das funktioniert? Der Alkohol tötet die Bakterien ab, ist aber geruchlos. »Wir haben viele Kostüme aus speziellen Materialien, die man nur schwer reinigen kann«, sagt der erfahrene Gewandmeister. Das ist ein Mittel, das man übrigens auch für den Hausgebrauch nutzen kann – statt Jacketts häufig in die Reinigung zu geben, lieber einmal mit Wodka behandeln, dann werden sie wieder frisch. Auch Stinke-Schuhe kann man auf diese Weise von lästigen Gerüchen befreien.

Manuel-Roy Schweikart in der Kostümwerkstatt.
Foto: Rebekka Mönch

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kostümwerkstatt haben einen Haufen Tipps zur Pflege und Reinigung von Kleidung parat. »Jeder steuert aus seinem reichen Erfahrungsschatz etwas dazu bei«, erzählt Schweikart, der selbst an seinen unterschiedlichen beruflichen Stationen viele neue Tricks gelernt hat. Nach seiner Ausbildung zum Damen- und Herrenschneider am Theater Augsburg arbeitete er an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin und absolvierte dann ein Meisterstudium in der Modellistik. Einer seiner ersten Arbeitgeber war Wolfgang Joop, in dessen Firma »Wunderkind« Manuel-Roy Schweikart die Inspirationen des Meisters umsetzte. Bevor er ans Theater Heilbronn kam, gehörten Guido Maria Kretschmer, Adelshäuser, Adidas und die Lufthansa zu seinen Auftraggebern. Woher er weiß, dass farbige Kleidung ihre Farbintensität behält, wenn man dem Waschmittel beim ersten Waschen einen guten Schluck Essigessenz und circa zwei Esslöffel Salz zusetzt, kann er nicht mehr rekonstruieren. Er weiß einfach, dass es funktioniert. »Das tut übrigens auch der Waschmaschine gut«, ergänzt er. Von speziellen Waschmitteln für dunkle Wäsche hält er nichts. Die seien nur ein Verkaufstrick. Spätestens wenn die Corona-Kontaktbeschränkungen aufgehoben werden, dürften viele auch dieses Problem wieder beklagen: Make-Up-Flecken auf Sakkos. Küsschen links und Küsschen rechts, eine Umarmung, und schon hat man beige oder zartbraune Schlieren auf dem Stoff. »Hier helfen ganz normale Baby-Feuchttücher ohne Öl, mit denen man leicht über die Flecken wischt«, rät Manuel-Roy Schweikart.

Vorratsschrank der Kostümabteilung.

Bei Öl-Flecken in Kleidung kennen viele den Tipp, ein einfaches Geschirrspülmittel anzuwenden. Das geht aber nur bei waschbaren Sachen. Ist das nicht der Fall, kann ein Stück Schneider-kreide helfen. Man schabt ein-fach ein wenig Pulver von der Kreide auf den Fleck. Diese darf aber nur leicht aufliegen und keinesfalls eingerieben werden. Nach einer kurzen Zeit wird das ganze ausgeklopft. Die Kreide hat dann das Öl wie ein Magnet herausgezogen. Krauseminzwasser hilft gegen Glanzstellen vom Bügeln. Lavendelwasser, mit dem man Stoffsäckchen tränken und in den Schrank hängen kann, ist stark gegen Motten. Beide Wässerchen sind preiswert in der Apotheke zu bekommen und werden viel im Kostümfundus eingesetzt. Ganz kostenlos ist ein Hausmittel zu haben, das gegen Blutflecken hilft: Spucke. Allerdings nützt die nur beim eigenen Blut. Bei fremdem sollte man schnellstens kaltes Wasser über die Flecken laufen lassen – niemals warmes. Wer seinen Lederschuhen einen glanzvollen Auftritt verschaffen will, sollte sie mit Nylonstrümpfen putzen. Wildlederschuhe, auch in hellen Farben, bekommt man mit einfachem Shampoo wieder sauber. Dieses wird mit Wasser und einer Bürste aufgeschäumt und vorsichtig mit klarem Wasser ausgespült. Dabei ist es wichtig, immer beide Schuhe gleich zu behandeln, damit man nach der Prozedur keine unterschiedlichen Farben hat, und die Schuhe hinterher langsam bei Raumtemperatur zu trocknen. Heiße Luft tut da nicht gut. Kälte ist hingegen ein gutes Mittel zur Pflege von Kleidung. Ein Cashmere-Pullover bleibt schön weich und kuschelig, wenn man ihn ein paar Stunden in einem Gefrierbeutel ins Eisfach legt. Danach lässt man ihn einfach im Liegen trocknen. Die Cashmere-Ziegen, von denen die wertvolle Wolle gewonnen wird, leben in Nordindien, im Himalaya oder der Mongolei und sind kalte Temperaturen gewöhnt, meint Manuel-Roy Schweikart und ergänzt augenzwinkernd: »Das ist im Grunde genommen für den Pullover wie nach Hause kommen.«

Spektakuläre Szenen mit einfachen Mitteln: Das Diorama

In »Der Fall der Götter« war das Team sehr einfallsreich, um Massenszenen in Zeiten des Abstandsgebots zu inszenieren

Hier wieder mal ein Beitrag in unserer Rubrik: Wie machen die das? Mit einem Blick hinter die Kulissen, der zeigt, wie das Universum Theater entsteht und wie viel Arbeit hinter manchen, scheinbar kleinen Details steckt.

Für Staunen und Begeisterung beim Publikum sorgen einige spektakuläre Szenen in der Inszenierung »Der Fall der Götter«, die Regisseur Marc von Henning nach Luchino Viscontis meisterhaftem Film »Die Verdammten« auf die Bühne des Großen Hauses gebracht hat. Nicht nur die Geschichte um Aufstieg und Fall der Stahldynastie von Essenbeck, die sich mit den Nationalsozialisten eingelassen hat, begeistert, sondern auch die Komposition aus Schauspiel und Leinwandszenen, mit der sie auf der Bühne erzählt wird. Der Einsatz einer Livekamera und vorproduzierter Szenen gehörte schon von vornherein zum Inszenierungskonzept und wurde nicht erst durch die Corona-bedingt strikten Abstandsgebote für die Darsteller zum ästhetischen Prinzip des Abends. Im Nachhinein erwies sich das aber als genialer Schachzug, denn so können Berührungen (ob nun liebevolle oder gewalttätige) auch da verdeutlicht werden, wo sie körperlich derzeit nicht stattfinden dürfen. Außerdem kann man durch die überlebensgroße Projektion den Schauspielern als Zuschauer so nahe kommen, dass man jede noch so kleine Regung in der Mimik verfolgen kann.

»Der Fall der Götter«, Foto: Jochen Quast

Ein Höhepunkt der Inszenierung ist die Darstellung der Ermordung des SA-Manns Konstatin von Essenbeck (gespielt von Hannes Rittig), des stellvertretenden Generaldirektors der Essenbecker Stahlwerke, während eines wilden Saufgelages in einem Bayerischen Idyll am See – eine Anspielung auf die Verhaftung und spätere Erschießung Ernst Röhms und seiner SA-Führer in der Pension Hanselbauer in Bad Wiessee am Tegernsee 1934. Es ist eine orgiastische Massenszene, in der getanzt, gegrölt, getorkelt und es bunt miteinander getrieben wird. Auf dem Höhepunkt des Ganzen fällt ein Schuss …
Wie soll man das darstellen, wenn Massen nicht auf der Bühne stehen und die Schauspieler anderthalb Meter Abstand voneinander halten müssen? Regisseur Marc von Henning und Carmen Riehl, die Chefin der Abteilung Requisite, besannen sich auf eine alte Kunstform – das Diorama. Im 19. Jahrhundert wurden Dioramen von dem französischen Maler und Wegbereiter der Fotografie, Louis Daguerre, als eine kleine Schaubühne konzipiert, die Szenen mit plastischen Modellfiguren und halbkreisförmig dahinter angeordneter gemalter Landschaft nachstellt. Dioramen können ganze Geschichten erzählen und beeindrucken durch ihren überwältigenden Detailreichtum.

Carmen Riehl, Foto: privat

Carmen Riehl hatte ihre beruflichen Anfänge am Theater als Modellbauerin von Bühnenbildmodellen. Diese dienen noch heute dem ersten Durchspielen einer Inszenierung mit allen Details im Miniformat, bevor die Kulissen und Möbel für die Bühne in Originalgröße angefertigt werden. Carmen Riehl hatte also Erfahrung im Bauen von detailverliebten, maßstabsgerechten Miniaturszenarien. Diese Kenntnisse waren nun in erweitertem Maße gefragt, um einen Schaukasten im Maßstab 1:20 zu bauen, der im Kleinen die ganze Geschichte der Ermordung Konstantin von Essenbecks darstellt. Schauplatz ist ein idyllisches Hotel an einem bayerischen See, im Hintergrund sieht man die Alpen, Wälder und den Marktplatz eines bezaubernden Dorfes am Seeufer. Das wichtigste aber war die detailgetreue Darstellung der Figuren, die dieses Szenarium bevölkern: Konstantin von Essenbeck selbst und seine SA-Männer, die sich in wilden Spielen mit Prostituierten vergnügen, saufen und auf den Tischen tanzen – bis am Ende der Mörder auftaucht.
Um die menschlichen Miniaturen originalgetreu und lebensecht in das Diorama einzubauen, hat Carmen Riehl drei Schauspieler und Schauspielerinnen gemeinsam mit Kostümbildnerin Gunna Meyer in unterschiedliche Originalkostüme gesteckt, sie verschiedene Situationen der Szene spielen lassen und sie dabei fotografiert: tanzend, grölend, torkelnd, schlafend, beim Sex oder beim Sterben. Im Anschluss hat sie Kollegen aus anderen Theater-Abteilungen gefragt, ob sie bereit wären, ihr Gesicht für eine der Figuren herzugeben. Diese hat sie dann über ein hochwertiges Bildbearbeitungsprogramm an die Stelle der Schauspielerköpfe gesetzt, und so entstand ein bunt gemischtes Figurenensemble. Auch der Regisseur selbst ist unter den Akteuren bei diesem Gelage. Dann wurden die Figuren im Bildbearbeitungsprogramm gedoppelt, gespiegelt, in den Maßstab 1:20 verkleinert und  ausgedruckt. Das Requisiteurinnen-Team klebte die Ausdrucke anschließend auf eine weiche Modellpappe und befestigte sie nach dem Ausschneiden an ihrem Platz im Diorama.

Die prächtige Landschaft im Hintergrund und das Hotel ist eine Montage. Um das farbenreiche Panorama auszudrucken, kann das Theater auf einen Plotter zurückgreifen, der Dateien bis zu einer Länge von 3,5 Metern bewältigt. »Den Ort, wie wir ihn auf der Bühne zeigen, gibt es so nicht«, sagt Carmen Riehl.

»Der Fall der Götter«, Foto: Jochen Quast

Richtig lebendig werden die Szenen des Dioramas während der Vorstellung über den Einsatz der Steadicam, die während der Inszenierung von Gabriel Kemmether bedient wird. Zentimeter für Zentimeter fährt er die Szenerie ab, die Bilder werden auf die riesige Leinwand im Bühnenhintergrund übertragen. Gleichzeitig beschreiben seine Kolleginnen Winnie Ricarda Bistram, Romy Klötzel und Judith Lilly Raab als Erzählerinnen die Ereignisse und die Protagonisten Hannes Rittig und Nils Brück spielen ihren jeweiligen Part auf der Bühne. So sieht man Konstantin von Essenbeck im Bild und zeitgleich auf der Bühne »sterben«.

Wenn der Moment nicht so dramatisch wäre, hätte man an der Stelle Lust zu klatschen – einfach weil es so gut gemacht ist, sagte ein Zuschauer nach der Premiere. Aber die Begeisterung kann man sich ja für den Schlussapplaus aufheben.

Hier findet ihr alle Spieltermine von »Der Fall der Götter«.

Rassismus ist die größte Ungerechtigkeit

Herzensangelegenheit: Sarah Finkel und Lucas Janson gestalten einen Theaterabend über »Die Angst vor dem Fremden«

Zwei Menschen, eine junge Frau und ein junger Mann, sitzen gemeinsam auf einer Bank im Park und grüßen freundlich die vorübergehenden Passanten. Sie wird zurückgegrüßt. Er nicht.
Beide haben dunkle, lockige Haare. Sie hat sehr blaue Augen und helle Haut. Seine Augen sind dunkelbraun und seine Haut hat einen warmen goldbraunen Ton. Es ist wegen seines Aussehens, da ist sich Lucas Janson sicher, dass die Vorbeigehenden ihn ignorieren. Eine Erfahrung, die er immer wieder in den unterschiedlichsten Facetten machen muss. Seine Kollegin Sarah Finkel, die eben Zeugin dieser Form von Alltagsrassismus geworden ist, mag sich damit nicht abfinden. Diese Begebenheit ist für die beiden Schauspieler des Heilbronner Ensembles zunächst Anlass für ein langes Gespräch, das schließlich in einem Beschluss gipfelt: Wir müssen die »Angst vor dem Fremden« zum Thema eines Theaterabends machen. »Das war lange vor George Floyd«, betont Sarah Finkel. Am 3. und 4. Juli zeigen sie ihre theatrale Erkundung in die Abgründe der Xenophopie in der Boxx@Night_Corona-Edition, zusammen mit Markus Herzer am Klavier.

Sarah Finkel und Lucas Janson (Foto: Rebekka Mönch)

Beide haben großen Respekt vor dem Abend, denn sie schlüpfen nicht nur in verschiedene Rollen oder singen Songs, sondern sie verantworten komplett das künstlerische Konzept und verarbeiten zudem ihre ganz persönlichen Erfahrungen in eigenen Texten.  Sarah Finkel sagt: »Dass ich durch mein Aussehen, das keinen Migrationshintergrund verrät, privilegiert bin, empfinde ich als himmelschreiende Ungerechtigkeit.«  Aufgewachsen in einem Stadtteil von Landshut, in dem Menschen aller Herren Länder zusammenleben, hat sie erfahren müssen, wie ihre Freunde, die aus dem Libanon oder aus der Türkei stammen, nicht die gleichen Chancen bekamen wie sie. Wenn sie versuche, sich hineinzuversetzen in ein permanentes Gefühl des ausgegrenzt Seins, des in Schubladen gesteckt Werdens, des weniger Chancen Habens, des immer ein bisschen härter arbeiten Müssens, dann bekommt sie Kopfschmerzen, erzählt sie und findet ein simples Beispiel. »Stellt euch den demütigenden Moment vor, wenn im Sportunterricht eine Mannschaft gewählt wird und man selbst bleibt bis zum Schluss stehen. Dieses Gefühl ist für Menschen, die rassistisch ausgegrenzt werden, nicht nur eine Momentaufnahme, sondern Dauerzustand.«

Lucas Janson, der in einer linksliberalen Bildungsbürgerfamilie großgeworden ist, hat indische und schwedische Wurzeln. Von der indischen Familie mütterlicherseits ist sein Aussehen geprägt, von der schwedischen Familie väterlicherseits hat er den Namen. Obwohl seine Vorfahren seit drei Generationen in Deutschland leben, Lucas in Hessen geboren und aufgewachsen ist, wird er immer wieder gefragt, aus welchem Land er komme oder wo seine Wurzeln liegen. Das ist häufig die allererste Frage. Nicht: Was machst du? Oder wie heißt du? Er ist äußerst höflich und zuvorkommend, sagt lieber dreimal danke, als einmal zu wenig. Das sei ein Ergebnis der mütterlichen Erziehung, meint Lucas Janson: Sei freundlich und höflich, falle nur nicht auf, passe dich an. »Als Migrantenkind der dritten Generation habe ich mich emanzipiert, bin selbstbewusst, stehe auf der Bühne. Dennoch wird mir immer wieder das Gefühl vermittelt, nicht hierher zu gehören.« Seit der Flüchtlingskrise 2015 habe sich das extrem verschärft.  Auf ihrer Recherche zum Thema Fremdenangst sind die beiden in Theatertexten fündig geworden – etwa in Koltès Stücken »Der Kampf des Negers und der Hunde« und  »Roberto Zucco«, in Heiner Müllers »Medea« oder in Dea Lohers »Unschuld«, aus denen sie Ausschnitte ausgewählt haben. Sie verflechten die Monologe mit philosophischen Einlassungen von Zygmunt Bauman, mit Songs von Hildegard Knef bis Faber und verbinden sie mit ihren eigenen Texten und Gedanken zu einer szenischen Collage. Sie wollen reflektieren, provozieren, ihr Herz ausschütten, ihre Gedanken teilen – über die Angst vor dem Fremden, aber auch über das Gefühl des Fremdseins. Es wird ein sehr persönlicher, ehrlicher Theaterabend der beiden Schauspieler: Eine Stunde im leeren Raum, ohne Requisiten, ohne Lichtdesign,  aber mit brennenden Herzen und der Hoffnung, dass die Zuschauer hinterher rausgehen, diskutieren und sich die Frage stellen: Wo stehen wir eigentlich?

BOXX@Night »Angst vor dem Fremden« am 3. und 4. Juli 2020 um 20.00 Uhr in der BOXX.

Unsere Neuen: Pablo Guaneme Pinilla

Wenn er über sein Ideal vom Schauspielberuf spricht, hat Pablo Guaneme Pinilla ein bestimmtes Bild vor Augen: Von spielenden Kindern im Sandkasten. Mit großer Ernsthaftigkeit und Unbekümmertheit sind sie ganz versunken in das, was sie gerade tun und schaffen mit Phantasie und Gestaltungswillen ganz neue Welten. So wünscht sich der Schauspieler den Probenprozess am Theater – sich ausprobieren, den Text ausloten, tief in die Arbeit eintauchen, das Drumherum ausblenden ohne das, was draußen geschieht, als Impuls für die Arbeit aus den Augen zu verlieren.

Pablo Guaneme Pinilla als Jacques in »Drei Männer und ein Baby«. (Foto: Steffen Nödl)

Pablo Guaneme Pinilla, der seit September fest zum Heilbronner Schauspielensemble gehört, sieht das Theater als Ort des öffentlichen Nachdenkens und Entdeckens, der nichts Geringeres leisten soll, als die Dinge in ihrer Differenziertheit und Zerrissenheit zu zeigen. »Ich bin ein Freund des Widerspruchs«, sagt er. Einfache, plakative Antworten und Parolen von der Bühne herunter interessieren ihn nicht.

Vielleicht war, weil er die Welt immer in ihren Gegensätzen sieht, der Weg ans Theater zwar nicht stringent aber doch irgendwie zwangsläufig. Aufgewachsen ist der Sohn einer deutschen Mutter und eines kolumbianischen Vaters in Bonn. Während der Kindergarten- und Grundschulzeit war er in der Musikschule und spielte hier Theater. Dann kam erst mal eine ganze Weile nichts dergleichen. Erst in der 12. Klasse absolvierte er einen Theaterkurs und wurde Statist an der Oper in Bonn. »Das hat mir großen Spaß gemacht und war für mich wichtiger als das Abitur«, blickt Pablo Guaneme Pinilla augenzwinkernd zurück. Nach dem Abi ging er für ein freiwilliges soziales Jahr nach Lima in Peru. Hinterher wollte er unbedingt nach Berlin, und er schrieb sich an der Humboldt-Universität für die Fächer Geschichte, Kunstgeschichte und Kulturwissenschaft ein, hatte aber das Gefühl, da nicht wirklich hinzugehören. In seiner Freizeit schloss er sich freien Theatergruppen an und fasste schließlich den Mut, an Schauspielschulen vorzusprechen. Er bestand das strenge Auswahlverfahren an der Schauspielschule »Hans Otto« in Leipzig und stellte sich den Herausforderungen seines neuen Lebens. Nach zwei Jahren geschützter Arbeitsatmosphäre an der Schauspielschule ging es die letzten beiden Jahre ins Schauspielstudio des Theaters Halle. Hier spielte er unter anderem die Titelfigur in Wolfgang Herrndorfs »Tschick« – eine Rolle, die er in ihrer Mischung aus Humor, Ernsthaftigkeit und Abgründigkeit bis heute liebt. Sein erstes Engagement führt ihn für 6 Jahre nach Neuss, wo er in vielen großen und wichtigen Rollen zu sehen war u. a. als Sigfried in Friedrich Hebbels »Die Nibelungen«, als Orlando in Shakespeares »Wie es euch gefällt« sowie als Wurm in Schillers »Kabale und Liebe«. In diesem Jahr war er im Juni mit dem Monolog-Stück „Tāwle – am Kopf des Tisches“ beim Westwind-Festival in Oberhausen eingeladen. Das von Julia-Huda Nahas geschriebene und inszenierte Stück greift die Perspektive eines Deutschen mit syrischen Wurzeln auf, der versucht, seinen im Kriegsgebiet lebenden Verwandten zu helfen. Das war eine sehr schöne, fordernde und intensive Arbeit, die ihm immer als eine seiner liebsten im Gedächtnis bleiben wird.

Pablo Guaneme Pinilla in der Rolle des Prinzen in »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel« mit Gabriel Kemmether als Lehrer. (Foto: Thomas Braun)

Jetzt, mit Mitte 30, hatte er Lust auf eine Veränderung  ̶  ein neues Haus, neue Kollegen, andere Regisseure, die Chance weiter zu reifen und eben nicht mehr der junge Schauspielabsolvent zu sein. »Ich freue mich darauf, neu gefordert und neu gesehen zu werden«, sagt er. Er ist gespannt auf die Rollen, die er spielen darf. Bestimmte Wünsche oder Träume hat er nicht: »Ich bin auf alles neugierig, was kommt.« 
Um zu seiner Wohnung zu gelangen, musste Pablo Guaneme Pinilla bis vor kurzem noch einen Ausweis vorzeigen. Denn der Schauspieler ist stolzer Bewohner von Deutschlands größtem Holzhochhaus auf dem BUGA-Gelände. Heilbronn habe ihn positiv überrascht, sagt er: »Die Stadt ist sehr lebendig, mitten in einem positiven Umbruch, das kann man überall spüren.« 

Pablo Guaneme Pinilla könnt Ihr aktuell in »Drei Männer und ein Baby« und »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel« sehen.

Unsere Neuen: Winnie Ricarda Bistram

Dass das Leben mitunter dramatischer ist, als es sich Bühnenautoren in ihren kühnsten Phantasien ausdenken können, hat Winnie Ricarda schon früh erfahren. Noch während der Ausbildung am Wiener Max Reinhardt Seminar bekam sie eine Rolle am Akademietheater, der Kammerbühne des Burgtheaters (was für ein Traum!), in dem Schauspiel »Liebe und Information« von Caryl Churchill.  Am Nachmittag des Premierentages wollte sie noch schnell eine Überweisung bei der Bank erledigen. Da hielt ihr plötzlich jemand eine Pistole an den Kopf. Das war kein Theater, sondern ein Banküberfall  ̶  Todesangst statt Premierenfieber. Irgendwann richtete der Räuber die Waffe auf die Bankangestellte, die den Notknopf bestätigte. Winnie Ricarda Bistram und einigen anderen gelang die Flucht. Dann war auch schon die Polizei da, aber der Weg zu ihrem Auftritt war versperrt. Sie sollte als Zeugin vor Ort bleiben und kein Polizist wollte verstehen, dass sie unbedingt ins Theater musste, weil ohne sie diese Premiere nicht stattfinden würde. Erst als ihre Professorin, die verständigt wurde, an den Tatort kam und mit der Polizei verhandelte, durfte sie gehen.

Winnie Ricarda Bistram als Königin in »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel« mit Hannes Rittig als König. (Foto: Thomas Braun)

Schon manchmal hatte ihr das Leben auf dem Weg zum Traumberuf ein Bein gestellt. Wie im ersten Vorsprechen an ihrer Lieblingsschauspielschule, dem Max Reinhardt Seminar. Sie war bereits in die zweite Runde gekommen und ignorierte ihre Bauchschmerzen, bis sie schließlich mit einem lebensgefährlichen Blinddarmdurchbruch ins Krankenhaus kam. Aber im drauffolgenden Jahr klappte es  sofort.
Dabei wollte sie als Jugendliche in ihrer Heimatstadt Hamburg alles, nur keine Schauspielerin werden. Ihr Vater arbeitete in diesem Beruf. Sie hatte die Unsicherheiten, die so ein Leben mit sich bringt am Rande mitbekommen. Ihr Vater, der in der DDR lebte, gehörte zum legendären Ensemble von Frank Castorf während dessen »Verbannung« an das winzige Theater Anklam in Vorpommern. Ganz Theater-Ostdeutschland pilgerte damals an diesen kultigen Ort, wo es im Schutz der Provinz aufregende Inszenierungen zu sehen gab. Umso erstaunter ist Winnie Ricarda Bistram, ausgerechnet in Heilbronn auf Kollegen zu treffen, die ihren Vater und den Großvater von der Bühne und von gemeinsamen Arbeiten  kannten.

Winnie Ricarda Bistram spielt in »Drei Männre und ein Baby« gleich mehrere Rollen. Eine davon ist Sylvia, die den drei Machos das Baby vor die Tür stellt. (Foto: Thomas Braun)

Nach dem Abitur studierte sie zunächst Psychologie und Kunstgeschichte in Heidelberg. Doch irgendwann hat sich offenbar das väterliche Erbe bei ihr durchgesetzt, denn der Wunsch, diesen unvorhersehbaren, aufregenden Weg zur Schauspielerei einzuschlagen, brach sich massiv Bahn. »Das Schauspielstudium fühlte sich richtig an. Auch das ganze Auf und Ab, die Selbstzweifel, die einen dabei ständig begleiten, das gehört mit dazu.«  Sie spielte in dieser Zeit auch am Volkstheater Wien und im Theater in der Josefstadt. Nach dem Studium gastierte sie in Berlin und Wilhelmshaven, stand in Kurzfilmen vor der Kamera und nahm an einem großen Kunstprojekt in Berlin teil. Zuletzt spielte sie 180 Vorstellungen der französischen Komödie »Die Lüge« von Florian Zeller im Zimmertheater Heidelberg. Ihr Partner war Peter Volksdorf, ehemaliges Ensemblemitglied in Heilbronn und gerade wieder als Gast am Neckar. Der machte Winnie Ricarda Bistram darauf aufmerksam, dass das Theater Heilbronn gerade junge Schauspielerinnen suchte. Weil der Norddeutschen gerade in Heidelberg die große Liebe über den Weg gelaufen war, wollte sie gern im Süden bleiben und bewarb sich. »Ein Festengagement ist auch mal ganz schön«, sagt sie und hofft darauf, dass sie hier waches, spannendes, politisches Theater machen darf.  So, wie es die Aufgabe von Theater seit der Antike ist. Nicht von ungefähr ist Antigone eine ihrer Lieblingsfiguren, eine 2500 Jahre alte Vorläuferin von Greta Thunberg.

Zusehen ist Winnie Ricarda Bistram aktuell in der Komödie »Drei Männer und ein Baby« und dem Weihnachtsmärchen »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel«.